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Allgemeiner Anzeiger : 23.11.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-11-23
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191011238
- PURL
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19101123
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-11
- Tag 1910-11-23
-
Monat
1910-11
-
Jahr
1910
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 23.11.1910
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^6me VerfLssungSLnäerrmg? In letzter Zeit ist (angesichts der Wahlsiege der Sozialdemokratie bei den Nachwahlen zum , Reichstage) wiederholt das Gerücht aufgetaucht, es sei beabsichügt, für den Reichstag das Zwei kammersystem küMführen, dergestalt, daß der Bundesrat gemeinsam mit einer der beiden Kammern Gesetze mit Rcchtslraft versehen können. Die Negierung hat mit erfreulicher Deutlichkeit erklärt, daß sie diesen Gerüchten fernstehe und daß eine so einschneidende Ver- sassungsändetung nicht geplant sei. Trotzdem wnd in verschiedenen Blättern erneut darauf verwiesen, daß lediglich das Zweikammersystem diejenigen Sicherheiten biete, die im Jnter- effe der Zukunft des Reiches unbedingt gefordert werden müßten. Dabei aber übersteht man ganz, daß die Zweite Kammer des Reichstages von der Gesetzgebung so gut wie ausgeschaitet wäre. Es ist richtig, daß auch bei dem Zweikammersystem die politischen Grund rechte des Volkes geschmälert würden, denn an dem Reichstagswühlrecht würde nichts ge ändert werden, aber die Mitglieder der Zweiten Kammer könnten selten Einwirkung auf die Gesetzgebung nehmen, besonders dann nicht, wenn die Mitglieder der Ersten Kammer zum Teil aus besonderem Vertrauen des Bundes- sürsten berufen werden und wenn ausdrücklich die Bestimmung getroffen würde, daß der Bundesrat in Verbindung mit einer der beiden .Kammern Gesetze verabschieden kann. Abge sehen von der Regierungserklärung ist aber an die Einführung des Zweikammersystems auch schon deshalb nicht zu denken, weil die Mehrheit des Reichstages niemals Ihre Zustimmung geben würde. Wenn demgegenüber behauptet wird, die Reichs- regterung könne auf Grund einer kaiserlichen Verordnung und eines eigens für diesen Zweck erlassenen Wühlreglements die zwei Kammern ohne weiteres berufen, wenn sich ergeben sollte, daß mit dem Reichstage nicht fruchtbringend zu verhandeln sei, so darf doch nicht vergessen werden, daß eine solche Maßnahme einem „Staatsstreich" ähnlich sein würde, wie in einer Besprechung dieler Frage der berühmte Straßburger Staats rechtslehre! Professor Laband eingehend darge- stellt hat. Andre Staatsrechtslehre! find darüber zwar andrer Meinung, es kommt aber auch gar nicht auf die staatsrechtliche Benennung der Sache, sondern auf ihre praktische Wirkung an und die wäre eben die, daß das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht nicht mehr dazu führen könnte, im Reichstagshause ! olle Volksboten gleichmäßig an der Gesetz- gebuMacbeit zu beteiligen. Freilich, wenn die letzten Nachwahlen zum Reichstage einen Schluß auf Sie Srimm««g im Lande, und damit auf dm Ausfall der kommenden Neuwahlen zulassen, erscheint die Möglich keit nicht ausgeschlossen^ daß die Regierung sich einer Mehrheit gegenübersieht, mit der die Ge schäfte zu führen sie sich außerstande sieht. Aber diese Möglichkeit ist doch immerhin nur eine sehr geringe und Wahlen haben — nach bismarckischem Wort — noch immer enttäuscht. Selbst wenn aber der Fall emtreten sollte, daß; eine regierungsfeindliche Mehrheit in Las Reichstagihaus zieht, so würde eine Änderung § der Reichsverfassung in dem angedsuteten Sinne zwar dazu führen, den Kammern (besonders der Ersten) ein andres Gepräge zu geben; nie und nimmer aber würde die durch solchen Ausfall der Wahlen kundgewordene Mißstimmung im Lause durch das Zweikammersystem behoben werden. Ler Regierung aber wird vor allem daran liegen, Mittel und Wege zu finden, die in der ! Bevölkerung herrschenden Gegensätze zn über- i brücken, nicht sie zu vertiefen. Nicht alle Maß- i nahmen finv gut, die vor dem kritischen Blick i des Rechtskenners sich als gesetzlich zulässig er- i weisen. Auf der anveru Lene darf der Hoff- ! nung Raum gegeben werden, caß grraoe m! dieser krisenschwsren Zeit die Volksvertreter den richtigen Maßstab zwischen Reds und Tat finden werden. Reichsduma und persisches Parlament, die Türkenkammer und dis griechische Nostonalversammlung sind gescheitert, weil die Mehrzahl ihrer Mitglieder in ernster Zeit über zum Fenster hinausgesprochene Worte nicht an die Notwendigkeit der Tat dachten. Wer aber in die Weite wirken will, muß Wort und Tat harmonisch vereinen. Wenn alle Faktoren sich an den Gedanken gewöhnen, daß die „innere Politik" eines Landes das Gleichgewicht der Kräfte Herstellen und die Wohlfahrt aller Lolks- klassen fördern soll, dann wird die Krise, in deren lähmendem Bannkreis Deutschland gegen wärtig steht, ohne die Anwendung außer gewöhnlicher Mittel überwunden werden. Politische Kunälcbau. Deutschland. * Kais er W i lh elm hat in Kiel an der Vereidigung der Maünerekruten teilgenommen. *Der Bund es rat hat dem Entwurf eines Gesetzes gegen Mißstände im Heil gewerbe zugestimmt. * Die Einnahmen des Reiches an Zöllen für die Zeit vom 1. Avril bis Ende Oktober 1910 betrugen 359.7 Millionen. Davon brachte die Tabaksteuer 7,7, die Zigarettensteuer 13,2, die Zuckersteuer 86,9, die Salzsteuer 31,4, Verbrauchsabgaben für Branntwein 87, Schaum weinsteuer 5,6, Leuchtmittelsteuer 5, Zündwaren steuer 7,8, Brausteuer und Mergangsabgabe von Bier 62,1. Die gesamte Jsteinnahme des Reichs für die ersten sieben Monate beträgt danach 830,3 Millionen, während nach dem Voranschlag die Einnahme für das ganze Rech nungsjahr 1910 mit 1540 Millionen berechnet waren. Die Zölle waren auf 631,9 Millionen veranschlagt worden, die Tabaksteuer auf 14,4, Zigarettensteuer auf 23,7, Zuckersteuer auf 147,2. *Jm Reichsschatzamt ist man gegenwärtig mit der Zusammenstellung der Ergebnisse be- beschäsiigt, die die jüngsten Besprechungen mit den verschiedensten Interessentenkreisen über die Reichszuwachssteuer gezeitigt haben. Sie werden Lei den nächstens beginnenden Verhaus lungen zwischen dem Reichsschatzsekretär und den Reichstagsparteien wegen der anderweitigen Ge staltung der Kommissionsbeschlüsse über den Ent wurf eines ZuwachLsteuergesetzes zu Rate gezogen werden. *Zu den bevorstehenden Beratungen der Justizvorlagen im Reichstage wird berichtet: An erster Stelle, und zwar noch im November, soll der Entwurf eines Gesetzes betr. Änderung des Strafgesetzbuches verabschiedet werden, über den bereits der Kommiisionsbericht erstattet, und der daher auch zur zweiten Lesung reif ist. Die übrigen großen Vorlagen der Reichs-Justizverwaltung: die Änderung der Sirasprozeßorönung, des Ge richtsverfassungsgesetzes und des zugehörigen Einführungsgesetzes sollen Ende Januar zur zweiten Lesung gelangen. * Die bayrischeRegierung hat, nach dem die bisherigen Versuche gute Ergebnisse gezeitigt hqben, beschlossen, die wöchentliche Ein fuhr von zusammen 1270 Schlachtrindern und 1660 Schweinen in die Schlacht- und Vieh höfe der g>öheren Städte dauernd zu gestatten. lFrantreicv. * Herr Briand, der vielangefeindete Ministerpräsident, darf einen neuen Erfolg ver zeichnen. Dieser Tage hat der d e m o kr ati s ch- republikanische Bund, dessen Einfluß beständig Mimmt, einen Beschluß angenommen, worin er erklärt, daß die republikanyche Mehr heit der Kammer die treue Dolmetscherin des allgemeinen Gefühls im Lande war, als sie sich entschieden für die Lriandsche Politik des Widerstandes gegen die Anarchie und des Fortschritts in gesetzlicher Ordnung und gejelljchastuchem Frieden aussprach. * König Georg beabsichügt, in B^gkeiinna ^Ver Gemahlin Indien zu besuchen, um am 1. Januar 1912 eine Krönungs- Feierlichkeit in Delhi abzuhalten. Belgien. *Cooreman, der wiedergewählte Präsident des belgischen Abgeordnetenhauses, stellte in einer längeren Rede mit Genugtuung den herz lichen Empfang fest, mit dem das Ausland die Thronbesteigung des Königs begrüßt habe. Er bemerkte weiter, die in Potsdam, Paris, Amsterdam, Wien und Brüssel ausge tauschten Reden hätten alle Staatsoberhäupter und Völker in der gleichen Versicherung frei mütigster Sympathie miteinander verbunden, die ein Unterpfand bilde für ein gutes internatio nales Einvernehmen. Cooreman sprach zum Schluß den Mächten den Dank aus für die Beweise von Sympathie, die sie durch die Be teiligung an der Weltausstellung in Brüssel an den Tag gelegt hätten. Portugal. * Der Ministerpräsident Braga hat gegen über dem Vertreter eines Lissaboner Blattes erklärt, die Regierung beabsichtige, so bald als möglich ein neues Gesetz, durch welches das allgemeine Wahlrecht eingeführt wird, zu verkünden. In Anbetrachr der Zeit, welche die Vorbereitungen für die Durchführung der neuen Wahlordnung und dis auf Grund der selben zu vollziehenden Wahlen beanspruchen werden, sei vorauszusehen, daß der Zusammen tritt der konstituierenden Kammer erst im März 1911 erfolgen dürste. Diese Kammer werde die Ausgabe haben, die neue Verfassung zu ver kündigen. Ruhland. *Die Reichsduma hat sich endlich wieder einmal zu einer Tat aufgerafft. Sie hat einen Antrag angenommen, wonach in das Unterrichtsprogramm der Volksschulen die Lehre über die Schädlichkeit deS Alkohol- genusse 8 ausgenommen werden soll. Vie Moabiter Umwalle vor Gericht. In dem großen Prozeß, der sich in Berlin- Moabit wegen der Krawalle abspielt, die sich hier vor einiger Zeit ereigneten, kommen die Verhandlungen nur langsam vorwärts. Die Vernehmung der Angeklagten gestaltet sich zu dem ziemlich einförmig. Die Mehrzahl leugnet jede Schuld an den Krawallen, während sie zu gleicher Zeit erklärt, da- Vorgehen der Polizei habe aufreizend wirken müssen. Es ist be merkenswert, daß fast alle vor den Schranken des Gerichts Stehenden (mit Ausnahme der Frauen natürlich) angeben, sie seien an den für die Anklage in Frage kommenden Tagen ziem lich stark angetrunken gewesen, so daß sie sich an den Verlauf der Dinge nicht mehr genau erinnern. Ebenfalls übereinstimmend bekunden die Angeklagten, soweit sie während der Unruhen in Hast genommen wurden, daß man sie auf der Polizeiwache misshandelt habe. So erklärt die Angeklagte Frau Sattler, die beschuldigt wird, vom Balkon ihrer Wohnung ! aus in der Wiclefstraße den Schutzleuten das Wort „Bluthunde" zu prüfen und sie dadurch beleidigt zu haben, daß die Anzeige wider sie nur aus Rache erfolgt sei. In der Wiclefstraße hätten sich nur Schutzleute in Unisocm und Zivil aufgshaiten. Vom Publikum seien nur Leute durch die Straße gegangen, die in der Wiclefstraße wohnten oder vor den Haustüren ! standen, um frische Lust zu schöpfen. Alle seien sofort mit Schlägen von Schutzleuten traktiert worden, die auf die Passanten wie wilde Tiere losgestürzt seien. Bei diesen Angaben bleibt die Angeklagte, obwohl der Vorsitzende ihr wiederholt vorhäll, daß nach ihrer Aussage I also das Schlagen die ganze Arbeit der Polizei gewesen wäre und sie Weiler nichts zu tun ge- habt hätte. Die nächsten sechs Angeklagten be- : Haupte», sie seien ohne ihre Absicht m die Menge i gr aien und hätten durchaus nichts getan, was , ! Mr Bei Haftung und dre Anklage rechtfertigt. ! ' Eigenartig ist es dem Angeklagten Richaro ! Eisenreich, einem Barbiergehilfen, ergangen. Nach seiner Behauptung hat er zur BibMunde der Heilsarmee gehen wollen und ist plötzlich in eine Menschenmenge geraten, aus welcher der Ruf „Haut ihn!" ertönte. Aus Übermut habe er gleichfalls „Haut ihn!" gerufen, ohne recht zu wisse», was loS sei. Da sei er von Schutzleuten gepackt und gewaltsam nach der Wache gebracht worden Seine Gesinnung sei durchaus nicht znm „Aufruhr" hinneigend, und er würde es für sehr unrecht hasten, wenn man sich gegen die Obrigkeit auflehne. Wie dieser Angeklagte stellen auch die meisten andern ihre Vergehen als ganz harmlos hin. Während der Verhandlung stellten die Verteidiger erneut HaftentlassungsantrSge. Nach kurzer Beratung beschließt das Gericht, drei Angeklagte, darunter den Barbier Eisenberg, aus der Haft zu ent lassen, so daß von den 34 noch 16 Angeklagte in der Untersuchungshaft verbleiben. Die Sitzung wurde sodann vertagt. Nachdem die Vernehmung der Angeklagten beendet war, begann die Beweisaufnahme. Als erster Zeuge wird der Polizeimajor Klein ver nommen, der der Führer der Brigade ist, zu deren Revier der Moabiter Stadtteil gehört. Der Zeuge gibt eine Schilderung der Vorgänge, die sich vor den eigentlichen Unruhen in Moabit ereignet hatten. Er habe, als am 19. Ssp- l emo er bei der Firma Kupfer u. Komp, der Streik ausgebrochen sei, lediglich eine Ver stärkung der in Frage kommenden Polizei reviere angeordnet. Bis zum Morgen des 23. September sei alles noch verhältnismäßig ruhig gewesen. Erst als dann am Mittwoch in der Beufselstraße und an der Gotzkowskybrücke ernstere Angriffe auf Kohlenwagen unternommen waren, sei die Polizei einge schritten. Er, Zeuge, habe es sich zunächst zur Aufgabe gemacht, Leben und Eigentum zu schützen und jeden Widerstand unter allen Um ständen zu brechen, um die Autorität der Be hörde zu wahren. Als am 24. in der Rostocker Straße ein Kohlenwagen von Leuten, die aus umliegenden Schanklokalen zuiammengsslrömt wa:en, angegriffen worden war, die Geschirre zerschnitten und die Kohlen auf den Straßen damm geworfen waren, gaben die Polizei offiziere den Befehl zum Dreinschlagen. Er. Zeuge, habe sich gleich gesagt, daß es noch zu ernsten Zusammenstößen kommen würde, da die Menschenmenge nicht nur gegen die Kohlen wagen, sondern auch gegen die Polizeibeamten tätlich werden würde. Der Zeuge fährt fort: Ich ordnete deshalb an: In erster Linie Schonung, sich durch nichts reizen lassen, weder durch Schimpfworte noch durch S einwürfe, sondern nur auf den Befehl der Offiziere blankziehen ! Ebenfalls ersuchte ich die Offiziere, ehe sie den Befehl zum Treinschlagcn geben, es erst mit Güte zu versuchen. Der Leutnant Sommer hat dies auch mehrmals versucht. Als jedoch seine wohlgemeinte Aufforderung mit Heulen, Johlen und Sieinwürfen beantwortet wurde, mußte er Befehl zum Losschlagen geben. Die Leute haben ruhig dagestanden und find erst auf Befehl der Offiziere vorgegangen. Ich kann den Mannschaften hier vor Gericht nur das beste Zeugnis ausstellen. — Vors.: Aus welchen Elementen bestand wohl die sich znsammen- rottende und lärmende Menschenmenge? — Zeuge: Es war ia viel Janhagel dazwischen, aber man hatte doch den Eindruck, daß auch viele Arbeiter fich an den Ausschreitungen be teiligten. — Es kommt dann zu einer Ausein andersetzung zwischen dem Verteidiger Heine und dem Zeugen über die Stellung des Schutz manns zum Publikum in Preußen und in andern Ländern. Dabei erklärt der Zeuge: In andern Ländern wird der Schutzmann als rettender Engel betrachtet, wenn sich ein Kmd verlaufen hat und dergleichen, bet uns wird schon den Kindern der Schutzmann gewisser maßen als Schreckgebilde hmgestellt. Nach Beendigung der Vernehmung des Polizeimajors Klei», die mehrere Stunoen in Anspruch nahm, wurde die Verhandlung vertagt. U Vc S Mächenkeim. 4s Novelle von Antonie Andrea. !Forljetz»ng-1 c „Gern." Ruth hastete fort, und Börnicke schaute ihr fragend nach. In dieser Stunde erschien sie ihm in einem andern Lichte. Sollte sie, das praktische, frische, natürliche Mädchen, An lagen zur Schwärmerei haben, oder — zur Koketterie? Die Szene in der Wärmehalle — war sie echt oder nur aufgsführt, um auf ihn zu wirken? Dieser letzten Vermutung schämte er sich in des, als er Ruth bei dem Scheine der Straßen- lampsn kommen sah. Sie ging langsam. Etwas in ihrer Haltung drückte Enttäuschung aus. Er fragte danach und erlebte, daß sie befangen wurde. „Verzeihung, Kamerad! Ich wollte nicht indiskret sein," versicherte er schnell. „So verstand ich es auch nicht," entgegnete sie, schon wieder im Besitz ihrer Unbefangen heit. „Es gibt leider Lagen im Leben, in denen man immer „geniert" ist, wenn nicht für sich, dann für andre. Mir ist es gleich, ob Sie es wissen. Sie sind ja Arnolds Freund. Wir arbeiten nämlich für ein Geschäft. Ich habe die Sachen eben abgeliefert, aber — kein Geld be kommen. Verspätet — in der Wärmeholle. Das ist alle». Ich werde Ihnen nun meine Schulden dmch Arnold abtragen lassen!" „Aber liebste Kamerad — das eilt doch nicht! Außerdem, ich gebe häufig genug unnütz Geld aus, wollen Sie mir diese kleine Freude des Wohliuns nicht gönnen?" Sie schüttelte den Kopf: „Ach Sie können fich diese Freude aus eigenen Stücken leisten, so oft Sie wollen! Mit mir ist es anderst Ich kann mich höchstens gelegentlich beschämt fühlen, daß ich zu essen und warme Kleider an zuziehen habe, wenn Hunderte von armen Leuten hungern und frieren." „Na, na—chen!" sagte er gutmütig mit einem Seitenblick aus ihren nichts weniger als eleganten Mantel. „Wenn wir alle so dächten, dann würde ja kein Mensch mehr seines Lebens froh. Im übrigen gibt es Hunderte von recht schaffenen Menschen in einer Stadt wie Berlin, die der öffentlichen Wohltätigkeit zwar nicht zur Last fallen, die aber gewiß schwerer arbeiten, mehr leiden und entbehren als die meisten von unsern Leuten aus der Wärmehalle. Ich kenne z. B. ein liebes, tapferes Mädchen na, ich wag nicht daran rühren, um nicht zu „genieren", wie es bei Ihnen heißt." Er drückte leise ihren Arm. Sein Herz war mächtig erwärmt für fie in diesem Augen blick. Doch fie verstand nicht. Ihre Seele war voll von andern Dingen. Er merkte es und kam sich selbst etwas lächerlich vor, als sie unvermittelt sagte: „Wissen Sie, was ich möchte?" „Nun — wenigstens ein Engel sein —" „Nein, danke! Eine reiche Frau möchte ich werden." — „Heiraten Sie doch schnell einen Krösus von Brasilianer, wie Ihre Seelenschwestern in unsern Familienbiättern mit Vorliebe tun!" spöttelte er. „Durch meine eigene Arbeit," fuhr sie un beirrt sort. „Viel Geld möchte ich verdienen,' frei und selbständig sein. Dann gründete ich ein Mädchenheim — eines für solche, wie die Arme aus der Wärmehalle. Alle sollten dort ein Obdach finden, die keines haben in ihrer eigenen Familie, und lernen sollten sie, fich ihr ehrliches Brot zu verdienen, und als brave, gute Menschen ihren Platz in der Gesellschaft auszufüllen." „Sie kleine Schwärmerin!" sagte er ge rührt. „Nein, es ist mein Ernst!" entgegnete fie lebhaft. „Warum sollte es nur eine Schwär merei sein? Ich bin jung und gesund. Ich kann arbeiten — immer dieses eine schöne Ziel vor Augen. Warten Sie nur. Ich bringe es doch noch zustande." Sie lachte; aber durch ihr Lachen klang es wie ein feierliches Gelöbnis. Er wurde ganz gedankenvoll, und mit den Neckereien zwischen ihnen war es für diesmal aus. Vor der Tür verabschiedete fich Herr von Börnicke ; Ruth war nachher froh, daß er es getan hatte, denn anstatt eines glücklichen Braut paares traf sie zu Hause eine verstimmte Fnmilie, Mutter und Bruder sich gegen Marga ereifernd, die Doktor Brandin ohne Umstände einen Korb gegeben hatte. Viel fehlte nicht, so hätte sie ihm auch ihre Gründe gesagt: „Ich kann Ihre spießbürgerliche Mutter nicht leiden, und Sie find mir zu arm." Ihr Taktdefühl veranlaßte sie indes hinauszugehen und sich in ihr Stübchen einzuschließen, während Dr. Brandin, niedergeschmettert, ins Herz getroffen, seinen Rückzug »ahm. Frau Gellers weinte dem jungen Philologen aufrichtige Tränen nach. Es tat ihr wirklich leid, ihn zu verlieren. Arnold mußte sie schließlich beschwichtig«!. „Ach was, Mama! Er wird es bald über winden. Du überschätzest das Herz der jungen Herren von heute. Außerdem — eine Partie, der man nachweinen sollte, ist er doch keines wegs für unsre Marga. Sie wird schon wissen, was sie tut." „Wenn sie uns nun sitzen bleibt —" „Sie wird nicht — verlaß dich daravf, Mama. Ein so schönes, fein erzogenes MLd- chen. Mir kam es beinahe vor, als ob Börnicke ein Auge auf sie geworfen hätte. Da begreife nur einer, warum sie fich überhaupt mit Brandin abgab." Marga selbst begriff es Wohl kaum; fie zer brach fich auch nicht den Kopf darüber; denn als Ruth später her«nkam, fand fie die Schwester mollig im Bette bei der Küchenlmnpe und der Fortsetzung eines Romans aus der Morgenzeitung. „Aber du — ich falle aus den Wolken!" sagte Ruth aus vollem Herzen. „Bist du dem armen Doktor denn nicht gut gewesen?" „Ach, man redet sich zuweilen die größten Dummheiten ein," entgegnete das schöne Mädchen mit einem Ansatz zum Gähnen. „Wenn es nachher zum Klappen kommt, merkt man es erst. Ich lasse morgen inserieren. Ge sellschaftsfräulein haben schon öfters ihr Gl-ck im Leben gemacht. Sollte es mir nicht ge- lingen — nun, einen Doktor Brandin bekomme ich noch alle Tage in den nächsten zehn Jahren."
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