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Es gibt kaum ein seltsameres Volk als das japanische, das uns im letzten Jahrzehnt so viele merkwürdige Rätsel/ zu lösen gegeben hat und in dessen Charakter noch so viele ungeklärte Fragen schlummern, die niemals in westeuropäischer .Kultur ihre Beantwortung finden werden. - Jene große Katastrophe, welche eine der blühendsten Städte des nördlichen Japan in Asche gelegt und, auf die umliegenden Wälder übergreifend, einen ganzen Landstrich ergriffen hat, ist noch in aller Erinnerung. Man kann nicht sagen, wie das Feuer in Akita, welches an der wichtigen Bahnlinie liegt, die wie eine geringelte Schlange von Tokio den schmalen Jnselarm hinaufläust, entstanden ist. Vielleicht war es gelegt, vielleicht hatte es eins rein natürliche Ursache. Genug, einer jener furcht baren Stürme, welche besonders Japan häufig heimsuchen, verwandelte den Brand in eine nationale Katastrophe, und ehe vierundzwanzig Stunden um waren, lag der größte Teil der Stadt in Asche. Alle Hilfskräfte wurden herangezogen. Alles, was Arme hatte, was über Kraft verfügte, eilte herbei, um Hilfe zu bringen. Akita hatte noch ziemlich enge Straßen und so bedurfte es übermenschlicher Anstrengungen, wenigstens einen Teil der vom Feuer Eingeschlosfenen zu retten und vor einem schrecklichen Tod zu be wahren. Zu der Zeit, da der Brand ausbrach — es war etwa gegen drei Nhr nachts — befand ich mich als Gast mehrerer japanischer Offiziere in der Nähe des Hafens, wo ein Kriegsschiff vor Anker lag. Keine hundert Schritte von uns entfernt, befand sich das Zentralgefängnis für solche Verbrecher, welche deportiert werden sollten. Seltsamerweise ergriff die Wut des Feuers dieses Gebäude zuerst, und zwar mit solcher Schnelligkeit und Gewalt, daß es kaum mehr möglich schien, die Eingeschlosfenen zu retten. Die Riesengefahr war sofort erkannt worden. Schaurig gellten die Hörner durch die Stille der Nacht, die belebt war von ungezählten Menschen, welche hastig, ohne Ordnung und Führung durcheinanderjagten. Niemand dachte daran, daß die Bewohner des schauerlichen grauen Gebäudes, aus welchem dumpfes Brüllen klang, das man für die Stimme wilder Tiere hätte halten können, schwere Verbrecher seien. Man dachte nur daran, daß es Menschen in Lebensgefahr seien. Alles eilte, um zu retten. Mein Gastgeber, Kapitän Jnsho, warf die Zigarette beiseite, stieß die Tür auf und sagte: „Folgen Sie uns, Crofton. Ich glaube, Ihre Abenteuerlust wird heute befriedigt werden." Eine Anzahl weiterer Offiziere, die gerade nicht Dienst hatten, schlossen sich uns an. Wir eilten durch die Nacht, die von feuriger Lohe erhellt war, nach, dem Zentralgefängnis hinüber. „Glauben Sie, daß man diese Unglücklichen wird retten können?" fragte ich, atemlos neben meinem Begleiter einhereilend, der sich fast zwergenhaft neben mir ausnahm. Gleichwohl konnte ich kaum mit ihm Schritt halten. Sein Lauf war von solcher Elastizität, jede seiner Bewegungen so geschickt — seine Lungen schienen über eine ungeheure Kraft zu ver fügen. Wir mußten einen kleinen Umweg machen, um zu dem ZcntralgefängniS zu ge langen. Akita ist sehr bergig und unglück licherweise lag das bedrolüe Haus selbst auf einem hohen Hügel. Endlich gelang es, uns einen Weg durch die Menschen zu bahnen und bis zu dem Gefänguikhof durchzudringen, der erfüllt war von einem Raketenschwarm glühender Funken. Schon hatte das Feuer das Haus ergriffen. Aber mit jener Ruhe, die den Japaner selbst in den schrecklichsten Lagen auszeichnet, hatten die Aufseher und Offiziere bereits sämtliche Gefangene in den Hof geführt, der augen blicklich noch frei war von den Flämmen, und man war eben dabei, alle aufzurufen, um sich zu überzeugen, daß keiner zurück geblieben war. Die Männer sollten ohne weiteres auf das Kriegsschiff gebracht werden, wo sie vorläufig in Sicherheit waren — in doppelter Beziehung. Obgleich dieses Schauspiel wenig Anziehen des an sich hatte, vergaß ich doch, meinem Führer zu folgen. Ich blieb in dem Hof stehen und hörte zu, sah diese Gestalten an, die meistens sogar nichts von verbrecherischer Physiognomie nach unseren Begriffen an sich hatten. Inzwischen schossen die ersten Wasserströme, aus den Schläuchen der Feuerwehr geleitet, in das Gefängnis und in diesem Wirrwarr, vor diesem Chaos entfesselter Elemente, wickelte sich in aller Ruhe der Appell ab: „Fushino!" „Hier!" „Kofurhv!" „Hier!" „Jamaigai!" „Hier!" Die Namen wurden von einer rauhen Stimme getragen, die einem kleinen, aber muskulösen Aufseher angehörte. Der sah seltsam aus mit seinem untersetzten Körper und den langen Armen, mit denen er beinahe bis zu den Knöcheln langen konnte. Ich dachte unwillkürlich an einen Affen. Wirft man aber erst einen Blick in diese von einer fieberhaft arbeitenden Kultur vergeistigten -Züge, so vergißt man den Vergleich. Die Antworten klangen gedämpft, monoton. Vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil cs immer das gleiche war: Ein dumpfes, gleichgültiges „Hier!" Zwei Reihen von Menschen in karierten Kleidern. Hinter ihnen, vor ihnen und zwischen ihnen Soldaten mit geladenem Gewehr. Und ringsum die grauen Zuchthausmauern, pur purn beleuchtet von der flammenden Lohe, teilweise schon übersponnen von Qualm und Rauch. Ja, in das Dröhnen del Hörner und in das Geschrei der Menschenmassen tönt jetzt ein dumpfes Rollen, als sei die Erde ge borsten und der erschreckte Blick eines Ge fangenen wies mir die Richtung: Gne Mauer ist eingestürzt. Noch Minuten, und cs wird auch in dem Hofe so gefährlich werden, daß uicckand mehr sich darin aus halten kann. Aber in den Gesichtern der japanischen Soldaten veränderte sich keine Miene. Schier gleichgültig beobachten sie die Szene, ja ihre Aufmerksamkeit ist ohne Zweifel aufs Äußerste gespannt. Inzwischen habe ich Gelegenheit gefunden, mit einem der über wachenden Offiziere ein paar Worte zn sprechen. Er erzählte mir, daß niemals sonst so viele Sträflinge auf einmal mitsammen ins Freis durften. „Es sind die gefährlichsten, die wir hier haben.. . Kettenklirren unterbricht seine dumpfen Worte. Bei jedem „Hier" kritzelt der Beamte ein Stern chen in sein Notizbuch. Jetzt wendet er sich dem Offizier zu, dem . in erster Linie die dumpfe Neugierde der Sträf linge gilt. Der Stadtkommandant selbst ist herbeigeeilt und begrüßt mich durch ein flüchtiges Kopfnicken. „Drei Mann fehlen", meldet der Aufseher, die Hand an der Mütze. „Drei Mann sind erstickt — verloren!* Der General hörte kaum zu. „Erstickt!" murmelt einer der Sträflinge. Ich höre es und blicke ihm ins Gesicht. Aber er lächelt nur. Es sieht aus, als ob er das Schicksal dieser drei Unglücklichen beneidete. Die Aufmerksamkeit wird nun völlig auf dctt Genera! abgclenkt, der vorgetreten ist. Die Blicke von 142 Sträflingen bohren sich in sein unbewegliches Antlitz. In diesem Augenblick verkündet er das Schreckliche, das noch niemandem bekannt ist. Auch ich höre zum erstenmal davon... man hat von hier aus keinen Überblick über die Stadt und der Lärm der Menge, die sich gerade beim Gefängnis drängt, übertönt alles, was wie ein dumpfes Rollen von der Stadt heraufdringt. „Halb Akita liegt in Trümmern", begann der General. „Der Sturm hat die Flammen ergriffen und von Straße zn Straße getragen. Niemand ist mehr imstande, das wütende Element zu bekämpfen. Man kann nur mehr sein Leben einsetzen, um anders zu retten. Der Weg zur Küste ist abgeschnitten. Ich wage nun zu hoffen, daß dieses Unglück die- -jenigen unter euch, welche noch nicht völlig alle Menschlichkeit vergessen haben, bessern wird. Ich gebe daher hiemit Befehl, daß die, welche nicht zu lebenslänglicher Strafe ver urteilt sind, entlassen werden. Sie sollen sich sofort an den Rettungsarbeitcn beteiligen. Wer so gemeiner Sinnesart sein sollte, daß er versuchen würde, zu plündern, wird auf der Stelle erschossen." Eine Pause folgte. Mit derselben Ruhe, mit welcher die Sträflinge bis jetzt alle Vor gänge beobachtet hatten, nahmen sie die Worte des Generals auf. Dieser wandte sich kurz an die Gefängnisbeamteu: „Die, welche lebenslängliche Strafe erhalten haben, werden abgezählt und nach geschützter Stelle geführt, bis sie auf das Kriegsschiff gebracht werden können. Die anderen werden entlassen."