Suche löschen...
Allgemeiner Anzeiger : 16.09.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-09-16
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-189909160
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-18990916
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-18990916
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1899
-
Monat
1899-09
- Tag 1899-09-16
-
Monat
1899-09
-
Jahr
1899
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 16.09.1899
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Politische Pnndschark Deutschland. *Der Zar wird der,Posst zufolge aller Voraussicht nach auf seiner jetzigen Reise dem nächst Potsdam besuchen. Im Potsdamer Stadtschloß werden bereits die Räumlichkeiten, die er bewohnen wird, inftandgesetzt. — Von anderer Seite wird gemeldet, daß die Begegnung zwischen den beiden Kaisern erst später stattfinden werde. * Mit einer Reform im Postwesen, die am 1. Januar 1900 in Kraft treten soll, wird sich, der Freuzztg.' zufolge, demnächst der Bundesrat beschäftigen; näheres darüber sei bisher nicht bekannt geworden. *Jn den Blättern ist davon die Rede ge wesen, daß innerhalb der Staatsregierung er wogen werde, den Preuß. Landtag bereits vor Weihnachten einzuberufen. Diese Nachricht entbehrt, wie die,Nordd. Allg. Ztg/ offiziös erklärt, jeder Begründung. Insbesondere liege dem neuen Minister des Innern die Ab sicht, dem Staatsministerium derartige Vorschläge zu machen, durchaus fern. * Die Wiederbesetzung des erledigten Ober präsidiums der Provinz Branden burg soll nunmehr vollzogen sein. Wie eine parlamentarische Korrespondenz meldet, über nimmt der Oberpräfident von Hannover Graf Stolberg das Oberprästdium in Potsdam an Stelle des verstorbenen Herrn v. Achenbach. Für Hannover ist der Direktor im Ministerium des Innern v. Bitter zum Oberprästdenten ernannt worden. — Das Oberprästdium in Potsdam soll vorher Herrn v. Boetticher angeboten worden sein, der aber abgelehnt hat und es vorzieht, in Magdeburg zu bleiben. *Zu den Meldungen über das Vorgehen der Preuß. Regierung gegen den Bund der Landwirte bemerken die ,Berl. Reuest. Nachr.,' sie haben Grund zu der Annahme, daß das Staatsministerium einen Beschluß in dieser Sache nicht gefaßt habe. Vielmehr solle bereits vor längerer Zeit seitens des Ministeriums des Innern den politischen Beamten nahegelegt worden sein, angesichts der Haltung, die der Bund der Landwirte in der Kanalfrage ange nommen habe, zu erwägen, ob ihre Zugehörig keit zum Bunde sie nicht in Konflikt mit ihren Pflichten als politische Beamte bringen müßte. *Für die an zuständiger Stelle in Aussicht genommene Herstellung von S a m m e l b e ck e n im Gebiete der Glatzer Neiße find neuer dings Vorarbeiten in Angriff genommen worden. Diese Sammelbecken sollen gleich den sür den Bober und Queis projektierten — deren Ausführung gelegentlich derHochwasserregulierung der schlesischen Gebirgsflüsse mit Hilfe einer Staatszuwendung von 30 Mill. Mk. in Aussicht steht — zwar auch der Hochwasserverhütung, mehr aber noch der Verhütung des Eintritts allerniedrigster Oderwasserstände dienen. * Aus Deutsch-Ostafrika kommt eine recht betrübende Nachricht. Die Werft, die die Expedition mit dem Dampfer „Hedwig von Wißmann" am Südostufer des Tanganjika- Sees angelegt hat, ist vollständig abge brannt. Der Führer der Expedition, Ober leutnant Schloifer, hat sich auf die Rückreise nach Deutschland begeben, um die vernichteten Materialien von neuem anzuschaffen und sie wieder dahinzubringen. Dadurch wird die Zu sammensetzung des Dampfers von neuem um mindestens ein Jahr hinausgeschoben. Frankreich. * Der weitere Gang der Dreyfus- Angelegenheit dürfte folgender sein: Nach Einreichung des Revisionsgesuches würden die Akten sofort nach Paris, dem Sitz des Revifionsgerichts, abgehen. Die zuständige Behörde werde die Akten prüfen und sie einem von ihr zu wählenden Berichterstatter zustellen, der einen eingehenden Bericht liefem werde. Eine zu diesem Behuf eingesetzte Kom mission werde über die Begründetheit der im Revifionsgesuch vorgebrachten Punkte ent scheiden und das Revifionsgericht alsdann in letzter Instanz urteilen. Wenn dieses das Urteil des Renneser Gerichts kassiere, werde der An- geklagte vor ein neues Kriegsgericht gestellt werden, im anderen Falle müßte die er kannte Strase volle Wirksamkeit erlangen. Dreyfus unterzeichnete, wie schon bemLrkt, am Sonntag das ihm vom Sekretär Labvcis vor- gelegte Gesuch an den Revisionsrat. Diesem Gesuch wird eine von Labori verfaßte Denk schrift folgen, in dem die begangenen Form fehler aufgezählt werden. Darunter steht in erster Reihe, daß mehrere Zeugen ihre Aus sagen abgelesen haben. Demange wird sich an geblich mit der Dreyfussache nicht mehr befassen. *Die Mitglieder des Kriegsgerichts in Rennes sind am Montag nochmals zusammen getreten und haben ein Gnadengesuch an den Präsidenten Loubet unterzeichnet, worin ge beten wird, Dreyfus die Strafe der Degra dation zu erlassen! — Dreyfus soll eine eisige Ruhe zeigen. Seiner Frau sagte er: „Meine liebe Freundin, nach allem, was ich ge litten, bin ich zu allem bereit. Du hast jetzt Mut nötig." * Vielfach ist man in Paris der Ansicht, daß die bereits verbüßte Strafzeit dem Verurteilten, falls die bereits eingelegteRevision keinen Erfolg haben sollte, so angerechnet wird, daß Präsident Loubet, ohne daß ein besonderes Gnadengesuch einzureichen wäre, die ganze, jetzt verhängte Strafe als verbüßt an sehen würde. * Die offiziösen Blätter ,Temps' und,Debats^ vertreten energisch die Forderung der Be gnad i g u n g D r e y f u s', da der bestehende Zweifel voll und ganz dem Verurteilten zu gute kommen müßte. * Im „F o rt C h abro l" sollen fünf Mann am Typhus erkrankt sein. Der .Matin' be hauptet, seit die gesamte Polizei daselbst abgehetzt werde, nähmen die Einbrüche und Raubanfälle in erschreckender Weise zu. Die Kommissare der einzelnen Stadtviertel hätten kaum einige Poli zisten zur Verfügung. *Der Staatsrat bewilligte 300 000 Frank behufs Vorkehrungen gegen die Pest. *DiefranzösischeMission Foureau- Lamy ist nach in Tripolis eingetroffenen Meldungen in der Nähe non Air durch eine große Zahl Tuaregs angegriffen worden, welche nach schweren Verlusten die Mission voll ständig vernichtet hätten. England. * In der Verwickelung zwischen England und Transvaal darf man wieder eine Ruhe pause voraussetzen, dadieAntwortTrans- vaals auf die neueste Londoner Note die nächste Stufe der Ereignisse sein wird. Es muß abgewartet werden, ob man es in Pretoria mit dieser Antwort eilig hat oder nicht. Jedenfalls liegt kein formeller Grund zu einer schnellen Mckäußerung vor, denn die Note stellt kein Ultimatum vor, und es wird demgemäß in Londoner unterrichteten Kreisen auch für unzu treffend erklärt, daß, wie anderweitig gemeldet wurde, der Regierung in Pretoria eine zehn tägige Frist für ihre Antwort gesetzt worden sei. *Die Londoner Blätter veröffentlichen eine Erklärung, die Präsident Krüger in Prätoria abgegeben hat. Krüger sagte darin, die Transvaal-Regierung könne unmöglich den Engländern dieselben Rechte wie den Einge- ! borenen gewähren. Kein besonnener Engländer werde solches verlangen und der Politik Chamberlains zustimmen. Krüger erinnerte an die Sympathien Gladstones für den Transvaal staat und schloß mit den Worten: „Die Boern fordern die Wahrung ihrer Freiheit, d. h. ihres Lebens, und werden diese niemals aufgeben." Balkanstaaten. *Der Belgrader Hochverrats- Prozeß nimmt nicht ganz den von Milan gewünschten Verlauf. Knezewitsch hat zwar neuerdings wieder die Angeklagten Nikolitsch, Dimitsch und Kowatschewitsch der Mitschuld bezichtigt; aber was man jetzt von seinen Aus sagen zu halten hat, nachdem er einmal jene „Geständnisse" über Mitschuldige unter der Mit teilung, daß sie ihm abgepreßt waren, widerrufen hat, ist klar. Zudem verstärkt sich das Gerücht, daß der Brief Angelitsch' an seine Frau von fremder Hand geschrieben ist, mithin Angelitsch thatsächlich im Gefängnis erdrosselt sein dürfte. Der Angeklagte Pafitsch wies jeden Verdacht einer Verschwörung weit von sich. Der Präsident des Standgerichts verständigte übrigens die Zeitungs-Berichterstatter, daß, falls sie nicht „objektive" Berichte brächten, er ihnen den Ein tritt in den Gerichtssaal verbieten werde! Amerika. * Ein hervorragendes New Aorker Blatt hat einen Feldzug gegen den Präsidenten Mac Kinley eröffnet, dessen persönliche Un bescholtenheit stark angegriffen wird. Es wird dem Präsidenten vorgeworsen, daß er sich bei der Ausnahme des ehemaligen Staatssekretärs und jetzigen Richters Day ins Kabinett durch den Umstand bestimmen ließ, daß er Day, der ursprünglich ein kleiner Landadvokat war, 14 000 Dollar schuldete. Thatsache ist, wie ein englisches Blatt ausführt, daß die Betrauung Days mit einer der wichtigsten staatlichen Funktionen allgemeine Verwunderung erregte. Aber daß Day sich seine Stelle im Kabinett gewissermaßen gekauft hätte, dürste nur bös willige Verleumdung sein. Der Hochverratsproxeß in Kelgrad. In dem Augenblick, wo sich in Rennes der Prozeß dem Ende zuneigte, dessen Verlauf ganz Europa mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, ist in Belgrad ein Prozeß eröffnet worden, dem man zwar nicht das gleich große Interesse ent gegenbringt, wie der Dreyfus-Sache, der aber wohl das eine mit ihr gemeinsam hat, daß er ein Spiegelbild des Volkes und des Staates geben wird, in dessen Mitte er sich abspielt. Und auch dieses Volk und auch dieser Staat find nicht ohne Interesse; das Volk hat eine ruhmreiche Geschichte, durch Jahrhunderte hat es in der heldenmütigsten Weise für seine Be freiung gekämpft; als aber die Stunde dieser Befreiung geschlagen hatte, da kann man nicht agen, daß die nun beginnende Geschichte des erbischen Staates sich ebenbürtig an die des exbischen Volkes augeschloffen hätte; jener ver hängnisvolle Mangel an staatbildender Kraft, der den slawischen Völkern im allgemeinen eigen ist, hat sich mit der unglücklichen geographi schen Lage verbunden, um die Geschichte des Staates Serbien bisher zu einer wenig erfreu lichen zu machen. Seine Traditionen sind die eines orientalischen Staates und die Aufpfropfung der westeuropäischen Staatsformen auf diesen Wild ling hat keine hervorragenden Resultate gezeitigt, das Schlimmste davon wohl eine Verschuldung, die selbst für ein blühendes, wohlgeordnetes Staatswesen eine Gefahr bilden könnte, geschweige denn für eine korrupte orientalische Wirtschaft. Von dieser Geschichte des jerbischen Staates wird wohl vieles in den Prozeß Hineinspielen und manche Streiflichter werden in diesem Pro zesse, der so sensationell bereits mit dem Selbst morde eines Angeklagten beginnt, auf die Zu stände dieses Balkanstaates fallen. Es ist Wohl noch in aller Erinnerung, daß bald nach dem Attentat, das den Gegenstand der Verhandlun gen bildet, die Vermutung auftauchte, das Ganze sei bestellte Arbeit gewesen, die dem Exkönig Milan die erwünschte Gelegenheit geben sollte, sich an seinen Todfeinden, den Radikalen, zu rächen. In der That konnte die unheimliche Geschwindigkeit, mit der der Attentäter eine ganze lange Liste von Mitverschwörern, die den Wünschen des Exkönigs sehr entsprechen mußte, zum besten gab, sowie andere nebensächlichere Punkte in dieser Meinung bestärken. Wenn dann die Verfolgungswut Milans etwas nach ließ, so ist das wohl eben den berechtigten Zweifeln, die an der Echtheit des Attentats auf tauchten, den guten Ratschlägen zu danken, die von Wien und Petersburg an die Adresse der serbischen Regierung abgegangen find. Man hatte in Wien allen Anlaß, dem österreichischen Schützling Milan zu bedeuten, die Zügel seines Hasses nicht allzusehr schießen zu lassen, weil ein Ueberspannen des Bogens möglicherweise zu Umwälzungen hätte führen können, die die regie rende Dynastie weggefegt und Oesterreich des letzten Restes von Einfluß, den es noch in Serbien hat, beraubt hätte; und es entsprach wohl der Tendenz der russischen Regierung, die Balkanfrage gegenwärtig nicht aufzurollen, wenn ste es verhinderte, daß dieser Prozeß zu einem Monstreprozeffe gegen die radikale Partei ausarte, die diese ruhig hinzunehmen nicht den Willen gehabt hätte. Man wird nun wohl den Verlauf des Pro zesses abwarten müssen, um zu sehen, ob das Attentat wirklich für Milan von einer gütigen Vorsehung geschickt war, um ihm den Anlaß zu bieten, mit seinen Feinden aufzuräumen oder ob er selbst diese Vorsehung gespielt hat. Gleich am ersten Tage der Verhandlung trat ein Moment klar hervor: die Ausdehnung der An klage von den Radikalen auf die vertriebene Dynastie Karageorgiewitsch. Das Ringen der beiden Dynastien Karageorgiewitsch und Obreno- witsch, das sich durch die ganze Geschichte Ser biens im 19. Jahrhundert hindurchzieht, spielt nun auch in diesen Prozeß hinein und verleiht ihm ein erhöhtes Interesse. Wenn sich der Zu sammenhang des Attentäters mit der radikalen Partei, deren Anhängerschaft neun Zehntel der Bevölkerung ausmacht, und mit den Karageorgie witsch beweisen läßt, dann würden dies die Sturmvögel einer neuen dynastischen Umwälzung in Serbien sein. Den Exkönig Milan verbindet mit den Radi kalen ein unversöhnlicher Haß; der König, der die Freuden des Lebens nicht in der Er füllung seiner Herrscherpflichten suchte, sondern in den öffentlichen Vergnügungslokalen europäi scher Hauptstädte, fühlte sich durch eine tiefe Kluft von den Männern des Volkes getrennt, die, wenn auch wenig wählerisch in den Mitteln und in den rauhen Formen des orientalischen Naturvolkes, das Beste ihres Volkes erstrebten; ihre panslawistychen Tendenzen und ihre Hin neigung nach Rußland standen im schroffen Widerspruch zu seiner österreichfreundlichen Politik, die die Radikalen aber wohl mit Recht nicht auf innere Ueberzeugungen, sondern auf persönliche, materielle Interessen zurückführen durften. Wie schwach bei diesem Kampfe die Position Milans war, geht daraus hervor, daß er sich schließlich doch nicht von der Hilfe der radikalen Partei unabhängig machen konnte; als er seiner Zeit die Abdankungskomödie aufführte und die Krone aus seinen Sohn Alexander übergehen ließ, da blieb ihm nichts anderes übrig, als den Radi kalen Ristitsch, der vor wenigen Tagen zur ewigen Ruhe gebettet wurde, zum Regenten zu machen. Heute scheint sich der Kampf, den die Radi kalen gegen die Art und Weise richteten, in der Milan den serbischen Staat für seine persön lichen Interessen ausbeutete, bereits gegen die Dynastie selbst zu kehren. Die Chancen der Karageorgiewiische scheinen günstiger zu stehen denn je; Milan und Alexander sind die Letzten ihres Geschlechts; König Alexander ist unver mählt und es gehen Gerüchte, daß er es auch stets bleiben wird. Was Wunder, daß das Volk seine Blicke auf die Prätendenten richtet, die in den 40 Jahren ihres unfreiwillen Exils kein Titelchen ihrer Ansprüche aufgegeben haben und auch durch ihre verwandtschaftlichen Be ziehungen zu der montenegrinischen Herrscher familie zu Trägern einer panslawistischen und großserbischen Politik prädestiniert erscheinen. Voraussichtlich wird der Attentatsprozeß manche interessante Lichter auf diesen Kampf der beiden Geschlechter werfen, der im geheimen nicht einen Augenblick geruht hat und in dem sich allem Anschein nach in nächster Zeit wieder eine öffent liche und historische Episode abspielen wird. (,M. N. N.-) Do« Nah ««d Fern. Marienburg. Aus der kaiserlichen Schatulle find für jeden Giebel der niedergebrannten Lauben, der in der früheren altertümlichen Weise wieder- hergestellt wird, 1000 Mk. bewilligt worden. Kiel. Auf dem zur Herbst - Uebungsflotte gehörigen Kreuzer „Wacht" fand am Dienstag vormittag im Kieler Hafen eine Explosion im Backvorderkessel infolge Reißens von 36 Steh bolzen statt. Vier Personen wurden getötet: Oberfeuermeistersmaat Schneider, Oberheizer Geichler, Heizer Timmler und Heizer Meyer. Außerdem wurden ein Unteroffizier und drei Mann leicht verletzt. Der Korsenkönig. 21 j Roman von Karl Ed. Klopfer. IFottsetzlmg.) Schwerdtner, der schon am nächsten Tage fort wollte, um zunächst noch seinen Zögling in die Anstalt zu begleiten, hatte sich mit dem Ein packen seiner Sachen verspätet und war noch nicht in Fefttoilette, als der Diener erschien, um ihm und dem jungen Baron anzukündigen, daß die Herrschaften soeben vom Standesamte zurück seien und es höchste Zeit sei, sich in die Fest säle zu begeben, wenn die beiden dem Trauungs zug sich anschließen wollten. Friedrich war aufs peinlichste überrascht. Er mußte Robert allein fahren lassen und konnte nur versprechen, so rasch als möglich nachzukomwer Robert ließ sich erst nach eindringlicher Nötigung dazu her bei; er wäre am liebsten bei Schwerdtner ge blieben, denn ihn ärgerte „dieser dumme Streich von Elvira", wie er beim Verlassen des Zim mers trotzig bemerkte. Schwerdtner überhörte diese Aeußerung geflissentlich, wie er überhaupt in den drei Monaten jeden Versuch des Knaben, fich seinen Unmut über diesen „ihm gar nicht passenden" Herrn Schwager vom Herzen zu reden, zurückgewiesen hatte. Friedrich beeilte sich so, daß er gerade noch inmitten des Trauungsaktes in der Kirche ein- ttaf. Er mußte seinen Weg durch die Sakristei nehmen, um zu Robert zu gelangen, der mit dem Vater und Bruder Guido in unmittelbarer Nähe des Brautpaares am Altar Aufstellung genommen hatte; die ganze Kirche war dicht mit Menschen gefüllt. Der Pfarrer hielt eine kurze Ansprache. Er mochte empfinden, daß bei diesem ungleichen Paar nicht von einer innigen Herzensneigung die Rede sein konnte. Als Schwerdtner auf der Schwelle der Sakristei erschien, hob Elvira den Blick und er bleichte bis auf die Lippen. Auch er war so betroffen, daß er eine Weile regungslos stehen blieb. Elvira war in ihrem Brautschmuck, der schleierumwallten weißen Atlasrobe von unbe schreiblicher, tief ergreifender, melancholischer Schönheit. Ihm schlich ein bitteres Weh zum Herzen, ein unendliches Mitleid, vor dem die Einwendung der kalten Vernunft, daß diese Braut ein solches Mitleid keineswegs verdiene, durch aus nicht stand halten wollte. Er konnte den Blick von ihrem gesenkten Haupte nicht abwenden, von dem herrlichen Blondhaare, das er seit jenem Nachmittag auf dem Eise nicht mehr gesehen hatte, das ihm aber seither noch gar ost in schweren nächtlichen Träumen erschienen war. Und da hatte er über diesem satten Goldgelb stets an gemünztes Gold denken müssen, an den scheußlichen Mammon, der ihm bislang gleich gültig gewesen war, den er nun aber so glühend haßte, wie er die Lüge und feile Gemeinheit haßte. In diesem Augenblick jedoch hatte er keine Empfindung mehr von jener abscheulichen Einbildung. Da schreckte ihn das laute, bestimmte Jawort auf, mit dem der Bräutigam die entscheidende Frage des Pfarrers beantwortete. Es war wie die Unterschrift zu einem wohlerwogenen Pakt. Jetzt wandte sich der Pfarrer an die Braut.. Elviras „Ja" war nur ein zitternder Hauch, der, kaum über die nächste Umgebung hinaus dringend, an den kahlen Steinpfeilern des Gottes hauses erstarb. Aber in Schwerdtners Innerem klang dieser Ton, dieser zerknirschte Klagelaut nach, bis der Priester seinen Segenswunsch über den verbundenen Händen des Paares vollendet hatte und eine allgemeine Bewegung den Schluß der Zeremonie begleitete. Elvira erhob fich wie ein Wachsbild, das von einem mangelhaften Mechanismus bewegt wird. Snoward dagcgen trat mit der Haltung eines Siegers vom Altar zurück, um die Gra tulationsphrasen der Umstehenden entgegenzu nehmen. Baron Ellerich sah aus wie ein von Ge wissensbissen Gefolterter, als er die Tochter in die Arme schloß und einen Kuß ans ihre marmor weiße Stirn drückte. Seine Lippen zuckten und konnten nichts von den vorbereiteten Worten hervorbringen. Die junge Ehestau stand mit gesenkten Augen da, steif und empfindungslos wie eine Puppe. Schwerdtner, der ihr nun zunächst stand und mit Schicklichkeit nicht zurücktreten konnte, machte der langsam an ihm Vorbeikommenden nur eine tiefe Verbeugung, was man als den üblichen Glückwunsch nehmen konnte. Elvira ließ fich von Bruder Guido einen flüchtigen Kuß geben und kam dann an Robert, dem sie die Hand auf die Schulter legte. Der Knabe, der die ganze Zeit über mit finsterer Miene dagestanden hatte, nickte nur wie ein un gebärdiges Kind, dem ein Gruß abgenötigt wird und wollte sich losmachen. Da sah ihn die Schwester, wie aus dem Traum erwachend, mit weitgeöffncten Augen an, begegnete seinem trotzigen wilden Blick, der nur zu klar einen stolzen Protest aussprach. Und plötzlich riß sie den Knaben an sich und drückte ihre Lippen auf seinen Lockenkopf, wobei ihr ganzer Körper unter einem mühsam zurückgedämmten Schluchzen er bebte. Sie konnte sich lange nicht trennen. „Leb' wohl, mein Junge, leb' wohl!" flüsterte sie ihm aus zerrissenem Herzen zu. „Sei mir gut und . . . und . . ." Da brach ihr vollends die Stimme. Sie konnte ihn, der nun auch weich wurde und sein thränendes Gesicht an ihre Wange schmiegte, nur immer aus Mund und Augen küssen. Schwerdtner wandle sich ab, mit starrem Auge das Gefüge der Steinfliesen neben dem Purpurteppich zu seinen Füßen prüfend. Seine Kinnladen schienen mit Eifer an einem unsicht baren Ding zu nagen. Erst als er das Geräusch der Schritte ver nahm, die ihm sagten, daß man sich allenthalben zum Aufbruch anschickte, wagte er es, sich um- zudreben. Robert zupfte ihn am Aermel. „Kommen Sie doch, Herr Doktor!" Langsam verließ der Lehrer mit seinem Schüler die Kirche, sie waren jetzt die letzten in dem gewaltigen Troß der Leute und mußten in dem letzten Wagen Platz nehmen. Der bei der Heimkehr regellos durcheinander flutende Schwarm der Gäste hatte die übrigen Equi pagen schon besetzt. Friedrich blieb schweigsam in sich versunken; man sah, seine Gedanken wandelten nicht in der Gegenwart. Roben sah aus dem Wagenfenster, in Gedanken versunken, von Zeit zu Zeit wischte er sich die Augen.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)