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Allgemeiner Anzeiger : 26.09.1900
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-26
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190009261
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19000926
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19000926
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- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1900
-
Monat
1900-09
- Tag 1900-09-26
-
Monat
1900-09
-
Jahr
1900
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 26.09.1900
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Einer Herratsschwindlergescllschast, die auf dem Wege einer Zeitungsannonce die Be kanntschaft von Damen zu erreichen suchte, ist die Polizei zu Hörde auf die Spur gekommen. Die Betreffenden ließen von Hörde ans eine Anzahl Heiratsanzeigen los, legten sich hoch klingende Namen bei und spekulierten auf den Geldbeutel Leichtgläubiger. Am vergangenen Montag weilten zwei Damen aus Menden in Hörde, welche zum Besuche ihrer „Verlobten" hcrttbergekommcn waren und die traurige Ent deckung machen mußten, daß Namen, wie sie ihre angeblichen Verlobten sich beigelegt hatten, gar nicht bekannt waren. Eine der Damen gab zu Protokoll, daß sie mit ihrem zukünftigen Ehemann in Menden Verlobung gefeiert habe und daß ihr das annähernd 500 Mk. gekostet habe. Die Damen fuhren enttäuscht in ihre Heimat zurück, nachdem sie bei der Behörde den Strafantrag gegen die Betreffenden eingereicht hatten. Der Polizei gelang es denn auch, die „Heiratskandidaten" zu ermitteln. Einer von ihnen ist verheiratet und Beamter eines Hörder Werkes. Einen grausigen Fang machte der Fischer meister Hoffmann zu Alt-Madlitz bei Fürsten walde (Spree). Als er das Netz ans Land zog, wegen der Schwere auf einen guten Fang hoffend, fand er darin die Leiche einer etwa 50jährigen Frau, deren Persönlichkeit bisher noch nicht festgestellt werden konnte. Ein sonderbares Unglück hat kürzlich drei Radfahrer, die auf der Chaussee von Reuden nach Reetz fuhren, betroffen, indem dem letzten der auf dem Heimweg Begriffenen ein Hirsch ins Rad sprang, während ein zweiter Hirsch über den mit lautem Schrei zu Boden Ge stürzten hinwegsetzte. Die Verletzungen des auf so eigentümliche Art vom Rade Geworfenen waren zum Glück nicht erheblich, so daß er nach einiger Zeit seine Fahrt mit den übrigen fort setzen konnte. Unter dem Verdacht des Giftmordes wurde der Weber Steinbusch in Aachen ver haftet. Er hatte den von der Frau in die Ehe gebrachten zweijährigen Stiefsohn, der plötzlich gestorben war, sofort in den Sarg gelegt und diesen vernagelt, noch ehe ein Arzt zur Stelle war. Im Beruf verunglückt. Vor einigen Tagen verunglückte in der chemischen Fabrik von Boehringer Söhne in Mannheim der Chemiker Dr. Wilhelm Herold bei Laboratoriumsarbeiten. Ein Glaskolben brach und der Inhalt, eine scharf ätzende Säure, ergoß sich über den Körper Dr. Herolds. Die 2 erletzungen waren so bedeutend, daß der Verunglückte bald darauf im Diakonissenhanse starb. Dr. Herold war aus Gera gebürtig, 27 Jahre alt und unver heiratet. ! Auf eigentümliche Weise verunglückten dieser Tage in Rübgarten (Württemberg) zwei Frauen. Sie befanden sich in der Küche, in der man gerade Wäsche hatte, als plötzlich der Fußboden durchbrach, so daß die Frauen in den unteren Naum stürzten und von dem nach stürzenden Kübel mit heißer Waschbrühe schreck lich verbrüht wurden. Die beiden Frauen wurden nach Tübingen in die chirurgische Klinik gebracht, wo die eine von ihnen alsbald ihren Verletzungen erlegen ist. DieOpfer der DuxerGrubcnkatastrophe. Die Zahl der Toten bei dem Grubcnnnglück in Dux beträgt bisher 47. Von den Schwer verletzten dürften sechs sterben; weitere sechs Mann, die noch vermißt werden, sind gleichfalls den Toten beizuzählen, da sie sich im tiefsten Teil des Schachts befinden, der infolge Zer störung des Wasserrohrs ersoffen ist. Der Grubenbrand ist bereits bewältigt worden. Der Statthalter traf auf der Unglücksstätte ein. Exprinzessin Chimay nnd ihr Zigeuner. Vor kurzem ging durch die Blätter die Meldung, daß die Exprinzessin Chimay den Zigeuner primas Rigo verlassen habe. Der Stuhl weißenburger Korrespondent des .Pester Lloyd' hat die dort wohnenden Eltern Rigos aufge sucht, die ihm einen vom 31. August d. aus Kairo datierten, von beiden unterschriebenen Brief vorwiesen, in welchem die Prinzessin in warmen Worten ihrer Liebe zu deni Zigeuner „Was habe ich verbrochen," stammelte sie, »daß ich so gestraft werde!" „Edith," entgegnete Walter, „es gibt wohl kaum Menschen, die ein ähnlich schweres Schick sal betroffen hat. Hätte der Tod uns heute getrennt, es wäre leichter zu tragen gewesen." „Ich hätte nie geglaubt, daß die Gräfin so grausam kein könnte." „Grausam? Infam hat sie gehandelt; ein Teufel hätte sich keine schlimmere Rache aus- denken können." „Und ich hatte sie so lieb!" rief Edith traurig auS. „Ach, Walter, ich will dir ja keine Vorwürfe machen, aber weshalb ließest du mich nicht offen mit dir sprechen? Ich glaubte ja, du wüßtest alles, obgleich ich mich wunderte, daß gerade ein so stolzer Mann wie du über den Makel fortsehen könnte. Die Gräfin versicherte mir, daß du die ganze Ge schichte von meines Vaters Verbrechen mit allen Einzelheiten wüßtest, aber daß es dein Wunsch sei, nie mit mir darüber zu sprechen; ich dürfe es niemals erwähnen. Ich begriff dich nicht, aber sie sagte, deine Liebe sei zu groß, du könntest nicht ohne mich leben. Sie fügte noch hinzu, einmal im Leben wolltest du über die Sache mit mir sprechen: an unserem Hochzeits tag. Da solle ich dir alles erzählen, und du würdest dann nie wieder darauf zurück kommen." „Und du glaubtest ihr alles?" „Ja, weshalb sollte ich au ihr zweifeln? Mein Vertrauen und meine Liebe zu ihr waren unbegrenzt. Unter Thränen gestand ich ihr «eine Furcht, daß du den Schritt bereuen Primas Ausdruck gibt und erklärt, daß sie nicht daran denke, ihn zu verlassen. Defraudanten. Wie aus Budapest be richtet wird, ergab die Untersuchung nach dem Tode des Staatsbahnkontrolleurs Tschikvary, der kürzlich sich und seine Geliebte tötete, daß Tschik vary 140 000 Kronen defraudiert hat und daß noch 24 andere Beamte kompromittiert sind. Zwei derselben wurden schon im Disziplinar wege ihrer Stellen enthoben, bezüglich der übri gen dauert die Untersuchung fort. Der bekannte Dauerwanderer Otto Ribbe aus Königsberg ist in der Konkurrenz um den Preis der internationalen Sportver einigung der Pariser Weltausstellung als erster am Endpunkte des 6000 Kilometer betragenden Weges eingetroffen. Ribbe, der völlig gesund und frisch ankam, wird also den ersten Preis von 20 000 Frank erhalten. Der erste Schnee in Italien ist vor ein paar Tagen in verschiedenen Regionen der oberitalienischen Voralpen, besonders oberhalb Chiavenna und Collio gefallen, und zwar so anhaltend, daß er stellenwcis über einen Meter doch liegt. So erklärt sich denn auch die rauhe, fast winterliche Temperatur, welche man abends und nachts zur Zeit in Oberitalien und fast allen Teilen der Schweiz bemerkt. Auffällig ist übrigens auch der überaus frühzeitige Wegzug vieler Zugvögel, welche ihre Reise nach Afrika diesmal schonwochenlang früher als sonst ange treten haben. Danach wäre ein früherer und rauherer Winter zu erwarten. Die Thätigkeit des Vesuvs nimmt, wenn auch langsam, zu. Der untere Krater ist ganz in Rauch gehüllt, und es erfolgten zahlreiche Explosionen. Einige Steine wurden bis in die Nähe des Bahnhofes der Drahtseilbahn ge schleudert. Nachfrage nach Skeletten. In Amerika werden zu Studicnzwecken besonders viele Menschenskelette verwendet; doch erlaubt es die Pietät der Amerikaner nicht, daß die Skelette dort präpariert werden. Einst bestand in Mar seille eine Skelettfabrik, die jährlich Tausende solch unheimlicher Präparate an die amerikani schen Universitäten lieferte. Vor kurzer Zeit stellte diese Fabrik die Arbeiten ein und die Amerikaner blieben nun ohne das zum Unter richt nötige Material. Infolge dieses Umstandes wendete sich eine große Naturalienhandlung aus New Jork an das Laboratorium Dr. Adolf Lendls in Budapest behufs Lieferung von 1000 Menschenskelcttcn. Interessant ist es, daß nur Skelette von Männern und Frauen slawischer Stämme gewünscht werden, da nur diese Rasse sich meist fehlerloser Gebisse erfreut. Ob Dr. Lendl dieser ebenso eigentümlichen als umfang reichen Bestellung wird nachkommen können, bleibt fraglich. Vielleicht kann Rußland aus- hclfcn. Ein Aufsehen erregender Vorfall wird Von den Philippinen gemeldet. Der Komman dant der dortigen amerikanischen Truppen, General Mac Arthur, berichtet darüber offiziell: Ein Hauptmann Mac Quiston wurde vor der Front Plötzlich von einem Tobsuchtsanfall er griffen und erschoß einige Soldaten. Man ant wortete ihm aus den Reihen der Soldaten mit Schüssen, die ihn, den Hauptmann, töteten. Gerichtshalle. Berlin. Starke hochstaplerische Neigungen hat der „Schriftsteller" Paul v. Berger, welcher aus der Untersuchungshaft vorgefuhrt wurde, um sich wegen zweier Betrugssälle zu verantworten. Der Angeklagte ist bis zum Jahre 1875 aktiver Offizier gewesen und hat als solcher die Feldzüge von 1866 und 1870/71 mitgemacht. Angeblich hat er seinen Abschied nehmen müssen, weil er plötzlich seine Stimme verlor. Seitdem will er sich in ungeregelter Weise durch schriftstellerische Thätigkeit ernährt haben, er hat aber schon mehrere Vorstrafen wegen Be truges erlitten, den er in einem Falle auf dem Ge biete des Heiratsschwindels begangen hat. Auch bei der jetzigen Anklage handelt cs sich um einen solchen. Der GcrichtSho' verurteilte den Angeklagten zu einem Jahr sechs Monat Gefängnis unter Anrechnung von drei Monat auf die Untersuchungshaft und drei Jahr Ehrverlust. München. Mitte August bemerkte das Personal des Kommerzienrats Kaspar Braun in der Fürsten könntest; mehr als einmal wollte ich zu meiner Mutter zurückkehren; aber fie ließ mich nicht fort. Sie sagte, eS sei grausam gegen dich und deine heiße und innige Liebe. Ich glaubte ihr und blieb schließlich gegen meine bessere Einficht." „Wenn du doch offen mit mir gesprochen hättest!" „Du wolltest es ja nicht, Walter! Wie ost fing ich an, und du schnittest mir immer das Wort ab!" „Ja, ja, ich weiß," ga er zu, „aber mein Herz, wie konnte ich das ahnen, was du mir zu sagen hattest! Ich glaubte ja nicht, daß irgend etwas außer deiner Armut zwischen uns stände." Wieder schwiegen fie eine Zeitlang, dann begann Walter von neuem: „Edith, willst du mir alles aus deinem Leben erzählen, was du weißt?" „Gern, aber es ist nicht viel. Früher müssen wir auf dem Lande gelebt haben, ich erinnere mich noch undeutlich grüner Bäume und einer Mese, auf der ich spielte. Mein Vater kam ost mit einer Flinte nach Hause, er war ein stattlicher Mann, aber immer grob und unfreund lich gegen mich und die Mutter. Doch diese klagte nie, ich kenne fie nicht anders als geduldig, sanft und freundlich. Mich liebte fie über alles; nie habe ich ein böses Wort von ihr gehört. Alles versagte fie sich, um es mir uud dem Vater zu geben. Alle schönen Erinnerungen meiner Kindheit gipfeln in der Mutter. Ferner taucht noch eine Gestalt in meinem Gedächtnis auf, ich glaube, es war ein Arzt. Er kam straße 10, daß in den im ersten Stock gelegenen Räumlichkeiten des Hauses ungebetene Gäste ver weilten. Den umfaßenden Bemühungen der Schutz mannschaft gelang es auch bald, die betreffenden „Einbrecher" dingfest zu machen. So halten sich dieselben in der Person des 20 Jahre alten Kauf manns Eduard Geist, des 21 Jahre alten Schreibers Johann Stöckl, des 18 Jahre alten Zahntechnikers Arthur Edler v. Schickh und des gleichalterigen Kommis Joseph Edel wegen Hausfriedensbruchs, Diebstahls und Hehlerei vor den Schöffen zu ver antworten. In der Nacht vom 21. auf 22. August kamen die vier zufällig in die Fürstenstraße. Einer von ihnen wußte, daß im Hause Nr. 10 an der Fürstenstraße Kommerzienrat Braun eine unbc- nützte, jedoch wohleingerichtete Wohnung besitze. — Stöckl kletterte sofort an dem Drahte der elektrischen Leitung in den ersten Stock, stieg durchs offenstehende Fenster und öffnete mittels der an der Wand hängenden richtigen Schlüssel dieThüren, so daß seine 3 Kameraden heraufkommcn konnten. Sodann begaben sich die vier Freunde zur Ruhe und entfernten sich morgens wieder. Geist nahm auch noch 6 Schlüssel mit, wovon er einen dem Stöckl schenkte, um das Wiederkommen sich zu erleichtern. Die Sache kam jedoch zur Anzeige, Stöckl und Geist wurden in Untersuchungshaft genommen. Heute stellen die Angeklagten die Sache als über mütigen Jugendstreich dar. Es wurden auch von Schickh und Edel sreigesprochen, Geist jedoch wegen erschwerten Hausfriedensbruchs und Diebstahls (der Schlüssel) zu drei Wochen, Stöckl zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Der „Ozean-Rekord" wird seit drei Jahren wieder von deutschen Schiffen behauptet, nachdem er vorher zuletzt 1891 vom Hamburger „Fürst Bismarck" mit 6 Tagen 11 Stunden 44 Min. und etwa 2OV2 Knoten nach New Jork sestgestellt worden war. Anno 1819 war die Uebcrfahrt der „Savannah" in 35 Tagen eine stolze Leistung. Im Jahre 1858 war es ein großer Triumph der Hamburg- Amerika-Linie, als ihre „Hammonia" die Fahrt westwärts in 13 und ostwärts in 12'/< Tagen machte. Im Jahre 1862 wurde die erste Ueber- sahrt unter 9 Tagen, 1869 unter 8, 1882 unter 7 Tagen gemacht. Eine wesentliche Abkürzung der Reise brachten die ersten Schnelldampfer des Lloyd. Im Oktober 1895 wurde der letzte englische Rekord geschaffen, den im August 1896 der „St. Paul" von der. American Line sch'ug. Sobald im September 1897 der „Kaiser Wil helm der Große" vom Norddeutschen Lloyd er schien, schuf er auf der ersten Reise neue Rekords für die Hin- und Rückreise, und er ist auch noch heut allen ausländischen Schiffen überlegen. Den Rekord gab er nur an ein anderes deutsches Schiff ab, als im Juli 1900 die „Deutschland" der Hamburg-Amerika-Linie erschien. Diese schuf ebenfalls gleich auf den ersten Fahrten neue Ergebnisse, die fie auf den weiteren Fahrten noch mehrfach verbesserte, so daß sie gegenwärtig den Rekord westwärts mit 23,02 Knoten (5 Tage 12 Stunden 29 Min.) und ostwärts mit 23,36 Knoten (5 Tage 7 Stunden 38 Min.) hält. Die Bedeutung der Schnelligkeit liegt erstens darin, daß sie ein Zeugnis ablegt von der voll kommenen, durchaus korrekten, zweckmäßigen Bauart und der Stärke des Schiffes. Sie hat aber auch praktische Wichtigkeit, einmal für die vielen Tausende von Passagieren, die großen teils in dringenden Geschäften unterwegs sind und denen auch ein halber Tag oder selbst einige Stunden Gewinn wertvoll find, dann besonders aber für die umfangreiche Post, die mit jenen Dampfern über das Meer geht. Auf letzteren Punkt legt namentlich die amerikanische Postverwaltung das größte Gewicht und gibt zur Orientierung des amerikanischen Handels umfangreiche Statistiken heraus über die Zeit dauer, in welcher jeder einzelne Schnelldampfer der verschiedenen transatlantischen Linien die amerikanische Post abliefert. Gm KLnstlersonderling ist am 12. d. zu Rom in der Person des Malers Luigi Galli gestorben, einer von den seltenen Menschen, die trotz oder vielleicht auch wegen ihrer genialen Eigenart bis zu ihrem letzten Atemzug mit der Not kämpsen und doch dabei nicht unzufrieden mit ihrem Los sind. Galli war in Mailand geboren; wann? weiß nic- öfter zu unS und brachte mir immer etwas mit. Dann muß irgend etwas pasfiert sein; plötzlich blieb er sott, und ich sah ihn nie wieder." Walter sah fie erstaunt an. „An weiteres über ihn vermagst du dich nicht zu erinnern?" „Nein," erwiderte fie und fuhr dann fort: „Später kam eine Zeit, wo die Mutter Tag und Nacht weinte, und dann zogen wir fort. Bon der Reise weiß ich nichts mehr, auch habe ich die Namen der Orte, in denen wir vorüber gehend wohnten, vergessen, nur so viel ist mir in der Erinnerung geblieben, daß eS mir in den Städten und in den dunklen Zimmern, die wir bezogen, gar nicht gefiel. Wie viel hübscher war es doch auf dem Lande gewesen, wo wir Helle, freundliche und bequeme Räume inne hatten! Als ich heranwuchs, sorgte meine Muttrr dafür, daß ich gute Schulen besuchte; wie fie eS möglich machte, weiß ich nicht. — Tu sollst eine gebildete Dame werden und wefter- kommen im Leben, pflegte fie zu sagen; auch litt fie nie, daß ich ihr im Hause half. Meine Hände sollten weiß, zart und schlank bleiben. Während ich noch zur Schule ging, kam daS Unglück durch meinen Vater über uns." „Willst du mir genau erzählen, wie sich alles zutrug?" „Gewiß. Wollte Gott, ich hätte eS früher gethan! Daß meine Mutter vor ihrer Ver heiratung als Jungfer in Redenhof diente, weißt vu, auch daß fie die nunmehrige Gräfin Brandner daraufhin um Unterstützung bat, als ihre Lage eine bedrängte geworden war. Die Gräfin kam nun in Wien öfter zu uns und mand, aber es muß schon sehr lange her sein, denn obwohl von zäher Gesundheit, so sah er doch recht benagt vom Zahn der Zeit aus. Als junger Mensch hat er bessere Tage gesehen, aber nichts davon bewahrt als die Gewohnheit, einen schwarzen Gehrock und Cylinderhut zu tragen. In schäbiger Eleganz sah man den verwitterten Alten regelmäßig in einer Ecke des Cafö Greco sitzen, zu dessen wenigen Künstler stammgästen aus frühem Zeiten er gehörte. Sein zugleich als Wohnung dienendes kleines Studio in dem großen Atelierstall der Via Sistina 123, während der letzten beiden Jahre aber weit draußen an der Via Flaminia, bot den Anblick einer armen Trödelbude, in der allerhand wertloser, seltsamer Kram zusammen gehäuft ist. Sein Bett bestand aus zwei Brettern, die über leere Petroleumblechkasten gelegt waren, ein System, dem sein Erfinder eine besondere gesundheitliche Wirkung zuschrieb, da der bei jeder leisen Bewegung unausbleib liche Lärm der hohlen Kasten das unnütze Wiedereinschlafen nach dem natürlichen Erwachen verhinderte. Sein offenbar nicht ganz normales Gehirn brütete noch wunderlichere Dinge aus; so war er von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Besiedelung des Planeten Mars durch die Menschen überzeugt, sobald die Erde ihren Be wohnern nicht mehr genüge, und entwickelte seine Theorie gern vor der kleinen Künstlertafel- runde der Osteria Malinese in Via Sistina, der er eine Zeitlang angehörte. Diesen Gedanken einer Eroberung anderer Weltkörper durch die Menschen hat Galli in einem symbolischen Ge mälde ausgedrückt, das als alter Ladenhüter sein Studio schmückte. Es stellte einen kühnen Reiter dar, der aus schnaubendem Rosse über eine öde Heide dahinfegt, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Als Künstler hat Galli aus der alten Schule ein hervorragendes Können in der Zeichnung mitgebracht, sein koloristisches Verfahren dagegen war sein aus schließlich persönliches Eigentum und sonder lich genug. Zumeist bereitete er sich die Farben selbst und suchte aus allen möglichen und unmöglichen Dingen neue Farben her- zustcllen; seine Werkstatt war mit Porzellan gesäßen angefüllt, in denen er zu diesem Zwecke Rüben, Früchte, Gemüse u. dergl. bearbeitete. Den Höhepunkt seiner närrischen Koloristik er reichte er, als er seinen Freunden im Cafö Greco ein mit verschiedenartigem Kot gemaltes Bild ausstellte. Manchmal gelang es seinem feinen Farbensinn, überraschende Wirkungen herauszubringen, um die ihn andere Kunst genossen beneideten. Aber Geschäfte hat Galli mit seiner Kunst nicht zu machen verstanden. Eine größere und tüchtige Arbeit von ihm ist ein Deckenbild im Treppenhause des Inter nationalen Künstlervereins zu Rom, auch der Spanier Villegas soll ein gutes Sittenbild von ihm besitzen. Zuletzt fristete er sein Leben mit Anfertigung von Bildnissen der Bohemiens der römischen Presse. Und diese Kreise bewahren dem seltsamen Kauz auch ein freundliches An denken, indem sie die Zeitungsleser nach seinem Tode mit der Erzählung seiner Sonderlings- streichc belustigen. Kuntes Allerlei. Eine sonderbare Reklame meldet der „Hann. C.' aus der Eilenriede bei Hannover. Dort steht an dem neu angelegten Radsahrer- wege zu jeder Seite des Einganges ein viele Zentner schwerer Granitblock mit der Inschrift: „Radfahrerweg." Der eine Steinblock ist kürz lich umgestürzt worden, da er etwas mehr seit wärts gesetzt werden soll. Da die meisten Radler und Radlerinnen nichts wußten von dieser Ver änderung, so hörte man sehr oft die Frage: „Wer hat denn das gethan?" Diesen Wissens durst der Menge machte sich der Vertreter einer bekannten Fahrradfabrik zu Nutzen, der sich bei dem Stein ausstellte und mit treuherzigster Miene erzählte, daß ein Nadler, der die be kannte Marke „X" fahre, gegen diesen Stein gefahren sei und ihn dabei umgeworfen habe. ^,Ja, aber der Mann und das Rad?" fragten erschreckt die Damen. „Sind beide heil!" lautete die ruhige und bestimmte Antwort des Fahrrad händlers. sagte bald, ich hätte ihr gleich so gefallen — jetzt weiß ich, daß ich ihr nur als Mittel zum Zweck dienen sollte." Sie brach ab, Thränen erstickten ihre Stimme. „Weiter, Edith," bat Walter, „du bist ja so unschuldig an allem." „Die Gräfin war sehr gütig und verschaffte meiner Mutter Arbeit. Sie wußte auch den Grafen für uns zu interessieren, und er be stellte meinen unglücklichen Vater zu sich, um mit ihm über eine Anstellung zu sprechen. Bevor es zu einer solchen kam, beschäftigte er ihn in Garten und Haus. Aber die Güte deS Grafen wurde meinem Vater zum Verderb. In welche Gesellschaft er geriet, wie er verführt wurde, weiß ich nicht, aber er benutzte seine genaue Kenntnis aller Räume, um sich bei einem Diebstahl zu beteiligen. Eine Bande brach beim Grafen ein, mein Vater wurde bei der That mit abgefaßt und zu zehn Jahr Zuchtbaus verurteilt. „Und dann?" fragte Walter, als fie schwieg. „Dann," fuhr fie fort, „kam die Gräfin noch öfter zu uns, und schließlich bot fie meiner Mutter an, fie wolle meine Erziehung vollenden und mich später ganz zu sich zu nehmen. Meine Mutter konnte fich anfangs nicht ent schließen, mich herzugeben, aber die Gräfin stellte ihr immer wieder vor, wie selbstsüchtig fie handle, und so gab fie schließlich nach. Ich wurde nach Paris geschickt. Nach einem halben Jahr kamen der Gras und die Gräfin nach Paris und besuchten mich." Mu,2 (Fortsetzung folgt.)
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