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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.03.1905
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1905-03-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19050307024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1905030702
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1905030702
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1905
-
Monat
1905-03
- Tag 1905-03-07
-
Monat
1905-03
-
Jahr
1905
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Be-ugS-PretS ts der Hauptexpedttio» oder drnv AuSqaks« stelle» abgrhott: vterteljübrlich 3.—, bei zweimaliger täglicher Zustellung iu« Hau« L.7Ü. Durch dl« Post bezogen für Deutsch land u. Oesterreich virrtrliLdrlich ^l 4.Ü0, für dir übrigen Länder laut Zeitunq-preislist«. Diese Nummer kostet uns alle» Bahn Häfen und III I bei den ArUnagS-verkäuferu I * Aedatttou und Expevittom 1L3 Fernsprecher LL2 Iodanniägassr 8. Haupt-Ftllatr DrrSdeu: Marirnstratze 34 (Fernsprecher Ami l Nr. 171N. , Hauvt-Ailiale Berit«: CarlDuucler.Herzg t.Bayr.Hofbuchbandlg^ Lützownrane lO l Fernsprecher Amt Vl Nr. 4603). Nr. M. Abend-Ausgabe. KjpMk TM-laü ÄmtsAatt des Ltöuigl. Land- und -es H'önigk. ÄmLsgerichles Leipzig, -es Rates «nd des Volizeiamtes der Lladt Leipzig. Dienstag den 7. März 1905. Anzeigen-PreiS die bgespaltene Pctitzeile 25 Familien- und Stellen-Anzeigen 20 ^f. Finanzielle Anzeigen, Ärfchästsanzeigen unter Text oder an besonderer Stelle nach Tarif. Die 4 gespaltene Reklamezeile 7ü^Z. Anuahmeschlufj für Aiijetgen: Abend-AuSgabe: vormittag- 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: nachmittag- 4 Uhr. Anzeigen sind stet- an die Expedition zu richten. Extra-Beilagen (nur mit der Morgen- Ausgabe) nach besonderer Vereinbarung. Die Expedition Ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abend- 7 Uhr. Druck »nd Verlag von E. Pol, in Leipzig iJnh. vr.B-R.LW. Aliakhardtl 99. Jahrgang. Var Mcbligrte vom Lage. * Durch Befehl des Zaren ist die Schidlowsky- kommt ssion geschlossen worden: durch einen zweiten Befehl hat -er Zar einen Ausschuß der staatlichen Bahnarbeiter genehmigt. (S. Len Artikel.) * Vom russischen Ausstand wird gemeldet, daß in Petersburg Streikende in die Putilowwerke eindrangen: in Sosnowice wurde das Standrecht proklamiert, in Sawierca wurden bei einem Zusammenstoß mit Militär mehrere Personen getötet. (S. den Artikel.) * Auf dem ru ssi sch e n linken Flügel und im Zentrum hat die Armee Kuropatkins auch gestern sich behauptet. (S. russ.-jap. Krieg.) Vie kinbeitliMeit See rorialen gerelrgebung. Dvaf Posadowsky hat in seiner letzten Rede über Sozialpolitik auf die Notwendigkeit hingewiesen, unsere Derficherungsgesetze zu vereinheitlichen. Die Kosten der scyialen Einrichtungen schwellen lawinenartig an, der Präsenzstand der notwendigen Beamtenarmee wächst von Jahr zu Jahr und von den Institutionen selbst kann man nur mit Uhland sagen „des Knaben Kleid war wun derbar. vielfarb zusammengeflickt". Tie Versicherungs gesetzgebung gleicht einer iener Tischdechen, die sich unsere Hausfrauen aus allerhand Läppchen zusammen- setzen. Graf Posadowsky, der beste Kenner seines Faches, erklärt dies selbst und fordert eine Reform. Man wird in allen Parteien mit ihm einverstanden sein, vor allem, so lange die Konturen dieser Reform nur wie jetzt mit feinen Strichen angedeutet werden. Später, wenn die Umrisse schärfer ausgeführt werden müssen, würden sich wahrscheinlich unzählige Amendements ergeben. Graf Posadowsky fürchtet diese nicht immer auf Sach, kenntnis basierende Besserwisserei des Parlaments und hat ausdrücklich hervorgehoben, daß nur ein Diktator das große Werk vollenden könne. Dieses Wort aber dürfte, so treffend es die Situation kennzeichnet, nicht gerade geschickt gewählt sein, wie denn überhaupt die diploma tischen Fähigkeiten dieses ausgezeichneten Mannes nicht zu der gleichen Höhe entwickelt sind, wie seine anderen Eigenschaften. Das Wort „Diktator", mag es auch auf ein so beschränktes Gebiet wie die Versicherungsgesetz gebung angewendet werden, klingt übel in den Ohren Les Monarchen, es klingt übel in den Ohren der Agra rier, die den Sozialpolitiker Posadowsky trotz aller seiner Verdienste um sie nicht als einen der Ihrigen betrachten: es klingt übel in den Ohren der Unternehmer, die eine allzu intensive Beschäftigung mit Liesen Fragen über haupt nicht wünschen und sich der uneingestandenen Hoff- nung hingeben, daß der gewaltige Apparat eines TageS in sich selbst ein endgültiges Funktionshindernis findet: es klingt übel in den Ohren der Liberalen, die nicht ge neigt sind, die Rechte des ohnehin schon durch eigene Schuld ohnmächtigen Parlamentes noch weiter schmä lern zu lassen. Endlich setzt ein derartiges Reformwerk voraus, daß uns Graf Posadowsky noch eine Reihe von Jahren erl-alten bleibt und die Garantie hierfür kann niemand übernehmen. Würde er aber aus einer so ge waltigen Aufgabe mit jener Plötzlichkeit abgerufen, die den dienstlichen Hintritt der Minister manchmal charak- terisiert, so würde ein Chaos übrig bleiben, das unsere so völlig unschöpfcrische Bureaukratie niemals wieder in einen Kosmos zu verwandeln vermöchte. Andererseits wird die gesamte öffentliche Meinung, soweit sie nicht durch Gehässigkeit verblendet ist, gern zugestehen, daß Graf Posadowsky der einzige Mann ist, dem es vielleicht gelingen dürfte, die geplante Verein, heitlichung wirklich durchzuführen. Man kann wohl sagen: Jetzt oder niel, wie ja auch Kenner versichert haben, daß die Gesetzgebung Kaiser Wilhelms I. ohne Bismarcks Riesenkraft gegen Len passiven Widerstand der Geheimräte und gegen die kurzsichtige Renitenz des Unternehmertums niemals .realisiert worden wäre. Jedenfalls war es ein Verdienst des Grafen Posadolvsky, daß er auf die Notwendigkeit einer Reform hinwies: denn jedes Jahr bringt uns rund eine Million Men schenzuwachs und so wachsen die Dimensionen der Ver sicherungseinrichtungen immer mehr ins Ungeheure. Gelingt es uns nicht, eine praktische, billige, übersicht liche Organisation für sie zu finden, so wird einmal der Tag kommen, an dem es heißt „Alle Räder stehen still," weil der Apparat zu schwerfällig zum Funktionieren qe- tvorden ist. Vie wirk in sturrlana. ScHlutz der Schidlorvsky-Asmimifsion. Nach einem Petersburger Telegramm wird amtlich bekannt gegeben: Da die BUdung einer Kommission für Arbeiterfragen unter Vorsitz des Senators Schid- Iowsky infolge der Erklärung der Arbeiter, daß sie keine Vertreter wählen werden, in dem geplanten Be stände unmöglich ist, wurde die Kommission am L. März nach einem kaiserlichen Befehl geschlossen. Bildung eine» Ausschusses der staatlichen Vahnarb««ter. Auf Grund der kaiserlichen Vollmacht hat. wie weiter ge meldet wird, der VerkehrÄminister angeordnet, daß die Arbeiter der Werkstätten und Lokomotiven depots der Staatsbah-nen Vertreter wählen sollen, durch welche die Bedürfnisse dieser Arbeiter zur Kenntnis der Vorgesetzten ge bracht werden. Vie Arbeiterbewegung in Petersburg. Eine Zeitunasdepesche meldet, daS Reskript des Za renan den Minister des Innern habe dock eine stärker« Wirkung ausgeübt, als vermutet wurde, da dadurch die Ar beiterschaft in zwei große Gruppen gespalten wurde. Die Zahl der Ausständigen ging bedeutend zurück. Die russische Nationalpropaganda gewinnt an Ausdehnung. Unter den Arbeitswilligen hört man die Polen und Juden für den Ausstand verantwort lich machen. Nach einer anderen Petersburger Mel dung drangen Aus ständige in die Putilowwerke ein. Die Angestellten wehrten sich nut Revolvern; mehrere Personen wurden verwundet. Die beiden großen Werkstätten und die Geschäfte sind geschlossen, da der Streik andauert. « Im russischen Polen. Wie die heute vorliegenden, abermals ungewissen Mel dungen aus Warschau besagen, hat der Prokurator auf direkte Weisung aus Petersburg die Vor untersuchung wegen der von der Polizei und dem Mili- tär begangenen Uebergrifse einaeleitet und durch öffent liche Bekanntmachung alle Personen, die sich geschädigt fühlen, ausgefordert, ihre Beschwerden durch Tatsachennachweis zu erhärten. Die Polizei soll neuerdings ein geheimes Waffenloser entdeckt haben. Die in den letzten Tagen verhafteten 3000 Personen sind zumeist wieder frei gelassen worden. — Der meist aus Russen bestehende Bezirksadel von Kamenietz-Podolski richtete an den Zaren eine Petition, den Polen Gleichberech- tigung zu gewähren und die gegen sie verfügten Beschränkun gen aufzuheben. Graf Syskiewitzist nach Peters burg gereist, um persönlich dem Zaren die Bitte vorzu tragen, daß an sämtlichen Unterrichtsanstalten Russisch-Polens die polnische Sprache 'als obliga torischer Lekraegenstand eingeführt werde. — Die Aktiengesellschaft Poznanski in Lodz ent ließ alle ihre Arbeiter, 660 an Zahl, und schloß die Fabrik bis auf weiteres. Im Grenzrevier. Wie heute aus Kattowitz telegraphiert wird, wurden 2000 von Dombrowa kommende Arbeiter, die die Arbeiter der Huldschinskyschen Werke zum Nieder legen der Arbeit zwmgen wollten, in Sielce vom Militär aufgehalten und vertrieben. — In Sosno- vice ist das Standrecht verkündet worden. In Sawierce fanden Zusammenstöße zwischen dem Militär und den Ausständigen statt, bei welchen drei Arbeiter getötet wurden. VerVerfasfrrngsentrvurfbes Herrn Jermolow. Der „Matin" macht angeblich authentische Angaben über den Entwurf einer russischen Verfassung, den der Staats sekretär Jermolow ousgearbeilet halte, der ober nun zu Wakier ge,>o^n 'st. Ter wichtigste Punkt war die Ein berufung von Vertretern aller Semstwos der Gouverne ments wie der Distrikte zur Aufstellung eines Versafsungs- gesetzcs. das die Selbstherrlichkeit des Zaren aufrecht halt, jedoch die dringendsten Bedürfnisse des Volkes befriedigt. Diese von der Kammer der Lemstwos beschlossenen Gesetze bedürfen der kaiserlichen Sanktion. Tas Budget des kaiserlichen Hauses sowie die Handlungen des Kaisers und aller Mitglieder der kaiserlichen Familie dürfen von der Kammer nicht diskutiert werden. Die Preßfreiheit wird eingeführt und die Zensur ab geschafft. Die Rechte und Pflichten der Studenten werden neu ge regelt. Die Eröffnung von Volksschulen in jedem Torfe ist obligatorisch. Die Kosten für den allgemeinen Unterricht werden auf alle Klassen verteilt. Die Grund- steuern werden reformiert und der Grunderwerb der Bauern erleichtert. Die direkten und in direkten Steuern und Zölle werden herab gesetzt; Arbeiterschutzgesetze zur Versicherung gegen Unfall, Krankheit und Alter werden eingesührt. Die Juden erhalten Freizügigkeit und ein erweitertes Recht, ihre Kinder in die höheren Schulen zu schicken. Di« Rechte der Juden, Finländer, Polen, Armenier usw. werden gesetzlich festgeleat. Die administrativ Verbannten er dalten die Erlaubnis Mr Rückkehr. Die absolute Freiheit d«S Gewissens wird eingesührt und die freie Reli- gionSübung für alle Konfessionen garantiert. ver turrkch.japanizcbe krieg. Heber der» russischen Ariegsrat, dessen angebliches Resultat für Kuropatkins Abberufung ge- sprachen haben soll, wird über Paris ferner gemeldet, von den in Zarskoj« Sfelo erschienenen Generalen gelte General Dragomirow als strengster Beurteiler Kuropatkins und zugleich energischer Verteidiger Gripenbergs, während der Gouverneur von Kiew, Sukomliow, den Standpunkt vertrete, man dürfe Kuropatkin nicht abberujen, müsse ihm vielmehr Gelegenheit geben, von Tieling aus den letzten enlschsidenden Vorstotz zu unternehmen. Kriegsminister Sacharow ist für die sofortige Entsendung des Grotz- fürsten Nikolaus nach der Mantschurei, gleichviel ob Kuro- patkin bleibe oder abberufen werde. Die Generale Grode. k o w und Roop, die gleichfalls am Kriegsrat teilnahmen, sind ausersehen, den Großfürsten Nikolaus zu begleiten. Die Schlacht um Mukben. Obgleich die in Regierungskreisen zirkulierenden Nach richten über die Vorgänge auf dem linken Flügel der Mantschureiarmee nach den Petersburger Meldungen widersprechend lauten, scheint doch der bereits Freitag erfolgte Durchbruch der russischen Front durch die Rückeroberung zweier Hügel nach Heranziehungdes 1. Armeekorps teilweise wieder ausgeglichen zu sein. Der Petersburger Korre- spondent des „Echo de Paris" berichtet, Kuropatkin kalte trotz der heftigen Angriffe der Japaner seine Stellung. Es frage sich jetzt nur, wer von beiden, Kuro patkin oder Oyama, über die größten Reserven ver- fügt, ein durchschlagender Erfolg sei indessen weder auf der einen, noch auf der anderen Seile wahrscheinlich, da beide Gegner erschöpft seien. Auf dem russischen sinken Flügel zählte man 7000, auf dem rechten 22000 Mann tot und verwundet. Das 10. und 8. Korps seien beinahe vollständig aufgerieben, die Verluste rm Zentrum seien noch nicht bekannt. — Auch die „Times" melden aus Petersburg: Trotz der ernsten Lage in Mukden sind die General st absoffiziere überzeugt, daß es Kuropatkin gelingen werde, seine Niederlage wieder guizu- machen. Wie verschiedene Telegramme berichten, hätten die Japaner bereits ihre gesamten Reserven ins Feld geführt. Kuropatkin werde seine gesamte Pracht nach Süden und Südwesten von Mulden werfen und versuchen, die Armee Oyamas zu über rumpeln. Das „Echo de Paris" will sogar die durch Noais Vormarsch verlorene russische Position un äußersten Westen retten und berichtet, dag die Kolonne Ger ko ffs in Hsinminting eingetroffen sei, um die Japaner, die die russische Flanke zu umgeben beabsich- tigen,zu umklammern. Man glaube, daß der Kampf sich seinem Ende nähere. Ansprache -es Saren an Seekadetten. Aus Petersburg wird unter dem heutigen Datum gemeldet: Im Palais in Zarskoje-Sselo wurden gestern 118 Seekadetten und 32 Zöglinge derMarine in g e n ie u r s ch u l e, die zu Offizieren befördert wurden, dem Kaiser vorgestellt. Dieser richtete an die Be förderten eine Ansprache, in welcher er die Mahnung aus sprach, daß besonders gegenwärtig alle sich zur Verteidi. gung der Ehre und L e s R u h an e s Rußlands zu- lammenschließen müßten. Sie sollten deshalb kerne Schicksalsschläae fürchten, den Mut nicht sinken lassen, dem Vaterland und dem Kaiser treu dienen und stets bemüht bleiben, den anaestrebten Erfolg zu erringen. Er hoffe, sie würden ihren älteren Kameraden nach eifern, die alles getan hätten, was sie konnten, und alle Kräfte aufbieten, den Ruhm der Flotte aufrecht zu erhalten. Feuilleton. Die Wehrlosen. von Charlotte Eilersgaard. Ls Autorisierte Uebersetzung von Wilhelm Thal. ' Nachdruck derdolen I Herr und Frau Helwig bewohnten eine Wohnung von vier Zimmern am äußersten Ende einer großen Provinzstadt. Es war eine von jenen Städten, die in den letzten zehn Jahren am meisten Fortschritte gemacht hatten. Häuser und Kasernen schossen auf, als wären es Akadinschlösser, und ein Handwerkergeselle nach dem andern verwandelte sich zum Meister und reichen Mann. Das Geld war billig, und pin starkes Verlangen nach Betätigung hatte den ganzen jungen Handwerker stand ergriffen. Die Entwickelung hatte fast einen amerikanischen Anstrich angenommen. Wo heute ein Grasfeld mit weidenden Kühen lag, — da stand vielleicht in drei bis vier Monaten eine an ähnliche Reihe von Häusern. Die Bürger fingen an, auf ihre Stadt stolz zu werden. Mit eigenartigem Siegesgefühl wanderten sie durch die funkelnagelneuen Straßen und betrachteten die vielen Steinhäuser, die sich alle bis auf daS Tüpfel chen ähnlich sahen. Vier vierrahmige und ein sechsrahmiges Fenster war das Gewöhnliche, und gleichzeitig war auf jedem Haus ein kleiner Balkon mit eisernem Gitter ange- bracht. Sah man die Straße herunter, so sah eS aus, als hätten alle Bewohner sich an ein und demselben Lage geeinigt, ihre eisernen Betten auszulllften. Die Spalten der Zeitungen waren voll von Annoncen von Vier-, Fünfzimmer - Wohnungen mit Balkon. Wer zur Gesellschaft gehören wollte, der mußte fast in einer solchen Wohnung Hausen. Fremde, die nach der Stadt kamen, waren über die hastige Entwicklung garnicht so begeistert. Sie fanden, die lustige, alte Stadt wäre jetzt ziemlich langweilig geworden. Sogar die Schauspielkunst verschwand nach und nach aus der großen, fortschreitenden Stadt. All die frische Malerei und der Kalkputz zwang sie zum Verschwinden. Aber dafür zog eine neue Kunstart in die Stadt ein — das Variätä. Und das gedieh großartig. All die früheren Gesellen, die jetzt die Matadore der Stadt waren und den Ton angaben, saßen gern hier. Sie saßen da, Abend für Abend, mit der Zigarre im Munde, rot und heiß im Kopf von Bier und Punsch, und erzählten lustige Geschichten. Ab und zu hörten sie auch auf zu sprechen, um sich die Artisten anzuschen. Dadurch wurden die Sinne gerade zur rechten Zeit angeregt. Machte einer der Auftrctenden besonderen Eindruck, so bekamen Frau und Töchter einen Puff, der von einem verständnisinnigen Grinsen begleitet war. Es war nämlich modern, seine Damen mit inS Dari6t6 zu nehmen. „Wir leben ja Gott sei Dank in keiner prüden Zeit", meinten sie. Und die anwesenden Dienstmädchen und Näherinnen, die jetzt die feinen Frauen der Stadt repräsentierten, bekamen hier die Nahrung, die sie verlangten Helwig gehörte insofern zur „Fortschrittsstadt" und machte die bitzige Jagd noch dem Geldverdiener, mit, als er Geschäftsführer in einer Millionenfirma war, einem alten Holzgeschäft, das sich dadurch einen Namen erworben hatte, daß es seit Jahren im Besitz derselben Familie war. Und in diesen Zeilen der Bauspekulation war es besonders dieses Geschäft, LaS den ganzen Nutzen erntete. Fast ebenso schnell wie die großen Schiffsladungen Bauholz auS Finland ankamen, fast ebenso schnell waren sie auch schon verkauft. ES ging jeden Tag viel Geld durch HelwigS Hände. Und doch waren seine eigenen Mittel und sein eigenes Geschäft recht bescheiden. Was das betraf, so gehörte er fast zu der großen Schar der Lehrer und Assistenten. Für seine verantwortungsvolle Stellung bekam Helwig 2000 Kronen jährlich, allerdings mit dem Ver sprechen, er könne bis 2500 Kronen steigen. Dabei hatte er aber doch noch eine ungewöhnlich glückliche Zlarriere gemacht, eine Karriere, von dec die ganze Stadt sprach, und auf die Frau Höegh — oder einfach die gnädige Frau, wie sie im allgemeinen mit Ehrfurcht genannt wurde — stolz war. Sie hatte ihn ja entdeckt und war die gnädige Vorsehung gewesen, die ihm später die so sehr beneidete Stellung verschaffte. Helwig hatte nämlich als Laufbursche in dem Geschäft angefangen. Und Schritt für Schritt war er bis zuni Geschäftsführer bei der reichen, angesehenen Firma ge stiegen, deren einzige Besitzerin Frau Höegh jetzt war. Tie gnädige Frau hatte ein merkwürdig feines Ver ständnis, tüchtige und ausdauernde Leute auszuspüren, und ein geradezu geniales Talent, sie vorzuziehen und — zu benutzen. Und mit dem angeborenen Sparsam keitssinn der Frauen verstand sie es, den kleinen Staat von tüchtigen Leuten, von denen ihr Geschäft nach und nach bedient wurde, mit der Ehre und möglichst wenig Gehalt abzuspeiscn. Es waren recht artige Summen, die die kluge, gnädige Frau dadurch sparte, Summen, die sie später willig auf dem öffentlichen Altar der Wohltätigkeit opferte. Denn es war ja keineswegs ihre Absicht, bei dieser Ersparnis selbst zu verdienen. Sie wollte ihr respektables und tüchtiges Personal nur von vorn- herein mit noch einer Lugend bereichern, — der Genüg samkeit. Und diese Tugend lernten Helwig und seine Familie in oll den Jahren bis zur größten Vollkommenheit. Helwig hatte nämlich nicht immer den berauschenden Lohn von LV00 Kronen erhoben. Er fing seine Ehe mit bedeutend weniger an. Im erstcn Augenblick war cS der gnädigen Frau auch gar nicht angenehm gewesen, daß Helwig sich ver heiratete. Aber schlau, wie sie war, entdeckte sie bald die vorteilhafte Seite der Sache. Ein verheirateter Mann war viel stärker an das Geschäft gefesselt als ein unverheirateter. Er würde sich sicher zweimal be- sinnen, bevor er seine feste und sichere Stelle aufgab. Und künftig war sie immer sehr gnädig, wenn sie ihren Angestellten die Erlaubnis zur Verheiratung gab. II. Frau Höegh hielt sich nur einige wenige Sommer monate in der Provinzstadt auf. Ten übrigen Teil des Jahres verbrachte sie auf Reisen im Auslande oder in der Hauptstadt. In der Provinzstadt hatte sich die gnädige Frau eine schlotzähnliche Villa bauen lassen, wo sie, wie die Bürger sagten, an schönen Sommertagen Hof hielt. Tie gnädige Frau umgab sich nicht mit der Be völkerung der Provinzstadt. Sie bekamen nur aller gnädigste Erlaubnis, die Millionenkasse mitfüllen zu helfen und durften so den Glanz des kleinen Hofes auf der Villa erhöhen. Tie Bürger bekamen auch Erlaubnis, die Häupter zu entblößen, wenn die gnädige Frau mit ihrem Landauer durch die Straßen der Stadt fuhr, oder wenn sie am Sonntag in der Kirche dem lieben Gott einen Besuch abstattete. Das wurde an keinem einzigen Feiertag verabsäumt. Kurz nach dem Beginn des Gottesdienstes genossen die Kirchenbesucher eine kurze Minute den Anblick der hohen, schwarzen, königlichen Gestalt, die schnell in dem verschlossenen Stuhl verschwand. Kurz vor Schluß des Gottesdienstes glitt die schwarze Dame wieder hinaus in den vor der Tür wartenden Wagen Die Bürger konnten ungestört den letzten Psalm singen. Sobald die gnädige Fmu mit der ersten, warmen und dauerhaften Sommersonne stch auf „HoeghSltsst"
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