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Allgemeiner Anzeiger : 14.11.1900
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190011140
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19001114
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19001114
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-11
- Tag 1900-11-14
-
Monat
1900-11
-
Jahr
1900
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 14.11.1900
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Politische Rundschau. Die chinesischen Wirren. "Die Friedens-Verhandlungen sind um keinen Schritt weiter gekommen. Nicht sehr dienlich sind dem Fortgang der Verhand lungen die neuerdings wieder zahlreicher ein- treffenden Meldungen über Reibungen zwischen Russen und Engländern. Was es mit der russischen Annexion in Tientsin auf sich hat, wobei englische Interessen rücksichtslos verletzt sein sollen, muß abgewartet werden. Vielleicht handelt es sich nur um eine Ungeschicklichkeit des Generals Lenewitsch, und der Zwischenfall dürfte bald ebenso gütlich beigelegt werden. * Graf Waldersee hat das Todesurteil von fünf hervorragenden chinesischen Beamten in Paotingsu bestätigt. "Während die letzten Meldungen über den Stand der Beratungen in Peking nicht darauf schließen ließen, daß man damit wesent lich vorwärts komme, berichtet im Gegensatz dazu ,Lassans Bureau', in der Sitzung der Ge sandten am 5. November seien beträchtliche Fortschritte gemacht worden. Die Forde rungen der Mächte würden sicherlich zwei Punkte enthalten, erstens die Bestrafung der namentlich ausgeführten, für die Wirren verant wortlichen Beamten einschließlich der Prinzen, zweitens eine angemessene Sühnung der Ermordung des Frbrn. v. Kettel er und ein Denkmal für ihn. Sämtliche Gesandten seien einig über diese Punkte. Auch die Chinesen begriffen die Notwendigkeit dieser Maßregeln. Li-Hung-Tschang und Tsching hätten dem Kaffer abermals telegraphiert, daß die Mächte sicherlich auf der Bestrafung der Schuldigen beständen, und daß ein Entrinnen unmöglich sei. Deutschland. "Das Komitee für die Errichtung eines Gedenksteines zur Erinnerung an den Tag von Bronzell bat an denKaiser fol gendes Telegramm gerichtet: „Zum 50 jährigen Gedenktage des Zusammenstoßes bei Bronzell setzen wir einen Gedenkstein als einfaches Ge dächtniszeichen für jene trüben Zeiten, denen dann unter Kaiser und König Wilhelm bessere für das deutsche Vaterland folgen sollten, und schauen unter Ew. Majestät segensreicher Regie rung vertrauensvoll in die Zukunft, allezeit treu bereit für des Reiches Herrlichkeit." (Im „Kriege" 1850 kam es bei Bronzell zn einer „Schlacht", in der den Preußen nur der be kannte „Schimmel von Bronzell" lotgeschossen wurde.) * Der Bundesrat stimmte am Donners tag dem Entwurf von Vorschriften über den Kleinhandel mit Garn, der Vorlage über die Gebühremestsetzung für die Beförderung der Nebenblätter und außergewöhnlichen Zeitungsbeilagen, den Etatsentwürfen der M a r i n e v e r w al t u n g für Kiau- tschou, für Zölle und Gebrauchssteuern, der Reichsjustiz-VerwaUung, des Neichseisenbahn- amts und der Vorlage über die Außerkurs setzung der Vereinsthaler österreichischen Gepräges zu. "Die diesjährige Herbsttagung des Kolo nialrats wurde am Donnerstag in Berlin eröffnet. Die Etats für Neu-Guinea, die Karolinen, Palau-Inseln und M a - rianen sowie für Samoa wurden durch beraten, wobei erheblichere Ausstellungen nicht gemacht wurden. Eingehend wurde die Frage der Schiffsverbindungen bei diesen Schutzgebieten erörtert und für Samoa der Antrag angenommen, in den Etat die Kosten für Anschaffung und Betrieb eines kleinen Gouvernements - Motorbootes einzustellen. Es folgte eine Besprechung der geplanten Neuord nung des Zoll- und Steuerwesens in Neu- Guinea. Der Kolonialrat erklärte sich gegen die Einführung oder Erhöhung der Zölle und sprach sich ferner dafür aus, daß der Ver kauf von Opium an die Eingeborenen des Schutzgebietes thunlichst verhindert werden möge. Endlich trat der Kolonialrat in die Er örterung der Frage der Gewährung staatlicher Ansiedelungsbeihilfen im südwestafrikanischen Schutzgebiet ein. * Die Höhe der für den Chinafe lHzug sicher verwendeten S ummen, für deren Auf wendung der Reichstag der Regierung Indemnität bewilligen soll, beträgt nach der Münchener ,Allg. Ztg.' 80 bis 100 Millionen Mark. "Ein Gesetzentwurf gegen die Aus verkäufe wird vorbereitet. Die auf Ver anlassung des Reichsamts des Innern an gestellten Erhebungen sind abgeschlossen. Ob dem Reichstage aber schon in der nächsten Session der Gesetzentwurf zugehen wird, sei noch nicht bestimmt. "Der Führer der Z e n t rum s p ar t ei Dr. Lieber und dessen Tochter sind am Donnerstag vom Papst in Privataudienz em pfangen worden. * Im Reichstagswahlkreise Randow- Gr e i f e n h a g e n hat am Freitag Ersatzwahl stattgefunden, die indessen noch zu keinem end gültigen Ergebnisse geführt hat; es muß viel mehr eine Stichwahl zwischen Kersten (soz.) und Prätorius (kons.) eintreten. Frankreich. * Das Ministerium Waldeck-Rousseau hat sein erstes Vertrau envotnm weg. Es wurde ihm seitens der Kammer am Donners tag mit einer Mehrheit von 80 Stimmen ge währt. Ein Wermutstropsen fiel allerdings in den ministeriellen Weinbecher, daß ein Antrag des Sozialisten Sembat mit 306 gegen 214 Stimmen angenommen wurde, in dem die Auslieferung des Attentäters Sipido an Belgien bedauert wird. Holland. "Gutem Vernehmen nach wird Präsident Krüger den Winter nicht in Holland zubringen, sondern nach einem Besuche hierselbst ein milderes Klima aufsuchen, in welchem er, wie er gewöhnt, in freier Luft leben kann. Spanien. "lieber die Bedeutung der jüngsten Er eignisse herrscht im ministeriellen Lager eine Meinungsverschiedenheit. Während der frühere Minister des Innern Dato alles auf Börsen - Manöver zurückführen möchte, erklärte der jetzige Minister des Innern im Ministerrat, daß thatsächlich eine ernst zu nehmende, aus gezeichnet organisierte Verschwörung be stand, wovon er Beweise nötigenfalls den Cortes vorlegen werde. Die Regierung beschloß, Nach forschungen anzustellen, ob eine Schuld der Börsenleute nachweisbar sei. "Geschlossene Karli st enbanden gibt es zur Zeit in ganz Spanien nicht mehr. Mehrere Mitglieder der aufgelösten Banden sind verhaftet und werden dem Kriegsgericht vorge führt werden. Balkanstaaten. "Anläßlich der verbreiteten Gerüchte, daß eine Versöhnung mit König Milan und dessen Rückkehr nach Serbien be vorstehe, sandte der Minister des Innern ein Rundschreiben an alle Krcispräfckten mit der Mitteilung, daß die Gerüchte falsch seien und keine Aenderung weder in der inneren noch in der äußeren Politik stattfinde. Amerika. * Der im Wahlkampf unterlegene Bryan hat an MacKinle y einen Brief gerichtet, worin er diesen zu seiner Wahl beglück- lv ünsch t. "Anläßlich Streitereien beim Austrage von Wetten wegen der Wahlen wurden in den verschiedenen Gegenden Kentuckys in der Nacht zum Mittwoch 6 Personen er schösse n. * Der englische Imperialismus hat, wie eben erst im Mutterlande, nunmehr auch in einer der großen selbständigen Kolonien einen Wablerfolg zu verzeichnen. Die soeben vollzogenen Parlamentswahlen in Kanada be deuten einen Sieg des imverialistischen Premier ministers Laurier. Die Negierung wird im zu künftigen Parlament eine Mehrheit von 46 Stimmen haben. Afrika. "General deWet soll in einem Ge fecht bei Rensberg Drill am Bein ver wundet worden sein. (Jetzt begnügt sich das Gerücht mit einer Verwundung des von den Engländern Gefürchteten, früher hat man ihn öfter gleich mausetot gesagt.) * Infolge des allmählichen Entweichens der transvaalschen Flüchtlinge über die Grenze (nach Transvaal zurück) über fielen die Portugiesen Montag abend die Quartiere der verheirateten Trünsvaaler, führten alle waffenfähigen männlichen Boeren bis zn 14 Jahren weg und brachten sie in eine Kaserne, wo sie bewacht werden. Berlin vor fünf Jahren. Die neue Volkszählung am l. Dezember d. wirft schon ihre Schatten voraus, und in den Spalten der Tageszeitungen werden die Bürger Berlins von den Behörden zu eifriger Mit arbeit an den Zählnnasgeschäftcn amgefordert. Zu dieser Zeit Veröffentlicht das Statistische Amt der Stadt Berlin seine Bevölkerungs- Statistik auf Grund der Volkszählung im Jahre 1895 und führt uns „zahlenmäßig" das Berlin vor fünf Jahren vor. Gerade in Hinblick auf die neue Volkszählung fordern die Ergebnisse dieser Statistik das Interesse der Berliner heraus. Eine räumliche Ausdehnung hat das Berlin von 1895 gegen 1890 nicht erfahren, wie ein Gürtel legen sich die Vororte um seinen Riesen leib, und lassen sein Wachstum nicht zu. Aber auch die Vermehrung der Bevölkerung Berlins hat bedeutend nachgelassen. Während sie von 1885 auf 1900 noch 20 Prozent betrug, ist sie im folg-nden Jahrfünft auf 6,24 Prozent zurück- gegangen. Schuld daran ist, daß der Zuzug von außerhalb, dem Berlin ja seine Größe be kanntlich zu verdanken hat, in den Perioden zwischen den beiden letzten Volkszählungen be deutend nachgelassen hat. In der Zeit von 1890—95 waren sogar die Abzüge der männ lichen Bevölkerung stärker als die Zuzüg-. Eine Folge davon ist, daß die Zunahme des weib lichen Geschlechts größer war, als die des männlichen. Der Frauenüberschuß in Berlin, der sich zwischen 1880 und 1890 zwischen 3,27 und 3,95 Prozent bewegte, ist 1895 aus 4,93 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Absolut übertraf 1895 die weibliche Bevölkerung Berlins die mänwiche um über 80 000 Seelen, trotzdem unter der männlichen Einwohnerschaft 23 000 Soldaten einbegriffen waren. Was die Ab- und Zunahme der Bevölkerung in den einzelnen Stadtgegenden anlangt, so hatten von den 18 Standesämtern die Hälfte an Einwohner zahl abgenommen. . Die Abnahme war am stärksten in der Altstadt, sowie der südlichen Rosenthaler Vorstadt und dem Spandauer Viertel; die größte Zunahme weist der Norden und Nordwesten aus, die nördliche Rosenthaler Vorstadt, Moabit und der Wedding. Aber wenn man Betrachtungen über die Be völkerungsziffer Berlins anstellt, darf man seine Vororte nicht außer acht lassen, denn eine wirt- schaiiliche Grenze zwischen Berlin und ihnen existiert nicht mehr. Denkt man sich vom Denkmal des Großen Kurfürsten aus der Kur fürstenbrücke als Mittelpunkt einen Kreis mit einem Radins von zwei Meilen geschlagen und alle Ortschaften innerhalb dieses Kreises mit Berlin vereinigt, so hat man ein Bild von Groß-Berlin. In diesem Groß-Berlin gesichten sich die Bevölkerungsverhältnisse in dem letzten Jahrzehnt folgendermaßen: Das Stadtinncre, das Zentrum Berlins, entvölkert sich, dagegen weisen die Vororte Berlins eine sm'schreitende Zunahme der Bevölkerung auf. Während die Stadt Berlin in der Periode 1875/85 um 36 Prozent, dagegen 1885/95 nur um 27 Prozent zugenommen hat, zeigt sich das Wachslum Groß Berlins zwischen 1885/1895 stärker als in dem vorhergehenden Dezennium, nämlich 44 gegen 37 Prozent. Die Einwohnerschaft Groß-Berlins hat sich von 1885 auf 1895 von 1 558 395 aut 2 254 570 Köpfen vermehrt. Da das Areal von Groß-Berlin 706,86 Quadrat- Kilometer beträgt, so kamen 1895 aut den Quadrat-Kilometer 3190 Bewohner gegen 2768 im Jahre 1890. Von 1895 auf 1900 wird die Dichtigkeit der Bevölkerung innerhalb Groß- Berlins noch gestiegen sein, wozu besonders das Anwachsen der Einwohnerschaft in den näher und entfernter gelegenen Vororten Berlins bei getragen hat. Die Volkszählung muß jetzt zeigen, ob Groß-Berlin eine Einwohnerzahl von 2V? Mil lionen schon überschritten hat. Aon Ja ft und Fern. Ein folgenschwerer Eisenbahn-Zu sammenstoß hat am Donnerstag in der Nähe von Offenbach stattgesunden. Donnerstag abend Vr 11 Uhr ist der Personenzug Hanau—Frank furt zwischen Mühlheim und Offenbach auf den dort haltenden V-Zug 42 ausgeiahren. Der letzte Wagen des V-Zuges wurde teilweise zer trümmert. Hierbei explodierte der Gasbehälter, das ausströmende Gas entzündete sich und setzte die beiden letzten Wagen augenblicklich in Brand. Die Reisenden des vorletzten Wagens konnten sich retten, während die des letzten anscheinend sämtlich in den Flammen um gekommen sind. Gefundene unkenntliche Neste lassen auf den Tod von 6 bis 8 Reisenden schließen. Sonst erlitten drei Reisende und ein Schaffner unerhebliche Verletzungen, lieber die Namen der Personen war noch nichts festzu stellen, ebensowenig die Ursache des bei sehr dichtem Nebel vorgckommenen Unfalles. Der Eisenbahnminister v. Thielen hat sich nach der Umallstätte begeben. Neber die Absperrungsmastregeln bei der Denkmalsenthüllung in Hildesheim wird in geschäftlichen Kreisen allgemein geklagt. Daß besondere Vorsicht von feiten der Polizei not wendig war angesichts des Umstandes, daß das Kaiserpaar etwa 20 Straßen passieren mußte, um zu den verschiedenen Besichtigungsstätten zu gelangen, wird ja zugestanden. Thatsache aber ist, daß viele Straßen während des Durchzuges des Kaiserpaares fast völlig leer waren und sehr viele in anbetracht der Sperrmaßregeln, die vorher bekannt gegeben waren, von einem Besuch Hildesheims Abstand nahmen; die Be suchsziffer ist denn auch weit niedriger ausge fallen, als man erwartet hatte. Sie betrug rund 25 000 Personen. Prinz Aribert von Anhalt hat gegen den .Frankfurter General-Anzeiger' und die ,Saale-Ztg.' in Halle ein gerichtliches Verfahren einleiten lassen, weil beide Blätter Artikel ge bracht hatten, die die Ehescheidung des Prinzen in einer ihn beleidigenden Form besprachen. Zum Pestfall in Bremen. Der aus Anlaß des anscheinend von Argentinien ein- geschleppten Pestfalles vom kaiserlichen Gesund- beitSam! nach Bremen entsandte Regierungsrat Professor Dr. Kossel ist von dort zurück- gekehrt. Die au's sorgfältigste angestellten Ermittelungen hinsichtlich der mit dem Kranken vor der Feststellung des Charakters seiner Krank heit in Berührung gekommenen Personen be rechtigen nach offiziöser Erklärung zu der Hoff nung, daß der Fall vereinzelt bleibt. Ein Geschenk für Bremen. John Harjes, ein geborener Bremer, der aber seit über 50 Jahren fern von seiner Vaterstadt weilt und jetzt die Pariser Weltausstellung besucht Hal, hat seiner Vaterstadt ein wertvolles Geschenk zugcdacht. Zuerst war cs der große deutsche Reichsadler aus der Weltausstellung, den er der Stadt verehren wollte. Leider mußte er, als er mit seinem Kaufangebot hcrvortrat, erfahren, daß der Adler bereits nach Amerika verkauft sei. Jeh« aber ha« er die beiden hoch zu Roß sitzenden deutschen Ritter, die einen Hauptschmuck am Eingang zur deutschen Kunstgewerbe-Aus stellung bilden, sür Bremen angekauft. Die Kunstwerke (anderthalbfache Lebensgröße) find eine Nachbildung der Maisonschcn Standbilder auf dein Neichstagsgebäude in Berlin. Die jetzt der Stadt Bremen geschenkten Figuren find in Kupfer getrieben. Der Geber wird sie nicht nur frei nach Bremen liefern, sondern anch die Arbeiten sür ihre Aufstellung einschließlich des Sockels tragen, und er bittet den Senat, sür diesen Sockel das schönste Material zu wählen. Den Platz, wo die beiden Figuren Aufstellung finden sollen, auszusuchen, überläßt er dem Senat. KeimaLlos. H Roman von C. v. Zell. (Fortsetzung.) Die Möglichkeit, das alte Pferd könne fort laufen, war gleichfalls ausgeschloffen, denn es war so mager, daß man ihm jede Rippe im Leibe nachzählen konnte. Er war nicht schön mehr, der brave Schecke, war es vielleicht nie gewesen! Wie ganz anders sahen die Pferde der Gutsbesitzer und Bauern aus, die Tobbi gern bewunderte, wenn sie in den eingehegten Roß gärten grasten oder sich in muntern Sprüngen tummelten. Es war schwer zu glauben, daß der Schecke ihresgleichen sei. So dürr und rauhbeinig schaute dieser, so rund und glänzend jene aus. Aber mehr noch als die Pferde interessierten Tobbi die Kühe und die Ziegen mit den vollen Eutern, die er wohl gelegentlich auf den Höfen der glücklichen Ansässigen erblickte. Aus der Ferne zuschauen dürfen, wenn jene Tiere gemolken wurden, das war ein Hochgenuß für Tobbi. Oftmals schon hatte er geträumt, daß er, anstatt der derben Viehmagd auf dem drei beinigen Melkschemel hocke und mit beiden kleinen Fäusten emsig arbeite, um den blankge- schcuerten Holzeimer, den er zwischen den Knieen hielt, mit der süßen, gelblich schäumenden Milch zu süllen. Das Thun und Treiben der Landleute hatte überhaupt von jung auf einen ungemeinen Reiz für Tobbi, und alle Beschäftigungen und alle Arbeiten derselben kamen ihm wie ein beneidens wertes Vergnügen vor. Wer doch auch, wie sie, graben und pflügen, eggen, säen, mähen nnd emsahren dürfte! Und dann das Korndreschen und Putzen. — Das Ticktack des Dreschflegels und das Klappern der hölzernen Mühle, die das Schlechte vom Guten zu sichten hatte, alles dünkte Tobbis Ohren eine köstliche Musik. Nur nicht der Klingklang beim Kesselflicken! Um des Himmels willen keine alten Töpfe binden und Mausefallen ver kaufen. Einmal hörte Tobbi, wie die Eltern sich untereinander besprachen. „Die Zeit habe sich ge ändert!" sagten sie. „Es würde doch gut sein, wenn sie ihren Buben zur Schule schickten." Natürlich dachten sie nicht daran, sich des wegen von ihm zu trennen. Es genügte ja, wenn der Tobbi bald hier, bald dort an dem Unterricht der Dorfjugend teilnehmen konnte. Gegen gute Bezahlung, meinte Janosch, würden die Schulmeister wohl so ziemlich allerorten ein Auge zudrücken und auch einmal einen Wander schüler unterweisen. Ging es dann auch etwas langsamer mit Tobbis Gelehrsamkeit, als mit der anderer Kinder, was that's? Mit der Zeit würde ihr Junge es doch wohl auch zum Lesen und Schreiben bringen, und eine solche Er rungenschaft schien den braven Keffelflickerleuten schon so anerkennenswert, daß sie darüber hin aus gar nicht zu denken wagten. Tobbi lauschte mit gespitzten Obren der elter lichen Unterredung. In die Schule sollte er gehen, wie die andem Kinder? Es klang ihm fast wie ein Märchen. Aber sein Herz klopfte doch stärker, nun er sich diesen Gedanken ausmalte. Um den Preis einer zeitweisen Genossenschaft mit andern Kindern tauschte er mit tausend Freuden die größte Lernpein ein. Die Pläne der Eltern reiften allmählich wirklich zur That. Als Tobbi etwa zehn Jahre zählte, ging die Familie Dvortschack eines schönen Wintertages in der Ortschaft Rukischken „vor Anker". Der Kantor und Lehrer daselbst hatte sich bereit erklärt, Tobbi als Schüler anzunehmen. Glückstrahlend ging Tobbi in das Schul haus, Fibel und Schiefertafel unter dem Arm. Als er aber das Schulzimmer betrat, sah er zu seiner größten Bestürzung, daß er zu spät gekommen war. Der Lehrer hatte bereits mit dem Unterricht begonnen. Bei Tobbis unerwartetem Erscheinen drehten sich wohl an die sechzig Kinderköpfe nach ihm um; er aber wagte sich nicht weiter vor, son dern blieb sehr verlegen neben der Thür stehen. „Tobias Dvortschack," sagte der Lehrer, auf einen leeren Platz weisend, „setze dich dort hin." „Ja, Herr Lehrer." „Du bist zu spät gekommen. Künftig mußt du pünktlich sein." „Ja, Herr Lehrer." „Kannst du schon etwas lesen oder schreiben?" „Nein, Herr Lehrer." „Nun, so gib gut acht auf die Buchstaben, die ich auf die große Tafel malen werde, und schreibe sie auf deiner kleinen nach." „Ja, Herr Lehrer." Tobbi ertrug die Marter des Begafftwerdens und des Zischelns: „Ja, Herr Lehrer! Nein, Herr Lehrer!" mit wahrhaft stoischem Gleichmut. Er war es ja gewöhnt, daß man ihn verhöhnte, ihn als etwas Fremdartiges anstarrte. Auch etliche „Schubse" und sonstige handgreifliche Neckereien der ihm zunächst sitzenden Knaben — vollsührt, sobald der Lehrer den Rücken wandte — nahm Tobbi gelaffen hin. Von dem, waS der Lehrer sagte, hörte er aber so gut wie gar nichts mehr. <Ä dachte jetzt nur noch an den Schluß der Stunden und an die Glückseligkeit, sich dann zum ersten Mal in seinem Leben inmitten einer fröhlichen, übermütigen Kinder schar zu befinden, und zwar als ein ihr zuge höriges, als ein berechligtes Glied derselben. Jetzt war ja Tobbi ein Schüler wie sie. Jetzt hatten sie kein Recht mehr, ihn abzuweisen, wenn er neben ihnen hergehen, wenn er mit ihnen plaudern, mit ihnen spielen, mit ihnen Wettlaufen und ringen wollte. Ach, er wurde bitter enttäuscht! Auch jetzt noch hieß es wie früher schon: „Geh' fort, du Schwarzer, du Zigeunerbengel! Du hast bei uns nichts zu suchen. Wir haben keine Kessel und Tiegel zu flicken!" Tobbi knirschte mit den Zähnen in ohn mächtiger Wut. Es war unmöglich, sich gegen so hämische Reden aufzulehnen. Er, ein einzel ner so vielen gegenüber. Finster blickend, dicke Thränen in den Augen, schlich er einsam der davonstürmenden Schar nach. Er hatte die schmerzüchste Ent täuschung seines jungen Lebens erfahren.
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