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Allgemeiner Anzeiger : 10.11.1900
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190011100
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19001110
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19001110
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1900
-
Monat
1900-11
- Tag 1900-11-10
-
Monat
1900-11
-
Jahr
1900
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 10.11.1900
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Von einem Haifisch gefressen wurde im Indischen Ozean der Sohn des Pfarrers Herbig ?u Holzengel bei Greußen. Er war als erster Offizier aus einem Hamburger Handelsdampier angestellt und wurde durch eine Sturzsee über Bord gespült. Eine Rettung war unmöglich; vor den Augen der entsetzten Schiffsbesatzung wurde der unglückliche junge Mann von einem der das Schiff umschwärmenden Haifische erfaßt und zum Meeresgründe gezogen, einen dunklen Blutstreif hinter sich lassend. Im Walhalla-Theater zu Gera Otft-M am Sonntag nachmittag der Akrobat Geoig Umlaufs aus Wien, als er einen Saltomortale aussührte. Der Bedauernswerte erlitt einen Bruch der Wirbelsäuie und war sofort wt. Ein eigenartiges Geburtstagsgeschenk ist einem Rektor in Mrolschen (Pr. Posen) zu teil geworden. Derselbe hatte unlängst in der Klasse geäußert, er werde sich doch einen Stock anschaffen müssen. Als er nun neulich an seinem Geburtstag das Klassenzimmer betrat, sand er auf dem festlich geschmückten Tisch einen etwa einen Meter langen neuen Rohrstock, an dessen oberem Ende ein prachtvoller Blumen strauß mit Bändern befestigt war. Er hat den Schülern versprochen, den Stock vorzugsweise zum „Zeigen" zu gebrauchen und nur in drin genden Fällen zu einem profanern Zweck. Ein alter achtnndvierziger Demokrat und bekannter poliuscher Tagesschriftsteller, August Krawani, ehemals Chefredakteur der .Oesterreichischen Volkszeitung', ist, 73 Jahre alt, in Wien gestorben. Von ihm stammt das im Büchmann verzeichnete geflügelte Wort ans dem Jahre 1866 von der „affenartigen Ge schwindigkeit". Der einzige Sohu Krawanis ist im „Neuen Theater" in Berlin Schauspieler. Ueberfall. Auf den reichen Brauerei befitzer Götz m Orcin kGalizien) wurde am 3. d. ein Revolvcraitentat verübt. Zwei Männer, die sich als Offiziere einer polnischen Nationalliga ausgaben, wrderteu von Götz ein Viertel Prozent seines Vermögens für Zwecke dieser Natioualliga. Als Götz die Forderung abschlug, schoß einer der Männer auf ihn. Götz blieb unverletzt, dagegen wurde der herbei eilende Brauerei-Inspektor verwundet. Der THSter entfloh, sein Genosse wurde verhaftet. Zu Tode gestürzt. Der kommandierende General des französischen 13. Armee-Korps, de Boysson, kehrte Sonntag zu Wagen von seinem Schloß in der Nähe von La Croix- Blanche nach Agen zurück. Unte. vegs gingen die Pferde durch, der General stürzte auf die Straße, erlitt einen Schädelbruch und war sofort tot. Infolge einer Kesselerplosion stürzte rin Teil der Kraftstation der elekirischen Straßen bahn in Lyon zusammen, wodurch ein Ange stellter getötet und fünf Personen verwundet Wurden. Die Maschinenhalle wurde vollständig zerstört. Der Straßenbahnverkehr ist unter brochen. Ein anscheinend geistesgestörter Mann stieg Sonntag nachmittag in Lyon auf die Stufen des kurz zuvor enthüllten Denkmals Carnots und hielt eine Ansprache an die Menge. Dann zog er ein Rasiermesser aus der Tasche und schnitt sich die Kehle durch. Die Ver wundung des Mannes, eines 42 jährigen Fri seurs, ist tödlich. Abermals ein Diebstahl im Vatikan. Die Gehaltskasse für die Beamten des Staats sekretariates im Vatikan wurde am Montag von unbekannten Räubern erbrochen und ausgeraubt. Die Verwaltung der Spielhölle von Monte Carlo veröffentlicht ihre Ausgaben der verflossenen Saison. Man findet da notiert: An den Fürsten für die Konzession 1250 000 Frank, Polizei-, Gerichts- und Regierungskosten 500 000 Frank, öffentliche Arbeiten, Straßenbau 200 000 Frank, Beleuchtung, Wasserleitung 475 000 Frank, für fromme Stiftungen 150 000 Frank, für Wettrennen und sonstige Sports 400 000 Frank, für Druckspesen, Zeitungen rc. 75 000 Frank, für Postspesen 50 000 Frank, zusammen 3 375 000 Frank. Nichts verlautet von den Schmiergeldern für Zeitungen, auch nichts von dem Reingewinn, der den Ruin einer großen Anzahl Familien und zahlreiche Selbst morde bedeutet. Mutige Rettnngsthat einer Königin. Die Königin von Portugal hat sich durch eine heroische That in Cascaes (an der Westküste des Landes, nahe Lissabon) große Volkstüm lichkeit erworben. Die Königin, welche während eines Spazierganges am Sirande ein mit zwei Personen besetztes Fischerboot in ihrer Nähe kentern sah, stürzte sich ins Wasser und rettete die beiden Verunglückten nacheinander. Eine ,,Wohlthätigkcits - Vorstellung". Zur größten Ueberraschuna des Publikums ver traten jüngst in Rockland (Maine) hübsche junge Mädchen aus der Gesellschaft die Stelle der gewöhnlichen Schaffner. Die Tramway-Gesell schaft halte nämlich dem Pfründnerinnen-Svital der Stadt eine Tageseinnahme als Geschenk versprochen; aus diesem Grunde hatten die jungen Damen den Dienst der Kondukteure übernommen; sie gaben jedesmal das Zeichen zum Anhalten und Abfahren und nahmen die Fahrgelder in Empfang. Natürlich hatten sie zuvor Einladungen an junge Männer aus ihrer Bekanntschaft ergehen lassen, und diese beeilten sich selbstverständlich, der Aufforderung Folge zu leisten und die Wagen zu einer Fahrt zu benutzen, aus denen Schaffnerinnen waren. Statt 5 Cents betrug der Fahrpreis 5 Dollar und die Gesamteinnahme 5000 Dollar. Ein altes Kindcrbillet. Ein 21jähriger Mann zeigte kürzlich dem Schaffner den Rück- sahrt-Koupon eines Kinderbillets für die Strecke San Francisco nach Kansas vor. Auf die Weigerung des Beamten, das Billett als gültig anzusehen, erklärte der Reisende, er habe das Riffelt vor 11 Jahren gekauft, und da keine Gültigkeitsdauer vorgeschrieben, diese vielmehr unbeschränkt sei, so könne er jetzt als 21jähriger die Strecke znrückfahren, welche er als Knabe in der andern Richtung zurückgelegt. Der Schaffner suchte sich Unterstützung bei den andern Beamten des Zuges, und der Zug führer stellte dem jungen Mann vor, daß er als erwachsener Mann nicht mit einem Kinder billet reisen könne. Der Reisende weigerte sich, er sagte lächelnd, auf der Rückseite des Billets befinde sich nicht der Vermerk, daß das be treffende Kind nicht wachsen oder älter werden dürfe. Die Beamten hatten Humor genug, die Sache der gerichtlichen Entscheidung zu über lassen. Genchtslsalle. Nürnberg. Die Strafkammer verurteilte den Kaufmann Kretzschmar aus Charlottenburg, der im Jahre 1890 in Brasilien erstmals, im Jahre 1895 aber in Nürnberg wiederum heiratete, obwohl die erste Ehe noch jetzt zu Recht besteht, wegen Doppel ehe zu GZ Jahr Zuchthaus. Rom. Der Deputierte Gilberti, der im März „aus Unvorsichtigkeit" seine Schwiegermutter er schollen hatte, wurde zu sechs Monat Gefängnis verurteilt. Kaiser Friedrich und Mar Müller. Zu Kaiser Friedrich stand der verstorbene Sanslritforscher Max Müller in besonders ver traulichen Beziehungen. Der Gelehrte hatte den Kronprinzen schon früh in Oxford kennen ge lernt. Während des deutsch-französischen Feld zuges schrieb Prof. Max Müller in den ,Times' seine „Kriegsbriefe", durch die er auch dem Kronprinzen wieder näher trat. Dieser richtete aus jenem Anlaß folgendes Schreiben an den Gelehrten, das gerade jetzt ein außerordentliches Interesse besitzt: „Berlin, Mai 1871. Ich habe mit auf richtigem Dank und ganz besonderem Interesse Ihre „Dotters on tbs IVsr" entgcgengenommen, welche Sie die Freundlichkeit hatten, mir zu übersenden. Mit der einmütigen Hingebung unseres Volkes während der großen Zeit, die wir durchkämpft, steht im schönsten Einklang die patriotische Haltung, die unsere deutschen Brüder, ost unter den schwierigsten Verhältnissen und mit Opfern aller Art bewährt, und durch sic sich iür immer einen Anspruch auf die Dank barkeit des Vaterlandes erworben haben. Daß die Erfahrungen, welche die Deutschen in Eng ¬ land während unseres ruhmvollen Krieges ge macht, nicht immer erfreulich waren, ist mir freilich bekannt. Gründe der verschiedensten Art kamen zusammen, um eine Verstimmung zu er zeugen, die hüben und drüben von allen ein sichtigen und patriotischen Männern gleich schmerzlich empfunden ist. Meine feste und zuversichtliche Hoffnung bleibt es aber, daß diese bald jenem herzlichen Einvernehmen wie der Platz machen wird, das die Natur unserer gegenseitigen Beziehungen und Interessen ver langt. Dieses Ziel wollen wir verfolgen, un beirrt durch Aufregungen und Eindrücke des Augenblicks, überzeugt, daß es für das Ge deihen beider Länder ebenso heilsam wie für den Frieden Europas unerläßlich ist. Sie haben Ihrerseits niemals aufgehört, in diesem Geiste thätig zu sein, und es ist mir deshalb Bedürf nis, Ihnen meine dankbare Anerkennung für Ihr erfolgreiches Wirken hierdurch auszu sprechen. Ihr wohlgeneigter Friedrich Wilhelm." Zur Invulidenverstcherung. Aftersrentenanwärter, welche im November d. ihr 70. Lebensjahr vollenden, haben an Bei tragswochen nachznweiseu, wenn für sie der Ver- sichernngszwang eingetreten ist: mit dem 1. Januar 1891 392—396 Beitragswochen „ „ 4. „ 1892 351—355 , „ 2. Juli 1894 246-250 „ „ „ 1. Januar 1896 192—196 „ „ „ 1. „ 1900 32 - 36 Die Bewerber haben außerdem den Nach weis zu erbringen, daß sie während der dem Inkrafttreten des Versicherungszwanges un mittelbar vorangegangenen drei Jahre berufs mäßig, wenn auch nicht ununterbrochen, eine Beschäftigung gehabt haben, jür welche die Ver sicherungspflicht bestand oder inzwischen ein geführt worden ist. Dieser Nachweis wird er lassen, wenn innerhalb der ersten fünf Jahre, nachdem die Versicherungspflicht, für den be treffenden Berufszweig in Kraft getreten ist, eine die Versicherungsflicht begründende Be schäftigung für die Dauer von mindestens 200 Wochen bestanden hat. Lehrer, Lehrerinnen, Gesellschafterinnen, kurz alle Personenkreise, aus welche die Verfiche- rungspflicht erst mit dem 1. Januar d. aus gedehnt worden ist, können sich bei Eintritt der Erwerbsunfähigkeit schon jetzt um eine Inva lidenrente bewerben, wenn sie aus den letzten 200 Wochen eine Beschäftigung, welche bereits früher versicherungMichtig war oder nach der Novelle jetzt versicherungspflichtig ist, nachweisen können. Von diesen 200 nachgewiesenen Wochen müssen aber mindestens 40 auf die Zeit nach dem 1. Januar 1900 entfallen und durch Marken oder Krankheits- bezw. Militärbescheinigungen belegt sein. Die mächtige englische Floltenliga, die als eifrige Unterstützerin für die sofortige bedeutende Verstärkung der englischen Schlacht schiffe eintritt, hat ein Zikular erlassen, in dem glaubhaft nachgewiesen werden soll, daß Eng land bereits die Herrschaft der See verloren habe. Als Gründe dafür werden folgende Punkte angeführt: 1) Unser jüngstes Flotten programm sowohl bezüglich der Mannschaften und Schiffe, als auch des Materials hat sich als völlig unzulänglich erwiesen. 2) Aber selbst dieses non den verantwortlichen Ministern vor geschlagene und vom Parlamente sanktionierte Programm, das als das allermindeste bezeichnet war, was unsere Sicherheit verbürgen konnte, ist nicht zum Austrag gebracht worden. 3) Die Schiffe, die vom Stapel zu laufen hätten, sind nicht fertig gestellt, teilweise ihre Ausführung so verzögert worden, daß sie später als halb veraltet angesehen werden müssen, und 14 der vorgeschlagenen Schlachtschiffe sind nicht in die Effektivstärke der Flotte eingereiht worden. 4) Andere Nationen sind so auffallend und erfolreich mit der Vermehrung ihrer Seemacht vorgegangen, daß unser Zurückbleiben um so mehr in die Wagschale fällt. 5) Ein neuer und mächtiger Gegner ist uns in der Beherrschung der See erstanden. (Der Name Deutschland wird nicht, ausdrücklich genannt!) — Die Liga kommt zu dem Schluffe, daß die Verwaltung der Marineangelegenheiten in den letzten fünf Jahren viel zu wünschen übrig ließ, woraus das Resultat entstanden sei, daß England die Beherrschung der See verloren habe. Nur die lebhafte Forderung eines energischen Volkes könne die Situation ändern. Dieses Zirkular erregt nicht nur in den Kreisen der Marine, sondern auch im Publikum lebhaftes Aussehen. Unter den ungarischen Zigeunern herrscht großes Leid, ihre Herrlichkeit droht ein Ende zu nehmen. Die Regierung trägt sich nämlich mit der Absicht, alle Zigeuner, die in Ungarn seit undenklichen Zeiten ein wahres Nomadenleben führen, auf festen Wohnsitzen anzusiedeln und so ordentliche Staatsbürger aus ihnen zu machen. So lange man den Zigeunern nur vorwarf, daß sie die Sicherheits zustände gefährdeten und den Unterschied zwischen Mein und Dein nicht zu erlernen vermöchten, sah man ihnen nachsichtig durch die Finger, nun aber haben sie sich eines größeren Ver gehens schuldig gemacht, sie gefährden durch ihre Lebensweise einen der größten Schätze des Landes, den ungarischen Viehstand, und dies erheischt strenge Maßregeln. Unter den Zigeunern herrscht nämlich die leidige Gewohn heit, daß sie die Kadaver der an der Schweine pest verendeten und auf behördliche Anordnung verscharrten Schweine ausgraben, mit Spicken in ihr Lager schleppen und dann wochenlang von dem Fleische schmausen. Es ist begreiflich, daß dies zur Verbreitung der Keime der Vieh seuchen bedeutend beiträgt. Infolgedessen haben sich fast sämtliche Komitate mit der Bitte an den Reichstag gewandt, für die zwangsweise Ansiedelung der Zigeuner Sorge zu tragen. Ter Minister des Innern befaßt sich auch schon mit diesem Gedanken, ob es ihm aber auch ge lingen wird, die Ausiedftung mit Erfolg durch- Mühren, blecht abzu warten. Es wurde schon früher einmal ein Versuch damit gemacht, den Zigeunern ständige Wohnsitze anzuweisen, diese standen aber sehr bald wieder leer da, da die Zigeuner sich ihr Nomadenleben nicht abge wöhnen konnten und in kurzer Zeit das Weite suchten. Gemeinnnhiges. Fett aus Samt zu entfernen. Man lasse Sand heiß werden, fülle ihn in ein feines, leinenes Beutelchen und betupfe und überreibe die Fettflecken so lange, bis sie herausgezogen sind. Oder man lege Löschpapier cmi die Flecken und hatte ein heißes Plätteisen in kleinem Abstande darüber. Wenn Fett in das Papier gedrungen, so vertausche man es mit reinem, und wiederhole dies so lange, bis die Flecken beseitigt sind. Fasanen- und Rebhühner - Remisen pflanzt man zweckmäßig mit rankenden ameri kanischen Brombeeren an, die bald ein undurch dringliches Dickicht bilden. Kuntes Allerlei. Gefährliche Wäscherollen. Wie leicht ansteckende Krankheiten verschleppt werden können, hat eine Typhus-Epidemie bewiesen, die in Vauxhall, einem Londoner Stadtteil, in der jüngsten Zeit geherrscht hat. Sie beschränkte sich auf drei Straßen. 41 Personen erkrankten, von denen vier starben. Die ärzliche Unter suchung hat ergeben, daß die Krankheit zuerst in der Familie des Besitzers einer Wäscherolle ausbrach. Zn ihm brachten viele Nachbarn die Wäsche zum Rollen, und fast alle schleppten in der Wäsche die Krankheitskeime heim. Bei der bakteriologischen Untersuchung wurden Typhus- Bacillen an der Rolle gefunden. Jetzt ist eine Besichtigung aller Rollen in jener Gegend an geordnet worden. V * Berlinisch - Chinefisches. Lude. „Du, Ede, warum wechseln denn nu die Machts wegen China immer noch Noten, anstatt daß sie die Chinesen endlich bestrafen?" — Ede: „Det verstehst du nich: die Chinesen müssen eben nach Noten bestraft werden." W- " -MS— Die Kinder schienen sich vor ihm zu fürchten. Wo er sich ihnen genähert, halten sie sich alle mal scheu zurückgezogen und den fremden schwarzäugigen Buben mit dem breitrandigen braunen Filzhut auf dem dunklen, wallenden Lockenhaar, mit den braunen Kniehosen und den bandumschnürten gelbliche» Lederstrümpicn immer so seltsam fragend angestarrt, als wollten sie sagen: „Was willst du eigentlich unter uns? Mausefallen und Drahtbürsten kaufen wir dir nicht ab; geh' du zu unsern Eltern in die Häuser." Oftmals aber halten die Kinder ihn auch geneckt, gestoßen und geschlagen oder ihm zu- gerusen: „Mach' daß du fortkommst. Wir spielen nur mit unseresgleichen! Thu' du das auch!" Als ob es für Tobbi seinesgleichen im Litauerlandc gäb! So weit er auch schon herumgekommen war, niemals hatte er Menschen gesehen, die wie seine Eltern und wie er anssahen; so schwarz braun von Haut- und Haarfarbe, so dunkel äugig und so — schön! Ja, warum sollte Tobbi es nicht wissen, daß er und seine Eltern schöne Leule seien? Er hatte es ja oft genug sagen gehört nnd er sah es selbst, wenn er sie und sich mit den gclbblonden, blaßüngigeu Menschen verglich, die hier in den Städten und Dörfern lebte». Janosch nnd Sassa überstrahlten sie alle an Schönheit und Kraft. Und dazu war Sassa so herzensgut. Ihren Tobbi liebte sie auf das zärtlichste und er vergalt es ihr mit oft überströmendem Herzen. Wenn sie nur das Wandern hätte aufgeben mögen! Einmal traf es sich, daß Tobbi — mit seinem „Hechelkram" zum Verkauf in ein Dors geschickt — die Kinder eines kleinen Eigen kätners belauschen konnte, ohne von ihnen be merkt zu werden. Die kleine Schar saß am Grabenbord, mit den Füßchen hinabbaumelnd, und blickte in die Zweige einiger Blütenbäume, die in vollster Frühlingspracht zu ihnen hinunterhingen. Das väterliche Häuschen lag den Kindern im Rücken. Es war mit Stroh gedeckt, das Dach vielfach vom Wetter zerzaust' und durch löchert, aber Man hatte sich schon daran ge macht, es wieder auszubessern. Die Leiter bewies es, die über das Dach gelegt war, auch einzelne neue goldgelbe Steffen zwischen dem Grau und dem Moosgrün der übrigen Fär bung. Der Hof war nur von geringem Umfang; der Stall höchstens für eine Kuh und ein Schweinchen groß genug; der Spriegelzaun, der das kleine Gehöft umschloß, so schadhaft und so wenig einhegend und abschließend wie nur denkbar, und doch erschien dies ganz be scheidene Heim unserm Tobbi wie der Inbegriff affes Wohnlichen, Behaglichen und — Wün schenswerten. O die glücklichen Kinder, die hier leben durften! Mit lachenden Mäulchen schauten sie hinauf in den weißen Blütenschirm, den der Lenz dicht über ihren Köpfen ausgespannt hatte. „Guck!" rief das Aeltestc von ihnen, mit dem Finger nach oben weisend. „Aus jedem von den Blümchen wird einmal eine rote Kirsche oder eine saftige Birne. O, die sollen schmecken! Gelt, Mareiele?" Und die Kleinste, das Mareiele, die auf der Aeftesten Schoß saß, zappelte vergnügt mit den Beinchen, schlug ihre Hände ineinander und wiederholte: „Mecken, mecken!" in seliger Ahnung, daß die Schwester von etwas Herr lichem, von etwas Eßbarem geredet haben müsse. Und die Große sprach weiter: „Wenn die Kirschen reif sind, dann backt unsere Mutter einen großen Fladen. Den pflastern wir mit Kirschen aus und halten einen Prinzenschmaus. Und Mus wird auch gekocht, ein ganzer großer Kessel voll! Davon streichen wir auch dem Mareiele aufs Brot, bis affes gegessen ist, alles! Und dann geht's an die Birnen. Hui, wie sie herunterpurzeln, wenn der Vater oben im Baum steht und schüttelt!" Tobbi fühlte, wie die Thränen ihm in die Augen traten. Weshalb nur blühte auf der ganzen großen Welt kein einziges Bäumchen für ihn? Wes halb reiste ihm denn keine, gar keine Frucht? Die Mutter hatte nie für ihren Tobbi weder Fladen gebacken, noch Obst gedörrt oder gar Mus gekocht! „Ach," rief er plötzlich, verdrießlich davon gehend, „was schiert es mich, ob sie Kuchen backen oder nicht!" Er wollte sich stark zeigen. Die Faust in der Tasche geballt, spielte er den Gleichgültigen und Unbefangenen, als er den fernab vom Dorfe haltenden Karren seiner Eltern wieder erreicht hatte. Janosch und Sassa kauerten im Schatten des Wagens und umflochten alte, schadhafte Töpferware mit derben Drahtnetzen. Sie sahen „kreuzfidel" aus bei ihrer garstigen Arbeit. Janosch gab allerhand lustige Geschichtchen zum besten und Sassa lachte darüber, als höre sie dieselben heute nicht zum hundertsten Mal. Nachher begann Janosch eines jener melan cholischen Volkslieder der Litauer — Dainos genannt — zu pfeifen nnd Sassa summte un ermüdlich die Worte der zahllosen Verse dazu. Von Zeit zu Zeit unterbrach Sassa ihre Arbeit, um Reisig unter einen kleinen Feldkessel zn legen, der hinter dem Wagen, vor dem Winde möglichst geschützt, auf einem eisernen Dreifuß stand und in dem die Mahlzeit brodelte und kochte. Der alte Schecke, das einzige lebende In ventar der Dvorlschacks, war bereits emsig damit beschäftigt, sich selbst sein Futter zu holen. Die schmale Rasendecke am Rande des Weges bot ihm nur kärgliche 'Gelegenheit dazu, aber der alte Gaul war nicht verwöhnt. Angebunden hatte man ihn nicht. Wozu wäre das nölig gewesen? War doch kein be stellter Acker, keine saftige Wiese in der Nähe, die den Freßlustigen etwa zu einer Ueber- schreitung der erlaubten Grenzen hätten ver leiten können. Rings umher dehnten sich un absehbare Steinpalwen aus, unberührtes Land, mit einer filzigen Mos- und Grasnarbe über deckt, hie und da mit Ginster und Wachholder- gestrüpp bedeckt, mit großen und kleinen Steine» wie übersät. Ein ödes, trostloses Gefilde. S t (Forgesung folgt.)
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