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Allgemeiner Anzeiger : 30.11.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-11-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191011307
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- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19101130
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19101130
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- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1910
-
Monat
1910-11
- Tag 1910-11-30
-
Monat
1910-11
-
Jahr
1910
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 30.11.1910
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Vie Revolutionen in Amerika. Wer die Taiarennachrichten über die „Nevo- ilniionen" in Mexiko, Brasilien und Nikaragua liest, muß glauben, in ganz Amerika, (soweit es sich nicht um die Ver. Staaten handelt) sei der Aufruhr gegen die bestehenden Gewalten ent- feflelt und alle Bande der Ordnung seien zer- rissen. Der beste Gradmesser eines Landes und ie ner innerdalitischen Verhältnisse ist und bleibt doch die Börie. Während nun zum Beispiel das aus der Luft gegriffene Gerücht, Kaiser Franz Joseph sei gestorben, am 24 d. Mts. eine gewaltige Unruhe an der Pariser Börse hervorrief, hat sie die Revolutionsnachlichten aus Amerika bisher fast unbeachtet gelassen. Freilich, die Nachrichten aus den Ausstands gebieten lauten sehr ernst. Wenn es sich auch nicht bestätigt, daß in Mexiko Präsident Diaz ermordet worden ist, io kann doch nicht in Abrede gestellt werden, daß sein Gegner Madero im Süden des Landes, gewisse Erfolge erzielt hat, die es ihm sogar ermögü.nstn, an Depeschen, die aus jenen Gegenden nach Europa gingen, Zensur zu üben. Dafür aber macht die Regierung bekannt, daß sie die Einziehung der gesamten (im Norden Mexikos liegenden) Güter Maderos verfügt und genen ibn seiber die Achtung ausgesprochen habe. Die Berichte der fremden Gesandtschaften, die ja immer zuverlässiger als Zeitungstelegramme sind, besagen denn auch, daß Präsident Diaz Herr der Lage sei, wenn auch die Regierungs- irupven bei der ungeheuren Ausdehnung des Landes nur schwer an die bedrohten Stellen gelangen können. Sicher ist, daß Leben n«d Eigentum der Europäer nicht im mindesten bedroht sind, und daß die Regierung im ganzen Norden des Landes die Macht in Händen hat. Der mexikanische Finanz minister hat auf eine Anfrage über die angeb liche Revolution in Mexiko folgende Antwort erteilt: „Die fraglichen Meldungen sind un sinnig übertrieben. Die Unruhen haben keinerlei Bedeutung. Es ist keine Rede davon, daß irgendein Soldat zu den Aufrührern über- gegangen wäre oder daß Städte in Gefahr wären, in ihre Hände zu fallen." Noch harm loser sieht nach amtlichen Meldungen die „Revolution in Brasilien" aus. Dort haben im Hafen von Rio de Janeiro die Matrosen zweier Kriegsschiffe ge meutert und einige ihnen mißliebige Offiziere getötet. Gewiß ein unliebsames Vorkommnis in einem geordneten Staatswesen, aber wenn man bedenkt, daß Marschall da Fonseca (der ja auch der Gast Kaiser Wilhelms auf seiner Europareise war) mit ungeheurer Mehrheit zum Präsidenten des Landes gewählt worden ist, und daß er erst seit etwa 8 Tagen sein Amt angetreten hat, kann man kaum annehmen, daß eine von der Mehrhest des Landes getragene revolutionäre Bewegung ihn stürzen will. Die Marineverfassung, das gibt die Regierung zu, ist einer Reform bedürftig und sie soll durch- geführt werden, wenn die Mannschaften des „Sao Paulo" und der „Minas Geraes" wieder zur Vernunft gekommen find. Am bedeutungs vollsten scheinen die Unruhe« in Nikaragua zu sein. Die Republik, die erst kürzlich eine Revolution erlebte, durch die Präsident Madriz gestürzt und General Estrade zum Präsidenten gemacht wurde, sieht in ihrem nordwestlichen Teil wieder ernste Unruhen. Zwar sagt der Minister des Nutzeren, der Aufstand sei ohne Bedeutung, aber auch der ver triebene Madriz hatte solange an seinen Sieg geglaubt, bis Estrade alle Macht in Händen hatte. VLedter. Politische Kuncilckau. Deutschland. *Jn unterrichteten Kreisen heißt es auch jetzt wieder, der preußische Kriegsminister von Heeringen werde im kommenden Frühjahr in die Front zurückkrh.en. — Es ist nicht aus geschloffen, daß nach der Etatserledigung nicht nur der Kriegsminister keinen Pasten verläßt. Die Regierung wird sich im Frühjahr miß die Neuwahlen zum Reichstag sorbzWisn und es ist wahrscheinlich, daß mehrere Minister, die sich den unausbleiblichen Kämpfen nicht ge wachsen glauben, ihren Platz an andre Männer abtreten werden. *Nach den Beschlüssen des Senioren- konvents soll die erste Lesung des Etats im Reichstage am 9. Dezember be ginnen und fünf Tage in Anspruch nehmen, so daß am 14. Dezember die Weihnachtsferien be ginnen könnten. *Die preußische Eisenbabnver- w altun g hat, um umfangreiche Verbesserungen im Betriebe durchzuführen, eine eigene Studien- kammission eingesetzt, die genaue Berichte in Privatbetrieben einholen und daraufhin Vor schläge zu Reformen zwecks größerer Sparsamkeit macken soll. Diese Kom mission ist jetzt in Dortmund eingetroffen, wo sie zunächst große Werke der Eisenindustrie besichtigte, um die Verwaltung, insbesondre auch die Buchführung, kennen zu lernen. *Nach einer Entscheidung des preußischen Finanzministers bedürfen die auf Grund der Gewerbeordnung erteilten Genehmigungen zur Über- und Sonntagsarbeit dann keines Ausfertigungsstemvels, wenn nach dem pflichtmäßigen Ermessen des Beamten, der die Genehmigung erteilt, deren Wert für den Arbeit geber 150 Mk. nicht übersteigt. Österreich-Ungar«. * Bei der Budgetberatnng im österrichi - schen Abgeordnetenhause verwies Finanzminister v. Bilinski auf die Schwierigkeit der Begebung neuer Anleihen und betonte, daß die westlichen Märkte, w>e das letzte Beispiel Ungarns lehre, Österreich verschlossen seien und man lediglich den inneren Markt mit nur wenig Nachhilfe aus Deutschland zur Verfügung habe, da Deutschland kein aus reichend kräftiges Kapital besitze. Man müsse daher glücklich sein, daß dir Postsparkasse es er mögliche, mit der Rentenausgabe einigermaßen vorwärts zu kommen. Im weiteren Verlauf der Sitzung erklärten verschiedene Abgeordnete die Zulassung der Fleischeinsuhr und die Herab setzung der Getreidezölle seien allein geeignet, der Teuerung zu steuern. Am Schluffe der Sitzung sprachen die Vertreter sämtlicher slawi schen Parteien des Hanfes sowie der Sozial demokraten aus Anlaß des Hinscheidens Tolstois ihre Teilnahme aus. E«qla«d. *Die Kämpferinnen fürs Frauen stimmrecht, die dieser Tage der Mehrzahl der Minister übel mitspielte, indem sie sie zum Teil tätlich angriffen, oder in ihren Häusern die Fenster einwarfen, werden von dem Polizei- gericht sehr milde behandelt. Achtzehn der streitbaren Damen erhielten Geldstrafen von 40 bis 100 Mk. oder Gefängnis von vierzehn Tagen bis vier Wochen. Sie versicherten, daß sie das nächste Mal noch mehr leisten würden. Eine ganze Anzahl von Frauen, die nur der Ruhestörung bezichtigt waren, wurden auf An trag des Ministers des Innern straffrei ent lassen, obwohl der Richter meinte, eine fo gelinde Behandlung sei fast eine Anstiftung zu weiteren Gewalttaten. »uv.> r« ! /Zus ciem Aeickstage. Der Reichstag nahm am Donnerstag zunächst die Wahl des zweiten Vizepräsidenten vor, auf dessen Bosten der Abq. Schultz (sreikons.) mit 186 gegen 52 Stimmen berufen wurde. Darauf wurde die Interpellation zur Lebensmiitelteuerung fort- ! gesetzt. Abg. Wiemer (fortsch. Vp.) bezeichnete es i als einen Irrtum der Konservativen, daß sich die ! Fleischteuerung auf die großen Städte beschränke, i Die Junkerpolitik müsse durch eine Bauernpolitik > ersetzt werden. Die Schutzzölle können zwar nicht i auf einmal beseitigt werden, seien aber allmählich f und stetig herabzusetzen. Demgegenüber betonte Abg. Paasche (nat.-Iib ), daß gerade die Schutz- i Zollpolitik es unsrer Landwirtschaft ermöglicht habe, die Viehproduktion in dem jetzt vorhandenen erfreu lichen Umfange zu steigern. An dieser Wirtschafts politik iei testzuhalien. Abg. Frhr. v. Gamp . (freikons.) war mit den Erklärungen der Regierungs- Vertreter im ganzen einverstanden. Abg. Fürst Radziwill (Pole) bedauerte, daß unter der Fleischten-runa auch die polnische Bevölkerung zu leiden habe. Abg. Trimborn lZentr.) forderte Öffnung der holländischen Grenze; diele Förderung wurde vom preußischen Landwirtschaftsminister Frhrn. v. Schorlemer wegen der in Holland herrschenden Maul- und Klauenseuche abgelehnt. Eine Verminderung der Fleischtcuerung fei nur von der Hebung der inländischen Produktion und von ihrer Freihaltung von Seuchen zu erwarten. Am 25. d. Mts. wird die Besprechung der Interpellation zur Lebensmittelteuerung fortgesetzt. Abg. Hildenbrand (soz.): Der Verlauf der Besprechung ist bedauerlich. Arbeiter, Handwerker und Bauern erkennen, daß sie von diesem Reichstage, aber auch von dieser Reichsregierung keine Linde rung der Fleischnot zu erwarten haben. Frhr. von Schorlemer bereitet sogar auf ein weiteres Steigen der Vieh- und Flcischpreise vor. Der Standpunkt, die Grenzen können nicht geöffnet werden, ist unhalt- baltbar, nachdem doch ein Teil der Grenzen bereits hat geöffnet werden muffen. Mit der Reichstags wahl hat unsre Interpellation nichts zu tun. Sie (zu den bürgerlichen Parteien) liefern uns ja fortge setzt Agitationsstoff und mit Ihnen das Instrument des Himmels. Bezeichnend ist, daß auch das. Zen trum hier lediglich an die Vorteile der Junker denkt. Auch die Nationalliberalen sind nur ein Vorspann am Junkerwagen. Der Reichskanzler aber sollte ein Instrument der Volksvertretung sein. Es ist unerfindlich, weshalb die Einführung holländi schen und dänischen Fleisches hygienisch bedenklich fein soll. Sterben denn Dänen und Holländer vom Genuß ihres Fleisches? Will die Regierung die Steigerung der Viehproduktion, dann müßte sie doch mindestens die Futterzölle aufheben. Staatssekretär Delbrück: Die erhebliche Mehr heit dieses Haukes hat die Stellungnahme des Reichskanzlers gebilligt, wenn es bei der Linken auch nicht an scharfer Kritik gefehlt hat. Der Staats sekretär wendet sich gegen die Auffassung, daß er als Referent des Städtetages andre Anschauungen vor getragen habe als am Mittwoch im Namen des Reichskanzlers. Einen bauernden Rückgang in der Fleischversorgung würde auch ich für sehr bedenklich halten. Der Streit dreht sich nur darum, ob der Reichs kanzler wirksame Mittel zur Linderung der Fleisch teuerung hat, und das bestreiten wir. Mit Aus nahme von Frankreich haben wir kein Nachbarland, in dem die Viehseuchen merklich zurückgegangen sind. Unsre einheimische Fleischversorgung ist nur sicher ge stellt, wenn wir unsre Viehproduktion steigern. Unsre Wirtschaftspolitik hat uns folche Erhöhung der Arbeiterlöhne gestattet, daß die Verteuerung der Lebenshaltung mehr als ausgeglichen ist. Es wäre grundfalsch, an unsrer Wirtschaftspolitik zu rütteln. Ich kann nur hoffen, daß dos deutsche Volk uns demnächst wieder einen Reichstag hierhersendet, der uns ermöglicht, an unsre Wirtschaftspolitik fest zuhalten. Abg. Wachhorst de Wente (nat.-lib.): Eine Verteuerung des Fleisches ist ja anzuerkcnnen. Aber dies darf nicht zur Öffnung der Grenzen führen. Die Getreidepreise und Lebensmittelpreise sind zurück gegangen, nur die Rindvieh- und Schaspreise find gestiegen. Daß die Grenze nach Frankreich geöffnet worden ist, kann ich nur beklagen. Nicht in der Lockerung des Zoll- und Seuchenschutzes liegt bas Heil, sondern in der Proouktionssteigernng. Wir Nationalliberalen freuen uns, die billigen Futtermittelzölle mitherbeigelührt zu haben, im Gegensatz zum Bunde der Landwirte. Von feiten der Führer des Bundes wird die innere Kolonisation ständig durchkreuzt. Auch die Restgutbildung ist durchaus verfehlt. Auch die Konservativen sind Gegner der inneren Kolonisation. (Lebhafte Rufe rechts: Unwahr!) Das unwahr zu nennen, ist eind Gemeinheit. Vizepräsident Schultz: Ich rufe Sie zur Ordnung. Abg. Wachhorst de Wente: Wir haben zwar für die Caprivischen Handelsverträge gestimmt, ! haben aber zugelernt. Ich bedaure, daß die Führer s des Bundes der Landwirte durch ihre extreme t Politik die Schutzzollpolitik unpopulär zu machen s ansangen. Deshalb gründeten wir den Bauern- i bund. Abg. Kobelt (wildlib.): Aus der Debatte ! kommt ja doch nichts heraus. Bon einer Fleischnot s sollte man nicht sprechen, sondern von einer Viehnot. ! Abg. Rupp sprach von einer luxuriösen Aufmachung der Fleischerläden. ! Aber wer nicht mitgeht mit der Zeit, kommt unter die Räder. Auch bei den Fleischern sind die Löhne e gen. Wenn Frhr. v. Schorlemer sagt, es sei alles schon dagewcsen, so kommen wir doch damit nicht weiter. Die Händler haben sich von ihm aus horchen lassen und zum Dank dafür will der Minister den Zwischenhandel ausschalten. Die Grenzsperre ist durchaus überflüssig. Die Grenzen sollten dauernd geöffnet sein und nur geschloffen werden, wenn ernste Seuchenaefahr droht. Abg. Li n tz - Elberfeld (freikons.): Die Fleisch preise haben in manchen Großstädten eine bedenk liche Höhe erreicht. Mit Trimborn fordere ich Öff nung der holländischen Grenze. Abg. Wölzl (Hosp. d. Natlib.): Unsre Fraktion schließt sich einmütig den Ausführungen des Abg. Paasche an. Abg. Hahn (konO: Herrn Wachhorst de Wente blieb es Vorbehalten, die politischen Gegensätze in die Erörterung zu ziehen. Allerdings kann ich nicht an» nehmen, daß der Haniabund die heutige Rede des Abg. Wachhorst de Wente billigt. Denn die Kon sequenz dieser Rede ist Schutz des einheimischen Marktes, während der Hanfabund die Stärkung der Exportintereffen wünscht. Der Gesamttendenz des Bundes der Landwirte beim Zolltarif von 1902 wird Wachhorst de Wente auch heute noch nicht gerecht. Wir wollten die Versorgung des heimischen Marktes mit Getreide wie mit Vieh sicher stellen. Wenn wir aber bei den Futtermitteln vom Auslande abhängig sind, können wir uns ausländischen Preistreibereien nicht entziehen. Den Zolltarif von 1902 lehnten wir ab, weil die Industrie bevorzugt und weil die kleine Landwirtschaft vernachlässigt war. Was Wachhorst de Wente zur inneren Kolonisation sagte, war durch aus unrichtig. Frhr. v. Wangenheim ist einer der wärmsten Anhänger der inneren Kolonisation, wie er ost genug bewiesen hat, und wünscht den provinziellen Instanzen ein Organ zur lebhaften Fortführung der inneren Kolonisation. Die Kämpfe um die Zukunft der deutschen Landwirtschaft sind noch nicht zu Ende. Auch den nächsten Reichstag werden diese Kämpfe befassen und da müssen alle Landwirte zusammen stehen. Sorgen Sie mit uns für die Einigkeit der deutschen Landwirte und schließen Sie sich mit uns zusammen im Bunde der Landwirte. Nach kurzen Bemerkungen der Abgg. Emmel lsoz.), Fe gier (fortschr. Vp.) u. a. schließt die Be- prechung. vieMoabiter Krawalle vor Gericht. Je Wester in dem großen Prozeß wegen der Sireikurruhen im Berliner Stadtteil Moabit die Beweisaufnahme forlschreilet, desto ver wirrter wird das Bild, das der Fernstehende von den Vorgängen bekommen muß. Die Polizei, sowie eine Anzahl von ihr vorge- fchlagener Zeugen erklären, daß die Haltung der Schutzmannschaft eine der Sachlage durchaus angemessene war da die Maffenansammlungen ohne Zweifel sich als schwerer Landsriedenkbruch darstellten, die von der Verteidigung herangezogenen Ent lastungszeugen bekunden demgegenüber, daß die Schutzmannschaft überaus scharf vorgegangen sei und daß sie dazu absolut keinen Grund gehabt habe. Es hätten nur kleinere Gruppen beisammen gestanden, die erst durch daS über eifrige Vorgehen der Polizei zusammengetrieben worden seien. Diese beiden völlig abweichenden Darstellungen find weder durch die Kreuz- und Querfragen der Verteidiger, noch durch die Befragung des Staatsanwalts zu erschüttern. Einige Zeugen verweigern auch die Aussage. So der Schriftsteller Walter Moszkowski, da die Polizei, wie sie an den englischen Iom- ralisten Mr. While schrieb, der Ansicht ist, daß jeder, der sich damals in der Menschenmenge befand, sich strafbar gemacht habe. — Schrift steller Max Berthold ist als Berichterstatter am 27. und 28. September am Ort der Tumulte gewesen. Lieder wurden gesungen und die Be amten verhöhnt. Rufe wie „Bluthunde" er tönten, und eine Frauenstimme rief: „Schlagt sie tot." Aufgefallen ist ihm, daß nach zehn Uhr fast an jedem Hause ein Mann mit dem Hausschlüssel in der Hand stand, in gefähr lichen Augenblicken die Leute in die Häuser hinein- und im geeigneten Augenblick wieder herausließ. Wenn Schutzleute Personen, die hindurch wollten, zurückwiesen, so geschah dies in durchaus höflicher Form, nur einen Fall har er beobachtet, wo ein Slraßenbabnarbeiter ziemlich unsanft behandelt wurde. Krimival- beamte waren in der Menge, er hat aber »icht gesehen, daß von diesen geschlagen wurde. Darauf wurde die Verhandlung vertagt. N Ors ^äöckeiikeim. 6j Novelle von Antonie Andrea. Forts, Der gaflonierte Türhüter überwies Ruth einem Hausdiener, der sie durch das im ersten Stock gelegene Melier führte — eine riesige elektrisch beleuchtete Halle mit Teppichen belegt, wo sich zwischen dem eleganten Publikum elegant gekleidete weibliche Gestalten zur Bedienung bewegten — alle mit den Mienen von Salondamen, die Gäste emp- ! fangen. ES schwirrte vor ihren Ohren und flimmerte vor ihren Augen, als Ruth auf den weichen Fußdecken ihrem Führer folgte, in ihrem altmodischen Radmantel, unter den prüfenden Blicken der Verkäuferinnen: die Halle erschien ihr endlos, das Licht viel zu blendend, ' um etwas Bestimmtes 'dabei zu sehen. Dann wurde eine Tür vor ihr ausgetan: „Eine Dame auf unsre Annonce, Herr MileS I" Jetzt erst hörte und sah sie wieder deutlich: Ein geräumiges Z mmer, von einem Kron leuchter erhellt An den Wänden Schreibpulte, Stühle mit Lederüberzügen. Im Hintergründe Sofa mit Tilch und Armstühlen. Dort saß em junger Herr über einem Haufen von Zeitungen und Papieren; von einem Pult nebenan erhob sich ein alter Herr, um die Etn- treten^e schon von weitem zu mustern; außer den beiden befand sich niemand im dem Zimmer. Ruths armes Herz klopfte doch schneller, als der alte Herr ihre stumme Verbeugung erwiderte und näher trat. Etwas an ihr schien ihm auf zu^allen. „Wahrscheinlich mein schäbiger Rad mantel/ dachte sie mit einem Anflug von Humor. „Sie bekleideten bereits eine Stelle als Kassiererin, Fräulein?* fragte der alte Herr, augenscheinlich der Chef der Firma. „Ich bedaure — nein.* Jetzt schaute der junge Mann auf dem Sofa herüber, und den Kopf in seine auffallend blaffe, schmale Hand gestützt, schien er dem Examen zu folgen. Noch ein paar andre geschäftsmäßige Fragen, die Ruth teilweise nur verneinend beantworten konnte; dann sagte der alte Herr fast warnend: „Es ist ein schwieriger Posten, der einer Kassiererin in meinem Geschäft. Das Hinter legen einer Kaution ist bei uns nicht üblich; aber die geringste Unordnung, Nachlässigkeit oder Fachunkenntnis würde die sofortige Kündi gung zur Folge stoben.* „Ich möchte Sie trotzdem bitten, den Ver such mit mir zu wagen,* sagte Ruth einfach. Herr Miles überlegte, während er dem jungen Mädchen ein paar sachliche Ausein andersetzungen machte. Etwas in dem frischen, offenen Gesicht flößte ihm ein unwiderstehliches Vertrauen ein. „Aufrichtig, Fräulein I* schloß er mit einem feinen Lächeln: „Glauben Sie, unsern An sprüchen gewachsen zu sein?" „Ja," sagte Ruth zuversichtlich. Der junge Mann auf dem Sofa machte eine Bewegung, die den alten Herrn veranlaßte, sich umzu festen. , ^ell, b'rauL, vekat ä» ^»utdiuL?" fragte er. Der junge Mann erhob sich. Eine schlanke Jünglingsgestalt mit einem auffallend schönen, bleichen Antlitz, dessen stille Melancholie von einem schwärmerischen, dunkeln Augenpaar belebt wurde. Mit einem Gemisch von Staunen und Bewunderung ruhte dieses auf dem hoch- gewacksenen, spmpathischen Mädchen. „Sprechen Sie Englisch ?" fragte er höflich. Der alte Herr, zweifellos sein Vater, lächelte: „Ach so —* „Etwas — das Pensions-Englisch,* erwiderte Ruth, zum erstenmal den Blick auf den jungen Herrn gerichtet. „Was Herr Miles eben 'ragte, das habe ich verstanden. Genug zum Korre spondieren ist es nicht. Ich würde es indes gern lernen, wenn es verlangt wird * „Das muß ich sagen,* warf der alte Herr gutgelaunt ein: „Eine energische und bereit willige junge Dame sind Sie auf jeden Fall. Ich denke, wir machen den Versuch, wenigstens auf vierzehn Tage Probe." „O — danke I* sagte Ruth, freudig bewegt von diesem günstigen Ausgang der Sache. Dann wurde sie rot. Man merkte ihr an, daß sie mit einem Entschluß kämpfte. „Nur — Sie werden entschuldigen,* stammelte sie, „daß ich eine Be dingung daran knüpfe." Der alte Herr horchte auf, und Ruth voll endete stockend: „Wenn ich die Probezeit bestehe und fest engagiert werde, so müßte ich bitten um einen Vorschub von 100 Mark von dem mir be stimmten Gehalt." „Wenn es weiter nichts ist, Pa —," sagte der junge Herr, mit einem verständnisvollen Blick aus den Chef des Hauses. Herr Miles nickte gutmütig: „4.11 riecht, Fräulein! Einverstanden. Also vierzehn Tage Probezeit — Gehalt dreihundert Taler vorläufig. Sind Sie zufrieden?" „Mehr als das," entgegnete Ruth naiv, strahlend über das ganze hübsche Gesicht. „Dankbar bin ich Ihnen. Sie eröffnen mir ja eine Zukunft, Herr Miles!" Als sie das Haus verließ, spielte daS große Atelier mit dem blendenden Licht und den eleganten Verkäuferinnen keine Rolle mehr. Der Chef der Firma hatte einen Händedruck mit ihr auSgetauscht. Sie war angestellt — allerdings nm erst auf Probe — mit einem Gehalt, das ihren kühlsten Hoffnungen entsprach. Der erste Schritt zur Selbständigkeit war getan. Sie bemerkte die Länge des Weges nicht mehr. Die kalte Lust berührte ihre heißen Wangen wie eine Lieb kosung; der Schnee umtanzte sie in großen Flocken, als freute er sich über ihren Erfolg, und in dem weißgrauen Wirbel, bei dem nebligen Scheine der Straßenlaternen, tauchte daS Bild jenes armen, jungen Dinges auS der Wärmehalle vor ihr auf. Da nickte Ruth mit dem Kopse: „Ich vergesse dich nicht, ich habe mein Ziel vor Augen — in weiter Feme noch; aber ich bin jung und habe eine schöne, lange Zeit zum Schaffen vor mir!" Als Ruth zu Hause die große Flurtür auf stieß, wäre sie beinahe mit jemand zusammen- gerannt: „Ah — Pardon, Fräulein Gellers —* Es war Herr von Börnicke, der bei de» im- erwarteteu Begegnung ganz vergaß, daß e» daS letztemal in Ungnade von ihr entlasten worde«
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