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„Auf welcher Treppe?" forschte Tante Claudine mit höchst mißtrauischem Interesse. „Zum Bahnsteia Nollendorfplatz, Hochbahn, gnädige Fran! Fräulein Walberg hatte ihre Fahrkarte' verloren und ich war so glücklich, sie zu finden!" log er mit der Gewandtheit eines Hochstaplers, ohne auch nur mit der Wimper zu zucke». „Ja, ja, so sind die jungen Mädchen von heute!" orakelte darauf Taute Claudine. „Dankbarkeit für Ritterdienste ken nen sie nicht!" „Verzeihen Sie, gnädige Frau; aber ich hege von dem gnädigen Fräulein eine viel bessere Meinung! Es ist nur die Ueberraschung, die sie so verwirrt macht. Gelegentlich frischen wir unsere. Berliner Beziehungen schon noch bei besse rem Humor auf, nicht wahr, Fräulein Walberg?" „Wenn es Ihnen Vergnügen macht?!" bemerkte Käthe nicht ohne eine leise Bitterkeit, die ihn jedoch durchaus nicht zu berühren schien. „Uebrigens möchte ich noch fragen: hat der hünenhafte Mensch auf der Promenade vorhin Sie irgendwie belästigt?" erkundigte er sich mit einer Teilnahme, die Tante Claudines ganzes Herz gefangen nahm, noch ehe sie wußte, welch eine Be- c-eguung Käthe gehabt hatte. „Was für ein Mensch Ivar denn das?" fragte sie in leb hafter Entrüstung. „Ich habe ihn nicht gekannt!" gab Käthe fast unwillig Auskunft. „Und belästigt hat er mich durchaus nicht. Er er kundigte sich nur etwas ungeniert nach den Kindern, für deren Gouvernante er mich ansah . . ." „Kannten Sie ihn denn, Herr Doktor?" Wandte sich die Tante an Sartorius. „Allerdings!" nickte er vielsagend. „Wenn auch noch nicht lange!" „War es Kleeberg?" fragte die Tante erregt. „Ganz recht!" entgegnete er. „So eine Unverschämtheit!" redete die Tante sich in Hitze. „Auf dem Gericht verlangt er, daß ich schwören soll, als ob ich eine Betrügerin wäre — und auf der Straße molestiert er meine Angehörigen!" „Er wußte ja gar nicht, wer wir waren!" nahm Käthe seine Partei. „Na .. .?!" warf der Assessor zweifelnd ein. „In so einem Nest Ivie Vollradseichen kennen einen die Leute schon, ehe man die Kupeetür auf dem Bahnhof aufgemacht hat!" „Hoffentlich hast Du ihm gesagt, in welches Haus Ihr gehört?" „Ich hatte keine Veranlassung!" entgegnete Käthe kühl. „Man macht als Großstadtkind sehr früh die Erfahrung, daß man sich den Leuten gegenüber so reserviert wie möglich zei gen muß, wenn man sich vor zweifelhaften Bekanntschaften schützen will!" „Das ist eine Bemerkung, der ich nur beipflichten kann!" sagte der Assessor zustimmend. „Womit ich natürlich nicht er klärt haben will, daß unser verehrter Prozeßgegner, Herr- Kleeberg, nach irgend einer Seite hin anrüchig wäre. Dazu kenne ich ihn vorläufig noch viel zu wenig. Gefallen hat er mir allerdings im Termin vorhin ganz und gar nicht!" „Und da haben Sie eine sehr zutreffende Meinung von dem Manne!" versicherte die Tante scharf. „Er ist ein Aben teurer, ein Durchgänger, der mit 17, Jahren schon heimlich das Vaterhaus verlassen hat, um sich an eine Schauspielerin zu hängen, anstatt die Nase in die Bücher zu stecken und trocken hinter den Ohren zu werden!" „Aha!" rief triumphierend Sartorius, während die Tante fortfuhr: „Wenn ihn: nicht nachher trotz alledem das große Erbe zugefallen wäre, wer könnte wissen, wo er jetzt herum- vagabondierte! Gut, daß Du ihn gleich hast ablaufen lassen, Kind! Denn der Mann ist Luft für uns, ein für allenial: Luft! Verstehst Du? . . . Natürlich gefielen ihm die Kinder? Oder hat er sich etwa erlaubt . . .?" Käte zuckte die Achseln. „Ob sie ihm gefallen haben!" warf lächelnd Sartorius hin und tätschelte den beiden kleinen Schneevoigts die blon den Köpfe. „So entzückende Kinder! . . . Nicht wahr, Du hübsches Kerlchen?" Damit hob er Fritzis Kopf mit einem schmeichelnden Griff unter das Weiche Grübchenkinn ein wenig nach oben und sah dem Bürschchen wie ein verliebter Onkel in die braunen Augen. „Nicht doch, Herr Doktor!" bemerkte Tante Claudine halblaut. „Es sollen doch Menschen werden und keine Affen!" „Sie haben recht wie immer, gnädige Frau!" erklärte er. „Aber es wird einen: schwer, seinen Enthusiasmus zu dämpfen solchen Raffaelsköpfchen gegenüber!" „Ach was, R^faejZMpscheu! Das ist mir gerade das richtige Beispiel! HLiösecleinen bequemen Flegelchen an der Sirtiuischen Madonna wären .mir schöne Muster! Artig und manierlich: das muß in dem Älter Numero eins sein. Hof fentlich waren sie es unterwegs?" t Die Frage war an Käthe gerichtet, die einen unsicheren Vittblick Fritzis aufsing und sich daraushin mit einer diplo matischen Zweideutigkeit begnügte. „Wie immer!" antwortete sie, den anfatmenden Neffen mit einer ernsten Miene verwarnend. „Na selbstverständlich!" bemerkte daraufhin Dr. Sarto rius. „Wenn man mit einer so lieben und — hübschen Tante spazieren gehen darf, wird man doch nicht unartig sein, was, Bubi?" „Nun, dann dürft Ihr heute nachmittag auch mit zum Badekonzert!" verhieß ihnen mit hochgezogenen Brauen Tante Claudine. Sie wollte damit ihrem strengen Antlitz einen Ausdruck von wohlwollender Zufriedenheit geben. Susi hatte indessen eine gegenteilige Auffassung davon und zog ein ver dächtiges Schüppchen. Tante Käthe hatte Not, einen Tränenerguß zu ver hindern. Mathilde war inzwischen immer ungeduldiger geworden. Sie klapperte jetzt nebenan mit Tellern und Kompottschüsseln, als habe sie die wütende Absicht, das ganze Service zu ruinie ren. Das Signal half. Der Assessor griff aufs neue zu sei nen Akten und sah sich nach seinem Zylinder um. „Auf Wiedersehen, gnädige Frau!" sagte er, sich verbeu gend. „Vielleicht schon heute nachmittag im Kurkonzert!" ' „Ah, kommen Sie auch?" fragte die alte Dame erfreut. „Ich will sehen, ob ich ein Stündchen dafür erübrigen kann!" „Das ist vernünftig!" lobte sie ihn und streckte ihm die Hand hin, die er artig an seine Lippen führte. Käthe sah angelegentlich zum Fenster hinaus. Ihr ekelte vor der Be rührung seiner glatten, kalten Finger. Aber diesmal zwang er sie doch. „Wenn's Ihnen recht ist, gnädiges Fräulein, plaudern wir dann noch einmal nach Herzenslust von unserem schönen Berlin!" sagte der Assessor im Biedermannston und trat ihr näher. Ach, und sie hörte beklommenen Herzens die versteckte Drohung aus seinen so harmlos klingenden Worten heraus. Erschrocken mußte sie zu ihm aufblicken, und da war es nun mehr unmöglich, seine Hand zu übersehen. Zudem rief er unverfroren: „Eingeschlagen! Wir wer den schon etwas herausfinden, was uns einander näher bringt! Meinen Sie nicht auch?" Sie nickte nur verängstigt und legte ihre Hand in die seine, die er mit feuchtem Druck preßte, als verknüpfe sie wirk lich ein leises Band der Freundschaft. Und mit einem über legenen Lächeln empfahl er sich endlich . . . Die Kartoffeln waren wirklich „abschmeckig" geworden, was Mathilde mit einer Duldermiene beim Aufträgen kon statierte. Aber Tante Claudine nahm nicht weiter Notiz da von. Ihr war Weißbrot sowieso lieber. Außerdem ging ihr der Bericht des Assessors noch durch den Kopf. „Dieser Sartorius ist ein sehr angenehmer und dabei kluger Mensch!" begann sie endlich nachdenklich, nachdem der Braten verzehrt war. „Viel intelligenter und beweglicher als Goslich, der mir die Geschichte doch beinahe durch einen kläg lichen Vergleich verkorkst hätte, wenn ihm eine höhere Hand nicht mit einem Herzklappenfehler dazwischen gefahren wäre. Er wird übrigens Goslichs Praxis hier wohl definitiv über nehmen, wie er mir auvertraut hat. Ich finde das für mich sehr vorteilhaft. Den Prozeß gegen die Elvira, das Frauen zimmer, hat er mir auch gewonnen vorgestern. Wenn's nach Goslich gegangen wäre, hätte ich ohne Mucken bezahlt, was die Bande forderte." „Was für ein Prozeß war denn das?" erkundigte sich Käthe mehr höflich als neugierig. „Ich hatte der Mathilde im Frühjahr eine Hilfe ins Haus genommen wegen ihres Rheumas. Es war eine Sechzehnjährige drüben aus Buchstetten. Wie eine Heilige sah sie aus, so unschuldig und brav, und tat so, als ob sie am liebsten gleich Nonne geworden wäre! Ich hielt aber doch die Augen offen. Und richtig: eines Tages suche ich sie im Haus, unten und oben, im Garten, am Trollbach drüben; das. Ding mit dem verdrehten Namen, der zu ihr paßte wie die Zitrone zum Schweinskopf, war fort! Aber auch wie weggeblasen! Nirgends zu finden!" berichtete Tante Claudine. (Fortsetzung folgt.)