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Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Redaktioneller Teil. 36, 14. Februar 1916. Viele schöne Fabeln, die Gellert uns hinterlassen, sind heute noch im Munde des Volkes. Den breit angelegten und aus den Tiefen schöpfenden Vor trag des Herrn vr. Fritz Wehrend, Archivars der Deutschen Kom mission unserer Akademie der Wissenschaften, umrahmten stim mungsvoll die mit Meisterschaft durch die Konzertfängerin Cläre Huth vorgetragenen Beethovenschcn Kompositionen Gellertscher geistlicher Lieder. Gellert und der Krieg, so lautete das Thema dieses Vor trages. So paradox es klingen mag, seine Berechtigung trat klar und klarer hervor. Es wurde das Zwiespältige dieser deutschen Männer aus dem 18. Jahrhundert gezeigt, die ibre Deutschen erst in die Schule der Ausländer schicken mutzten, während sie den deutschen Kern als etwas Echtes, Wertvolleres erkannten. Das Schiefe, das die Politik vollends in ihre deutsche Gesinnung dringen mutzte, wurde aufgezeigt. Wie scharf Gellert sich als Sachse fühlte und äußerte im Gegensatz zu Lcssing - , ergab die richtige Deutung einiger seiner Fabeln. Der sonst so Furcht- saure schietzt Brandpfcilc gegen Friedrich den Großen ab Die Theorie Gellerts über den Krieg zu erkennen, wird da durch erschwert, daß er sich in seinen »Moralischen Vorlesungen« über diese Frage ausgeschwiegen hat. Aus den theoretischen Schriften nahestehender Männer, wie Gottscheds und Crusius', denen Gellert ausdrücklich beipflichtet, ergibt sich, daß er einen aus billigen Gründen unternommenen Angriffs- und Verteidigungs krieg als gerecht vor Gott und den Menschen empfand. Ein Anti militarist war dieser Friedensfreund nicht. Um das rechte Verständnis für Gellert und seine Gesinnungs genossen in der Frage des Staates und des Krieges zu erwecken, faßte der Vortragende die drei Jahrhunderte von 1500—1800 als ein einheitliches Gebäude auf, als dessen Eckpfeiler er Luther und Kant bezeichnete. Ihre Meinungen knapp darstellend, hob er das beide Verbindende und Trennende hervor. Kant steht fest auf dieser Erde, die Lebensarbeit und ihre Triebkräfte sind ihm trotz aller menschlichen Gebrechlichkeit das Wertvolle, für Luther ist das Leben nur ein Auftakt zu einein künftigen, nie endenden Lied. Gellert steht mit seiner Moral Luther näher als Kant. Mit beiden aber hat er die Pflichtenlehre hochgehalten. Männischen, temperamentvollen Naturen — es sei denn durch den Gegensatz — vermochte und vermag Gellert nicht viel zu geben; seiner Empfindende werden ihm gern lauschen, ihm, der in der Not sich selbst zum Trost sprach: »Genug, der Herr re giert die Welt und lebt«. Diesem mit großem Beifall aufgenommenen Vortrage folg ten wieder Gesänge von Cläre Huth, die Julius Dahlke be- gleitete, und ein weiterer Vortrag von vr. Wehrend: Gellert und di« Bibliophilen. Nachdem vr. Behrcnd ein Lügenmärchen vocgetragen hatte, indem er vorgab, in seinem Besitz ein« Gellertsche Niederschrift zu seinen literarischen Übungen zu haben — auch Studiosus Wolf gang Goethe tauchte im Hintergründe auf, durch eine etwas zopfige Belobigung mehr verärgert, als erbaut —, trug Käthe Lessing mit heiterer Natürlichkeit und Anmut eine Reihe Gellert scher Fabeln vor. Den Abschluß bildeten einige wiederum von Cläre Huth vorgetragene Berliner Kompositionen alter Zeit, über deren ungenannte Komponisten, denen das Kapriziöse mehr als das Natürliche der vertonten Gellertschen Verse lag, die Meinungen auseinandergingcn. Von dem jungen Konrponisten Julius Dahlke, der in Feldgrau gekleidet war, begleitet, wußte Cläre Huth doch das Graziös-Spiclende des neckischen Jung gesellen vortrefflich herauszuarbeiten. Den Vorträgen schloß sich eine längere Diskussion der Mit glieder an, die bewies, eine wie tiefe Wirkung Wort und Lied auf die Zuhörer ausgeübt hatten. Die nächste Sitzung wird am 7. Februar stattfinden, in der R. L. Prager «inen Vortrag:»KleineBücherundmikro- skopische Drucke« zu halten gedenkt. In der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jahr gang 71, 1915, Heft 4 befindet sich eine Abhandlung von vr. Erich Schairer über »Städtische Jnseratenblätter«, die 162 ich der Aufmerksamkeit des Verlagsbuchhandels innerhalb und außerhalb Berlins dringend empfehle. Der Verfasser gibt eine Geschichte der städtischen Anzeigeblätter und verfolgt, inwieweit sie die Tendenz aufweisen, neben den amtlichen Veröffentlichun gen auch private Anzeigen auszunehmen. Scharrer weist nach, daß die Blätter für die Gemeinden meistens recht kostspielige Unternehmungen sind, und daß es sich daraus unschwer erklärt, daß die Behörden versuchen, diese Aus gaben durch Einnahmen aus Inseraten wett zu machen und sic womöglich zu einer Einnahmequelle zu gestalten. Ich kann an dieser Stelle auf diesen Aufsatz nicht näher ein- gehen, weise aber auf die Gefahr hin, die in dem Bestreben dieser Anzeigeblätter, auch Privatinserate zu gewinnen, für Zeitungs Verlag und Verlagsbuchhandel liegt. In einem meiner früheren Briefe habe ich melancholische Betrachtungen darüber angestellt, wie gut es andere Geschäfts- zweige haben, die Not der Zeit auf ihre Abnehmer abzuwälzen. Ich habe die Frage gestellt, ob denn der Buchhandel einzig und allein die Lasten auf sich nehmen will, ohne zu versuchen, sich einen Ersatz dafür zu schaffen. Aber da stand drohend der heilige La denpreis, der Fetisch, den wir ja alle anbeten, obwohl sein Nim bus längst dahin ist, nachdem von allen Seiten an ihm gerüttelt worden ist. Nun kommt mir die Faktur eines Berliner Verlegers vor die Augen, der, freilich noch schüchtern, versucht hat. den gordischen Knoten zu durchhauen. Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit, um die Lieferung einer Einbanddecke, die im Ladenpreis 1 und netto bar 90 ^ kostet. Aus diese 90 hat der Verleger 10°/» Teuerungszuschlag mit 10 -k geschla gen, so daß der wirklich zu zahlende Nettopreis ohne die Spesen des Sortimenters 1 beträgt. Der Sortimenter ist also ge zwungen, mit einem Aufschlag auf diesen Nettopreis zu verkaufen, also ebenfalls einen Teuerungszuschlag zu berechnen, will er nicht nur seine Spesen «inbringen, sondern auch noch etwas ver dienen. Daß es sich nur um eine Bagatelle handelt, kann nicht ausschlaggebend sein. Wann werden die Sortimenter diesem kühnen Führer folgen und auch ihrerseits Aufschläge aus den Ladenpreis machen, wenn sie bei der Erhöhung aller Unkosten und dem verringerten Absatz (vergleiche meine Äußerungen über die Brauereien in einem der letzten Briefe) den Krieg überdauern wollen? Am 26. Januar hat Adolf Wagner, der berühmte Ber liner Volkswirt, Abschied von dem Katheder genommen. Leicht ist es ihm gewiß nicht geworden, dem Alter diesen Tribut zu zollen, umsomehr, als der Vortragende nichts weniger als den Eindruck eines Greises machte. Sein Vortrag war genau so kräftig, genau so durchdacht und jeden Umstand erwägend wie in seinen besten Zeiten. Wer die Vorlesungen dieses gefeierten Mannes besucht hat, wird sich des Eindruckes dieser starken Per sönlichkeit nicht haben entziehen können. Schon die abwägendc Art, die auch der gegnerischen Ansicht gerecht wurde und alles vor brachte, was zu ihren Gunsten sprach, hinterlietz das Gefühl, daß der Vortragende nur der Wahrheit dienen wollte und zugleich bestrebt war, seine Zuhörer in den Stand zu setze», die Wahrheit selbst zu erkennen. Obwohl Wagner keine Schule im gewöhn lichen Sinne des Wortes gegründet hat, so hat er doch einen außerordentlichen Einfluß auf die gesamte studierende Jugend ausgeübt, da nicht nur Nationalökonomen von Fach seine Vor lesungen besuchten, sondern auch die Hörer der andern Fakultäten, soweit sie die Wichtigkeit wirtschaftlicher Zusammenhänge zu er kennen bestrebt waren. Und nicht nur auf das Inland erstreckte sich sein Einfluß. Auch die ausländischen Studenten, die ja im Frieden, von dem uns nunmehr schon eine so unendlich lange Spanne Zeit trennt, zahlreich die Hörsäle der Berliner Univer sität füllten, nahmen Gelegenheit, von dem Wissen und Können des Meisters Nutzen zu ziehen. Als vor mehr als einem Jahrzehnt Adolf Wagner seinen 70. Geburtstag feierte, hatten seine damaligen und früheren Hörer einen Kommers veranstaltet, an dem die verschiedenen Nationali-