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„Sie sind mir herzlich willkommen, liebe Hildegard." Mit einem Seufzer der Erleichterung warf Hildegard sich an des Fräuleins Brust. Fest legten sich ihre Arme um Jettchens Hals. „Ach, mir ist so bange — so bange! Ich war fo thöricht. Weißt Du es schon?" Das Du war ihr ganz unbewußt über die Lippen geglitten, aber Jettchen nahm es auf. „Sei ruhig, liebes Kind. — Paul hat mir erzählt, wie sehr Du geängstigt wurdest. — Jetzt aber bist Du geborgen. Komm mit, der Thee wartet." Jettchen bückte sich und legte Hildegards übel behandelten Hut auf einen Seitentisch. „Komm!" Das junge Mädchen bewegte sich nicht von der Stelle. Ver wirrung und Unlust mallen sich'auf ihrem Antlitz. — Wie? Heute noch einmal dem Rechtsanwalt begegnen? Unmöglich! „Ich bin so müde," bat sie ängstlich, „lckß mich zu Bette gehen, bitte. Morgen, dann " Jettchen verstand sehr wohl in anderer Seele zu lesen. Mit leid und Anteil schärften hier noch ihren Blick. „So sei eS," sprach sie gelassen. „Erwarte mich hier, ich komme im Augen blick zu rück und führe Dich in Dein Zimmer, welches neben dem meinigen liegt. Da magst Du Deinen Thee nehmen, liebes Kind — und ich bringe Dich dann zu Bett." Hilde gards Antlitz nahm un- verzüglich einen be friedigten Ansdruck an. Zärt lich zog sie Jettchens Hand an ihre Lippen. „Wie gut Du bist!" Sie lag dann noch lange wach und erzählte der Thür vernimmt er mit einem Gemisch von Aerger und Belustigung ihre Erklärung. „Ich verstehe Sie nicht, Komtesse," sagt er nähertretend. „Hat etwas im Hause hier Sie verletzt?" „O nein," entgegnet sie mit unabsichtlicher Wärme. „Aber — Sie müssen zugestehen, daß nur die Uebereilung mich so handeln ließ, wie es leider geschehen ist." Sie spricht nicht mehr so zu versichtlich, wie beim Beginn ihrer Rede, vielmehr klingt ihre Stimme jetzt leise und zaghaft. „Sie irren. Ich sah vor mir ein geängstigtes junges Mädchen, welches, durch Zufall Zeuge eines Planes geworden, der es beleidigt und gegen sein Lebensglück verstößt, vertrauensvoll die Hand er griff, die sich ihm rettend darbot." Sie hat sich tiefer in ihre Fensternische zurückgezogen und schlägt die Augen, vor seinem gebieterischen Blick erschauernd, zu Boden. „Sie wissen," sährt er entschiedenen Tones fort, „daß Ihr Bruder das Vormundschaftsrecht über Sie an mich abgetreten hat, da er sich dieser Pflicht nicht gewachsen sühlt. Ihr Kammermädchen hat mir diesen Morgen seine schriftliche Vollmacht überbracht, die ich an die betreffende Behörde bereits weiterbesördert habe —" „Und Sie gedenken mich hier festzuhnlten?" „Haben Sie ver gessen, was Ihnen in Ihrer Heimat widerfah ren ist?" „Nein." „Nun denn, so gewöhnen Sie sich an den Ge danken, vorläufig hier, wo man sich Ihrer An wesenheit herzlich freut, ge bunden zu sein. Sie sind un mündig und müssen sich meinem Willen fügen." Es zuckt wie Hu mor aus seinen Blicken, die sie nicht sieht, da ihre Augen Dor dem Wittagsejsen. Nach dem Gemälde von A. <L Kerle. Schwester des Rechtsanwaltes von ihrer Kindheit, von ihrem Papa und vom Institut. Als sie mit bebender Stimme von des Vaters Tod sprach, streichelte Jettchen ihr liebevoll das Haar. „Du hast nun wieder eine Heimat gefunden," sprach sie be ruhigend, und da sie bald darauf gewahrte, wie der Schlaf die noch feuchten Wimpern deck'jungen Mädchens berührte, drehte sie den Docht der Lampe herab und begab sich ebenfalls zur Ruhe. 7. „Und so bitte ich Sie, Herr Doktor, mich auf den Bärenstein zurückkehren zu lassen. Ich sehe ein, daß ich mich übereilt habe. Meine Furcht war sehr kindisch — Papa hat mir meinen freien Willen gewahrt, und Clemens kann mir nichts anhabcn." Sie steht mit stolz erhobenem Kopf vor ihm, den Rücken gegen ein Fenster des Speisezimmers gelehnt. Sie bemüht sich, sehr erhaben und gleichmütig zu sprechen; aber die Spitze ihres rechten Fußes klopft nervös den Boden und die Finger ihrer herabhüngendcn Hände zupfen unstät an den Falten ihres Kleides. Doktor Reinhold ist soeben aus seinem Bureau zurückgckehrt. Jettchen hat ihm im Vorsaal mitgetcilt, daß Komtesse Hildegard ihn zu sprechen wünsche. Er ist eingetreten; noch unweit von der noch immer den Fußboden suchten. Sie hört nur den Laut seiner Worte. „Wärs möglich? Sie wollen ein unbedachtes Wort als Fessel um mich schlagen?" „Wir Männer deS Gesetzes entbehren milder Regungen. Wir halten uns an den Buchstaben." Das war doch offenbarer Hohn. Sie hebt stolz den Kopf und sicht ihn flammenden Blickes an. „Sie spotten meiner, Herr Doktor. Ich gebe zu, mein kindisches Betragen gibt Ihnen Ursache dazu. — Soll ich bitten, wo ich einfach mein Recht verlange? Ich habe niemals gebeten. Ich sagte stets: ich will — und dann geschahs." „Da wird nun eine kleine Aenderung eintreten müssen; auch ich habe einen unbeugsamen Willen." Sie zuckt die Achseln und entgegnet hochmütig: „Daran zweifle ich nicht — doch beängstigt eS mich wenig. Ich reise noch heute ab." Abermals blickt sie scheu zu Boden. Ihr Herz schlägt wild — nur mit Mühe hält sie die Thränen des Zornes und der De mütigung zurück, die ihr in die Augen treten wollen. Er ist ihr noch um einen Schritt näher gekommen. (Fortictzmig folgt.) 30»