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Bubenstreiches beschuldige; er selber aber werde nie und nimmer an Mr. Redruths Schuld glauben. Meine Ucberzeugung stand unerschütterlich fest; um aber völlige Gewißheit zu erlangen, beschloß ich, mich ins Herrenhaus zu begeben, um dort in Erfahrung zu bringen, ob Georg Redruth abwesend war oder nicht. Der Onkel begleitete mich. Im Herrenhäuse angekommen, hieß man uns im Vorzimmer warten. Fünf Minuten später stand Georg Redruth vor uns. Ich war meiner Sache so gewiß gewesen — jetzt nahm mir sein Erscheinen im ersten Augenblick die Sprache. Onkel Tom warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und schwieg gleichfalls. Der junge Master — niemand in St. Gurlott dachte daran, ihn anders als „der junge Master" zu nennen, obgleich die Grube nicht mehr sein ausschließliches Eigentum war — schien unmittel bar von der Tafel zu kommen; er befand sich im Gesellschafts-An züge und war in bester Stimmung. „Nun?" sagte er, mit einem gewissen Wohlwollen von einem zum andern blickend und dabei mit dem Zahnstocher spielend. „Was gibts denn? Kann ich etwas für Sie thun?" „Master Georg," versetzte mein Onkel ernst, „wir sind in schwerer Sorge." „O, das thut mir ja recht leid!" „Ich wußte, daß Sie Mitgefühl haben würden, Master Ge org," fuhr der Onkel fort, „wenn die Sache Tie auch nichts angeht. Master Georg, meine Tochter, meine Anna ist mir davongelaufen." „Nicht möglich!" rief der andere. „Ihre Anna ist Ihnen davou- gelnuscu? Habe ich recht verstanden?" Onkel Tom nickte. „Das erkläre sich, wer kann! Aber wa rum kommen Sie da zu mir? Was soll ich dazu thun?" „Nichts, Master Ge org ; Sie tonnen nichts dazu thun," erwiderte der arme Mann. „Das isls eben." Die Lage war für alle Beteiligten Pein lich, und jeder empfand das. Der Onkel drehte seinen Hut un aufhörlich in den Händen rund; der junge Herr stand augen scheinlich wie auf Kohlen und fühlte sich von Minute zu Minute unbehaglicher. Eine Erklärung war nötig, und ich gab dieselbe. „Das Unglück ist durch einen gewissenlosen Schurken herbei geführt worden; es liegt uns daher daran, diesen Schurken auf zufinden." „Und deswegen kommen Sie zu mir! Als ob ich ein Polizist wäre! Ich verstehe Sie wirklich nicht, und überdies habe ich auch keine Zeit mehr." Damit öffnete er die Thüre. Wir sahen ein, daß wir hier nichts mehr zu verlieren hatten und entfernten uns. Während des Heimganges redete der Onkel kein Wort. Zu Hause angclangt sank er auf die Kaminbank nieder und verbarg das Gesicht in den Händen. Die ganze Nacht hindurch hörte ich den Onkel in seinem Zimmer unruhig hin und her schreiten, und kaum graute der Tag, da fand er sich schon in der Küche ein, um Feuer anzu- machcu. Eine große Veränderung war mit ihm vorgegangen; das Herz blutete mir, als ich ihn betrachtete. Er war über Nacht ein alter, müder Greis geworden; tiefe Furchen zeigten sich auf Stirn und Wangen, die Augen hatten all ihre Lebhaftigkeit ver loren, und das vorher bereits stark ergraut gewesene Haar war fast weiß geworden. Ich brachte das Gespräch auf Anna und erbot mich, ihr nach zureisen und sie zurückzubringen. Er aber schüttelte langsam und traurig den Kopf. „Laß das, mein Sohn, Sie hat uns acis freiem Willen ver lassen, vielleicht kommt sie eines Tages auch aus freiem Willen zu uns zurück. Wir wollen geduldig warten." Ich sah ein, daß er recht hatte; es war besser, wenn wir ab warteten. Wir waren nur arme Loute; aber selbst, wenn wir Mittel genug zur Verfügung gehabt hätten, so würde uns das Aufsuchen der Entflohenen doch noch Schwierigkeiten genug bereitet haben. Wir bemühten uns daher, unser Leben in der gewohnten Weise sort- zusetzen. Das gelang uns aber nicht. Alles im Hause war anders, so ganz anders gewor den, und immer haste ten unsere Augen auf dem einen unbesetzten Stuhl. Eine Woche verging, eine öde, traurige Woche. Dann traf ein Brief von Anna ein, der den Londoner Poststempel trug. Der Vries lautete: „Geliebte Eltern! Grämt Euch nicht um mich, denn ich befinde mich wohl und leide keinen Mangel. Versucht auch nicht, mich auf- zufindcn, das würde vergeblich sein; bald komme ich wieder zu Euch, und dann sollt Ihr erfahren, aus welchem Grun de ich Euch so heimlich verlassen mußte. Glaubt mir, es thut mir innig weh, daß ich Euch Sorgen und Un ruhe bereitet habe; aber ich hoffe, daß Ihr mir verzeihen werdet, um der glücklichen Zeiten willen, die wir mit einander verlebt haben. In steter Liebe Eure Tochter Anna." Tante Martha hatte das Schreiben laut vorgelesen. Als sie schwieg, nahm ihr Mann ihr dasselbe aus der Hand, betrachtete es lange Ivie geistesabwesend und legte es dann auf die glimmenden Kohlen des Herdscüers. Starren, trockenen Auges betrachtete er, wie es in Flammen aufloderte und verzehrt wurde. Von da an erwähnte er eine lange Zeit hindurch der Tochter mit keinem Worte mehr; von Tag zu Tag aber sank er mehr und mehr in sich zusammen, wie jemand, dem ein schweres inneres Leiden am Leben frißt. (Fortsetzung folgt.) Wein Sohn kommt! Nach dem Gemälde von Frz. Schmid-Breitenbach. 47*