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VoMische Rundschau. Deutschland. *Am Montag morgen nahm der Kaiser die Vorträge des Chefs des Zivilkabinetts, des kommandierenden Admirals, des Staatssekretärs des Reichs - Marineamts und des Chefs des Marinekabinetts entgegen und empfing die Meldung des neuernannten Justizministers. *An der Beisetzung der Leiche des verstor benen Erbgroßherzogs vonSachsen- Weimar, die am Donnerstag in Weimar stattfindet, werden der Kaiser, der König von Sachsen und viele andere Fürsten teilnehmen. *Der Verkehr zwischen den Regierungen der süddeutschen Bundesstaaten, der durch die Einrichtung eines badischen Gesandt schaftspostens in München soeben erst eine außerordentliche Förderung erfahren hat, gestaltet sich immer intimer. Der württembergische Minister präsident Frhr. v. Mittnacht hat sich am Freitag nach Karlsruhe begeben und eine längere Unter redung mit dem Großherzog von Baden gehabt. Ueber die Veranlassung zu dieser ungewöhnlichen persönlichen Rücksprache verlautet nichts. Der Vorgang dürfte aber nicht unbeachtet bleiben. * Fürstin Bismarck ist in Varzin am Dienstag früh 5 Uhr gestorben. * Die Tabaksteuer-Vorlage ist den .Berl. Pol. Nachr/ zufolge soweit vorbereitet, daß sie in nächster Zeit wird an den Bundes rat gebracht werden können. *Wic sehr die deutsche Hochsee fischerei in den letzten Jahren zuge- nommeu Hal, geht aus den Zahlen hervor, die über die deutschen Fischerfahrzeuge veröffentlicht werden, die in der Nordsee außerhalb der Küsten- gcwässer Fischerei treiben. Danach gab es am 1. Januar 1885 solcher Fahrzeuge 377, darunter einen Dampfer, mit 30 675 Kubikmeter Brutto- Raumgehalt und 1327 Mann Besatzung und am 1. Januar 1894 456 Fahrzeuge, darunter 64 Dampfschiffe nist 56 690 Kubikmeter Brutto- Ranmgchalt und 2104 Mann Besatzung *Von den Veteranen aus den Be freiungskriegen 1813—1815 sind jetzt noch, wie aus der .Parole' zu ersehen, 29 am Leben, von denen 2 ein Alter von 103 Jahren, l von 102 Jahren, 1 von 101 Jahren, 7 von 100 Jahren, 10 von 99 Jahren, 3 von 98 Jahren, 2 von 97 Jahren haben, während das Aller von dreien unbekannt ist. Die beiden Aelresten (1791 geboren) sind: Johann Höft in Neuhof (Pommern) und Franz Marotzka in Schwartowke (Pommern). Oesterreich-Ungarn. * Der ungarische Ministerprä - srdent Wekerle ist am Sonntag zweimal vom Kaiser in Audienz empfangen worden. Am Nachmittag wurde er abermals in halbstündiger Konferenz empfangen und reiste sodann um 4 Uhr wieder nach Budapest zurück. Ueber die Entscheidung des Kaisers verlautet noch nichts; man weist nicht, ob der Kaiser die kirchenpoliti schen Gesetze genehmigen oder ob das Mini- sterium Wekerle vom Amte zurücktreten wird. * Franz Kossuth legte am Montag in die Hand des Oberbürgermeisters von Budapest den Untertbaneneid ab, in dem er dem König von Ungarn Treue gelobte. Frankreich. * Die französische Deputiertenkammer hat am Montag die Kredite für Madagaskar mit 377 gegen 163 Stimmen bewilligt. Gegenüber dem Verlangen mehrerer Redner, daß die zu entsendenden Truppen nur aus Marine-Infanterie und Fremdenlegion genommen werden sollen, um den Bestand des stehenden Heeres nicht zu schwächen, wies Kriegsminister Mercier nach, Frankreich habe gegenwärtig unter den Fahnen 570 000 Diann, darunter 335 000 ausgebildete, von diesen könnten ohne Nachteil 8000 Diann genommen werden oder man könnte je eine Kompanie per Armeekorps nehmen; dabei würden nur Freiwillige genommen werden. Holland. *Nach einer amtlichen Meldung aus Lom bok haben sich sämtliche Hauptchefs der Balinesin, mit Ausnahme von zwei Verwandten des Radscha, unterworfen. Die Bevölkerung hat die Waffen ausgeliefert. Damit ist der Auf stand endgültig niedergedrückt. Rußland. * Am Montag hat die Vermählung des Zaren Nikolaus mit der Prinzessin Alix staltgefunden. Die Fahrt des Brautpaares zur Kirche führte zu großartigen herzlichen Kund gebungen des Volkes. Angesichts der nach Hunderttauscnden zählenden Menge wären Ab sperrungsmaßregeln sicher zwecklos gewesen. Es waren keinerlei Truppenspaliere aufgestellt. Der kaiserliche Wagen hatte nicht einmal eine Eskorte. Die Menge umdrüngte jubelnd den prächtigen Galawagen, dessen vier Pferde, von Stallbeamten am Zaume gelenkt, kaum im stände waren, ihre Bahn zu finden. Wunderbar ist es, daß keinerlei Unfall passierte. Einige Gendarmen, die vor und hinter dem Wagen ritten, hatten alle Mühe, sich nicht vom Wagen abdrängen zu lassen. *Ein anläßlich der Vermählung des Kaisers erlassenes, vom 26. d. datiertes Manifest gewährt im Gnadenwege Erleichte rungen bezüglich der Zahlung verschiedener Schulden an die Krone, der Tilgung von Kron darlehen, der Zahlung von Zinsen; dasselbe erläßt mehrere Steuerrückstände, die Beitreibung etlicher, der Krone verursachter Schäden, die Er hebung verschiedener Geldstrafen und Nach rechnungen; ferner mildert oder verkürzt das Manifest wegen - Kriminal - Verbrechen erfolgte Verurteilungen zu Gefängnis und Festungshaft, zu Stellung unter Polizeiaufsicht, zu Deportation und Zwangsarbeit. Bezüglich der Staatsver brecher, die Nachsicht verdienen, soll der Minister des Innern dem Kaiser Vortrag halten. Staats verbrechen, die 15 Jahre unaufgedcckt geblieben sind, werden der Vergessenheit übergeben. Den Personen, die wegen der Teilnahme an dem polnischen Aufstande 1863 unter Strafe stehen, wird gestattet, sich überall im Reiche aufzuhalten unter Wiederherstellung ihrer Geburtsrechte; Eigentumsrechte, durch Dienst erworbene Rechte, Rang und Orden werden denselben nicht zurück- verliebcn *Wie mehrere Blätter melden, hat Zar z Nikolaus die Mini st er empfangen ! und sich gegen alle, insbesondere aber gegen den i Finanzministcr Witte, sehr freundlich geäußert, i Herr von Giers benutzte den Anlaß, daß ihm der Zar die Hoffnung aussprach, der treue Diener möge seine Kräfte noch lange dem Vater- laud widmen können, zu der Entgegnung: „Sehen denn Euer Majestät nicht, daß mich meine Füße kaum mehr tragen können?" Der Zar erwiderte: „Ich brauche auch garnicht Ihre Füße, sondern Ihren Kopf." Auch dem Minister des Innern Durnows sprach er den Wunsch aus, noch lange seiner Dienste genießen zu können. * Die russische Oberpreßverwaltung hat allen Blättern aufs strengste untersagt, noch fernerhin Einzelheiten über die Krankheit des ver - storbenen Zaren zu berichten. Man bringt in Petersburg diese Maßregel in Verbindung mit einem Briefe, welchen Sacharjin an ein dortiges Blatt richtete und worin er eine aus führliche Darstellung der Todesursache gab. * Generalgouverneur Gurko wird auf seinen Posten in Warschau nicht mehr zurückkehren. Er reist von Petersburg direkt nach Berlin zu Professor Leyden, sodann nach Nizza, wo er eine Villa gemietet hat. Als Nachfolger Gurkos wird der Großfürst Konstantin Konstan- tinowitsch genannt. Asien. *Die am Freitag erfolgte Einnahme von Port Arthur durch die Japaner macht diesen den Weg nach Peking frei. An dem Kampfe beteiligten sich 15 000 Japaner und 18 000 Chinesen. Der Verlust dec Japaner wird auf 200 Tote und Verwundete, derjenige der Chinesen auf 2000 Tote angegeben. Das Gros der chinesischen Armee entkam. — Auch von japanischer Seite wird bestätigt, daß die Chinesen bei Port Arthur tapfer gefochten hätten. Eine große Dienge von Kanonen, Munition und anderem Kriegsmaterial wurde erbeutet. * Die japanische Regierung hat die Erklärung abgegeben, sie würde, falls C h in a Friedens vorschläge mache, die guten Dienste der Ver. Staaten von Amerika annehmen. *Zu dem Thema der Annäherung zwischen England und Rußland be richtet die,Köln. Ztg.', daß, als die russische Abteilung, die auf den Pamirs operiert hat, am 28. Oktober nach Fort Osch zurückkehrte und dort festlich empfangen wurde, an dem den Offi zieren gegebenen Festmahl, auf deren besonderen Wunsch auch Major Waters, der militärische Attache bei der englischen Botschaft in Peters burg, der jetzt Mittelasien bereist und in Fort Osch tags zuvor eingetroffen war, teilnahm. Ein Hoch auf die Königin Viktoria wurde ausgebracht, worauf der Major mit gleicher Wärme den Zaren (d. h. noch Alexander III.!) hochleben ließ. Ron Uah und Fern. Begnadigung. Nicht nur der preußische Gesandte in Hamburg, Kiderlen-Wächter, sondern auch sein Gegner im Duell, der Kladderadatsch- Redakteur Polstorf, welche beide wegen Zwei kampf zu Festungshaft verurteilt waren, sind vom Kaiser begnadigt worden. Einer Lebensgefahr entronnen ist der Staatssekretär v. Stephan. Als der Blitzzug Berlin—Köln dieser Tage in der Nähe von Magdeburg angekommen war, fiel plötzlich ein Schuß und eine volle Schrotladung drang von außen in ein Koupee, in welchem sich Herr v. Stephan befand. Er blieb glücklicherweise unverletzt und dankt dies dem Umstande, daß er sich zum Schlafen umgelegt hatte. Ein Attentat ist unwahrscheinlich, es handelt sich vielmehr wohl nur um den verirrten Schuß eines unvor sichtigen Jägers. Kaffee aus Deutsch-Ostafrika. Dieser Tage sind hier die ersten größeren Kaffeeproben aus Usambara in Dentsch-Ostafrika eingetroffen. Nach dem Urteil von Kennern sind dieselben vortrefflich ausgefallen und ähneln in Wohl geschmack dem Javakaffee. Einer der sich versteckt. In Meerane wurde dieser Tage ein Kellner wegen Führung falscher Ausweispapiere eine Woche eingesteckt. Bei der gerichtlichen Untersuchung wurde nun nicht nur der wirkliche Name des Misscthäters, sondern auch festgestcllt, daß derselbe schon seit Jahren vom Amtsgericht Dresden gesucht wird, das' ihm als Hinterlassenschaft einer Tante 37000 Mk. auszuhändigen hat. In der Nähe des Unglücksbrunnens zu Schneidemühl wird bereits mit dem Aufbau der beschädigten Häuser begonnen. Vorläufig sind dort vier Neubauten in Aussicht genommen. An Stelle der früheren kleinen Gebäude werden prächtige Häuser entstehen mit Geschäftsläden und besseren Wohnungen. Ein Pferdebahnwagen ist am Sonntag abend in Magdeburg - Sudenburg durch einen Eisenbahnzug zertrümmert worden. Die Eisen bahn-Direktion Magdeburg meldet darüber: Sonntag abend wurde durch den Verbindungszug Sudenburg-Buckau auf dem nicht geschlossenen Uebergang des Breitenweges in Sudenburg- Magdeburg ein Pferdebahnwagen erfaßt und zertrümmert. Von den Insassen des Pferdebahn wagens wurde einer getötet, ein anderer ist schwer und viele leicht verletzt, auch das Pferd ist verletzt. Das Fahrpersonal des Zuges und des Pferdebahnwagens ist nicht verletzt. Die Untersuchung ist sofort eingeleitet und der Ueber- wegs-Wärter vom Warterdienst zurückgezogen worden. Eine interessante Entdeckung, daß näm lich die Kirche von Reppichau noch heute die fast verloren geglaubte Glocke des Schöffen Eike von Repgow, des berühmten Verfassers des Sachsen spiegels, besitzt, hat der Hofprediger Schubert- Ballenstedt gemacht'. Sie stammt aus der Zeit um das Jahr 1230, hat eine Höhe von 74 Zenti meter und einen Durchmesser von 80 Zentimeter. Ihre Inschrift (in lateinischer Sprache) lautet: „Gott segne diese Glocke, das Volk sei wohlauf, die Luft gedeihlich." Die beiden anderen Glocken in der genannten Kirche haben gleichfalls ein hohes Alter; sie stammen aus der Zeit zwischen 1300 und 1350. Zu dem Ueberfall eines Geldbriefträgers in Breslau wird berichtet: Der verhaftete Atten täter, der obdachlose Dialer Teichert, überfiel sein Opfer auf einer dunklen Treppe und brachte ihm einen Messerstich unter dem Auge und einen zweiten an der Hand bei. Der Ueberfallene schrie laut um Hilfe und hielt seine Geldtasche sest. Herbeieilende Hausbewohner veranlaßten die Festnahme des stechen Räubers. Die Ver letzungen, die der Beamte davontrug, sind glück licherweise nicht lebensgefährlich, er dürfte bald wieder hergestellt sein. Unglück auf der Jagd. In der Nähe des Dorfes Seibersbach wurde ein 37 jähriger Landwirt von dort, Vater von fünf Kindern, bei einer Treibjagd von einem in der Nähe stehen den Schützen erschossen. Letzterer erklärt, sein Gewehr sei aus Versehen losgegangen. Aus der badifmen Bevölkerungsstatistik dürste das rasche Wachstum der fünf größten Städte von allgemeinem Interesse sein. Mann heim, das 1873 nur 39 000 Einwohner zählte, ist bis Ende 1892 auf 79 000 gestiegen, Karls ruhe im gleichen Zeiträume von 36 000 auf 73 000, Freiburg von 24 000 auf 48 000, Heidel berg von 20 000 auf 32 000 nnd Pforzheim von 19 800 auf 30 000. Ein heistblütiger Liebhaber. Am 25. d abends gegen 10 Uhr kam ein Unterkanonicr Ignaz Kölbl in die Kaffeeschänke der Theresia Zemann in Wien, trank dort ein Gläschen Kognak, dann ging er zur Kassiererin Theresia Wurzinger und stellte ihr den Antrag, mit ihm ein Liebesverhältnis einzugehen. Das 25jährige Mädchen gab ihm ausweichende Antworten und erklärte, seinem Wunsche nicht entsprechen zu können. Daraufhin zog Kölbl, ohne ein Wort zu sprechen, sein Bajonett und brachte mit dem selben der Kassiererin drei Stiche gegen Brust und Unterleib bei. Unter Rücklassung der Waffe uBd der Mütze floh er sodann, hat sich aber nachher seinem Truppenkörper selbst gestellt und wurde in Haft genommen. Seine Liebesglut wird im Arrest die nötige Abkühlung finden. Verbrannte Fahne. Der Oberst eines Regiments soll laut den militärischen Reglements die Fahne seines Regiments bei sich aufbcwahrcn. Nun wohnt aber der Oberst des in Marseille garnisonierenden 61. Regimenls in einem Gast hof, welchen Ort er für die Trophäe nicht passend hielt, trotzdem er die militärische Schild wache beibehalten hat. Die Fahne gab er einem seiner Hauptleute zur Verwahrung, der sein Empfangszimmer damit ausschmückte und sie über dem Kamin aufhängte. Dieser Tage zündete das Dienstmädchen Feuer im Kamin an und cs ging durch einen unglücklichen Vorfall die Fahne mit in Flammen auf. Dieselbe trug die Inschriften von Helopolis 1800, Wagram 1809, Sebastopol 1854—55, Solferino 1859. Eine Untersuchung ist eingeleitet. Dast ein Eisenbahnzug im — LeberthraN stecken geblieben ist, möchte man kaum W möglich halten. Und doch ereignete sich kürzlich auf einer französischen Eisenbahnlinie ein solcher Unfall. Die Ursache hiervon war ein Faß Leber- thran, das im letzten Wagen eines Güterzuges während der Fahrt auf irgend eine Weise ein kleines Loch erhielt, durch das sein Inhalt aus floß und durch eine Ritze im Boden des Wagens gerade auf die eine Schiene des Geleises fiel. Da nun Lebcrthran eine dickflüssige Masse ist, so bildete der auf die Schienenstrecke geflossene Inhalt gewissermaßen einen einzigen langen Faden. Kurz hierauf passierte dasselbe Geleise ein Personenzng. Nur mit größter Mühe konnte dieser anfänglich seine Fahrt fortsetzen, doch als derselbe dann eine ziemlich starke Steigung za überwinden hatte, konnte ernichtweiter. Maschinen- und Zugpersonal stiegen aus und nun entdeckte man endlich die Ursache des Unfalls. Es blieb nichts anderes übrig, als fortwährend Sand auf den betreffenden Schicnenstrang zu werfen, und so kam man dann glücklich bis zur nächsten Station. Eine gewaltige Explosion, die den Glau ben an ein anarchistisches Verbrechen erweckte, versetzte am Freitag nachmittag das Pariser Stadtviertel la Chapelle in Auflegung. Ein junges Mädchen sichtete in einer „Produkten handlung" Lumpen und sand eine fest vel- Aie rechte Kave. tAorrieylMg., „Dein Vater zählt ein paar Jahre weniger als ich und war stets der Kräftigere," tröstete Reimarus, obschon er ihre Besorgnis heimlich teilte. Dann reichte er ihr mit warmem Blick beide Hände. „Allein stehst du nicht, so lange ich lebe, Inez. Hattest du deinen alten Onkel so ganz vergessen in diesem Kummer?" Sie streichelte liebevoll seine welke Rechte. „Verzeih, ich weiß, daß du mich lieb hast." „Und doch nicht in welchem Maße. Wirst du lachen, wenn ich dir sage, daß du das ganze Glück meiner Tage bist ?" sagte er seltsam erregt. „Und deine Bücher, Onkel, sie füllten doch so völlig dein friedliches Leben aus," entgegnete sie beklommen. „Nein, Schallen sind sie, wesenlose Schatten, und ihnen habe ich ein ganzes Dasein geopfert auf Kosten meines Menschtums. Nicht sie allein, sondern der lebendige Mensch mit seinen Fehlern und Schwächen, seinem Empfinden, Denken und Streben gehört zum vollen Menschenleben, nur er füllt es ergänzend aus. Leben zum Leben! Kannst du den Jammer begreifen, Kind, über ein schlecht benutztes, ein verfehltes Dasein im Moderslaube toter Vergangenheit? Ich habe nie gelebt." Inez sah ängstlich in sein qualzerriffenes Gesicht. „Ich erschrecke dich, Kind S Sei ruhig. Ich verlange ja keine Genesung, keine Erweckung zu neuem Leben von deiner Juaendkratt." svrach er in gebrochener Hast weiter. — „Du, meine Göttin, das Weib eines Greises?" Er lachte bitter auf. „Ich — ich werde überhaupt nie heiraten," stammelte sie. Die Binde sank von ihren Augen. Wie war sehend geworden, jetzt, in diesem Moment. Sie wußte, daß sie Harald liebte, ihn, den Verlobten einer anderen, und auch, daß sie ihm nimmer angehören werde. Da war es gekommen, das Glück und — schon vorüber, vorüber. Sie senkte den Kopf in die Hände und brach in Thränen aus. „Habe ich dich beleidigt, dir weh gethan, mein Kind?" rief Reimarus außer sich. „Um Gott, thu mir das nicht an. Vergiß, was ich da in meiner Thorheit redete. Ich wollte dir ja Mr sagen, du wärest nimmer verlassen, so lange ich atme." Er sah so unglücklich und erschüttert aus, daß Inez schnell die Augen trocknete und be ruhigend seine alten, treuen Hände erfaßte, die so lange Jahre hindurch so manche Blume auf den einsamen Pfad ihrer Wildheit gestreut. „Guter Onkel, was hätte ich zu verzeihen? Ich bin nur dankbar für alle Liebe und Güte, die mir von dir geworden ist. Unser altes, schönes Verhältnis bleibt stets dasselbe. Du denkst auch gar nicht im Ernst daran, ihm eine andere Form zu geben." „Nein, mein Kind, nur ein Thor könnte das erzwingen. Der Schnee zeitigt keine Blüte. Er sah ihr tief in die thränenfeuchten Augen, die ein Leid weinen gemacht, an dem er doch so sckuldlos war. „Weine nickt. Kind." saate I er nochmals, als bäte er ihr ein Unrecht ab. „Ich bleibe dein alter Onkel und damit ein Schutz, auf den du immerdar bauen darfst. Ist es so recht, mein Herzblatt?" Sie zog seine Hand an ihre Lippen. Ein unsägliches Mitleid überkam sie mit dein altern den, einsamen Mann, dem die Liebe nur eine späte, taube Blüte getrieben, die fruchtlos ab fallen niußte. Die ihre aber, die tötete ein Reif in der Frühlingsnacht, noch ehe sie sich noch voll entfalten gedurft. Auch daran dachte sie er schauernd. Ihre junge, lebensvolle Hand ergriff, selber der Stütze bedürftig, innig die welke, leidensblasse des alten Mannes. Ihre Lippen flüsterten tröstlich: „Ich danke dir, — ja, wir bleiben dieselben." Als Inez dann gegangen war, wandte sich der Gelehrte mit einem müden, resignierten Blick seinem Schreibtisch zu, auf dessen Postamenten die dicht gedrängten Bücherreihen standen. „Ja, ja, ihr haltet, was ihr einmal erfaßt," sprach er leise vor sich hin. „Ihr spottet des Thoren, der da plötzlich die Jugend, die Seele von euch zu rückverlangt, die er euch dereinst geopfert um falsch verstandenen Lohn. Nun, so behaltet mich denn bis an das Ende." Inez aber stand mit gefalteten Händen am offenen Fenster ihres Stübchens. Der Silber glanz des Mondes flutete voll herein und ver klärte ein herbes, junges Antlitz, in dem es sich jetzt wundersam regte. Die Liebe hatte es mit magischem Finger berührt, die starre, unnatürliche ! Kälte mit lindem, lösenden Hauch verwischt. Aber ! diese Liebe war eine glücklose, und über deni! weickcn. ttäumcriscken Lackeln des Mundes stand j der große, entsagungsschwere Schmerz der dunk len, ernsten Augen. Und doch leuchtete es wie himmlische Gnade über diesem Weh. Das schöne, thräncnnMe Antlitz zum mildstrahlenden Nachchimmcl empor- hebend, fiel es dankzitternd von des Mädchen) Lippen: „Auch ich habe eine Seele I Komtesse Andys Sitzungen nahmen trotz aller Gegenbemühung ihren Fortgang. Inez fühlte sich indes nicht fähig, dem Grafen Harald zu begegnen, und schützte an dem nächsten hierfür bestimnlten Tage ihrem Vater ein Kopfweh vor, das ihr unmöglich mache, im Atelier zu ver bleiben. - Er schickte sie in den Garten, und nur zu gern leistete sie Folge. Sie durfte sicher sein, dort um diese Tageszeit ein paar Stunden un gestört verweilen zu können. Es war einer jener seltenen Spätsommertagc, wie sie der Oktober nach Sturm und Regen zu weilen noch bringt, eine milde sonnige Wärme, die Luft von jener kräftigen Reinheit, die uns das Atmen leicht macht. Kanin je hatte Inez den hohen Reiz des Herbstes so voll em pfunden. Sie freute sich über den letzten Blumen flor der Rabatten, die kleinen Stcrnastern mW Zeitlosen, welche dort npch so prächtig auf- blühten, als laure nicht schon der Frost, ihnen in der nächsten Nacht den Tod zu bringen. Träumerisch verfolgte sie das Spiel der Faller, die, vom Lichte noch so spät geboren, sich sorg los in den mütterlichen Strahlen tummelten, als wüßten sie nicht, daß der kalte AöendlMch