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Allgemeiner Anzeiger : 18.05.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-05-18
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191005181
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19100518
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19100518
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-05
- Tag 1910-05-18
-
Monat
1910-05
-
Jahr
1910
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 18.05.1910
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Roosevelt in der Berltner Universität. Expräsident Roosevelt hielt in der Berliner Universität seine mit großer Spannung er wartete Vorlesung über die Weltkultur bewegung. Dem feierlichen Akt wohnten das Kaiserpaar, die kaiserlichen Prinzen, der Reichs kanzler und viele Würdenträger bei. Ehe Roosevelt das Wort ergriff, wies der Rektor der Universität auf die Verdienste des Präsidenten hin. Der Rektor schilderte den Lebensgang Roosevelts, seine Abenteuer mit den Cowboys, seine Rauhreiter-Exvedition nach Kuba, seine Tätigkeit als Polizeigouverneur, dann als Vizepräsidenten und schließlich als Präsidenten der Ver. Staaten. Der Rektor schloß mit den Worten: „Sie kamen im Jahre 1873 zum ersten Male als bleicher, kränklicher Knabe nach Deutschland. Durch unbeugsame, selbst bewußte Willenskraft, durch nimmermüde Übung des leiblichen Sports baben Sie sich gesund gemacht und geheilt und Ihr Ziel erreicht. Da durch find Sie ein Mann geworden, dankbar kür das Eisen im Blute Ihrer Väter, die aus Holland nach Amerika gezogen sind, ein Mann von weitem Blick und strengster Pflichterfüllung. So leuchten Sie auch der deutschen akademischen Jugend voran." — Dann begann Roosevelt reine Vorlesung. Nach einem Überblick über die ältesten Kulturzeiten, von denen wir wissen, kam der Redner auf das geschichtliche Altertum und zeichnete in raschen Zügen, was wir den Juden, den Römern und den Griechen zu danken haben. „Auf geistigem Gebiete steuerten die ersteren eine Religion bei, die der stärkste oller Faktoren in der Einwirkung auf die weitere Entwickelung der Menschheit gewesen ist, aber kein andrer Beitrag der Juden kann sich mit dem messen, was uns die Griechen und die Römer binterlassen haben. Zum erstenmal begann da etwas, was wenigstens eine Weltbewegung in dem Sinn andeutete, daß es einen erheblichen Teil der Erdoberfläche betraf, und daß es das unverhältnismäßig wichtigste aller Ereignisse der Weltgeschichte jener Zeit bedeutete." Mit be geisterten Worten schilderte Roosevelt diese Glanz zeit des Altertums. „Ihr folgte nach raschem Verfall eine lange Zeit der Finsternis, von der die Menschheit sich erst nach einem Jahrtausend langsam wieder erhalte. In vieler Hinsicht übertraf das Mittelalter aus dem einfachen Grunde, daß es christlich war, die glänzende heidnische Kultur der Vergangenheit. Es kamen dann die Zeiten des Mohammedanismus und der furchterregenden Erobererscharen aus d^r unbe kannten Weiten Mittelasiens, der Hunnen und Avaren, Mongolen, Tataren und Türken. End lich, vor etwas über vierhundert Jahren, wurde die unterbrochene Bewegung in der Richtung auf eine Weltkultur von neuem ausgenommen. Der Beginn dieser neuen Bewegung kann als ungefähr mit der Erfindung der Buchdruckerkunst und mit der Reihe von kühnen Seeabenteuern, die in der Entdeckung Amerika- gipfelten, zeitlich zusammenfallend angenommen werden; und nachdem diese beiden epoche machenden Ereignisse begonnen hatten, ihre volle Wirkung auf das materielle und intellektuelle Leben auszuüben, wurde es unvermeidlich, daß von da an die Kultur nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach sich wesentlich von allem Vorhergegangenen unterschied." Damit kommt der Redner zum Erwachen des modernen Geistes und mit immer begeisterter werdenden Worten schildert er den Einfluß, den Dampfkraft und Elektrizität auf die Kulturbewegung gehabt haben. „Kräfte de- Guten wie des Böse« treten überall hervor, jede mit hundert- oder tausendfach vermehrter Kraft gegen die früherer Jahrhunderte wirkend. Über die ganze Erde gehen die Pendelschwingungen immer schneller und schneller, die Hauptfeder zieht sich zusammen und schnellt vorwärts in immer schnellerer Be wegung, die gesamte Weltkulturbewegung nimmt beständig an Geschwindigkeit zu " . . zeigt nun Ähnlichkeiten und Ume.Medr r früheren und der heutigen Kultur auf. be sonderen Nachdruck legt Roosevelt auf folgenden Unterschied: „In der griechischen und römischen Kriegsgeschichte zeigt sich ein andauernder Über gang von einem Heer von Landeskindern zu einer Armee von Söldnern. Jetzt aber, in unsern modernen Zeiten, ist das gerade Gegen teil der Fall. Ein andrer starker Gegensatz zwischen dem Lauf der Entwickelung moderner Kultur im Vergleich mit den späteren Stadien der griechisch-römischen oder klassischen Kultur ist in den Beziehungen zwischen Reichtum und Politik zu finden. In den klassischen Zeiten, als sich die Kultur ihrem Höhepunkt näherte, wurde die Politik ein anerkanntes Mittel zur Erwerbung großer Reichtümer. Cäsar stand immer wieder am Rande des Bankrotts; er gab ein unge heures Vermögen aus und entschädigte sich dafür durch das Geld, das er durch seine politische Lausbahn erwarb. Augustus stellte das römische Kaiserreich auf feste Grundlagen mit dem riesigen Vermögen, das er durch Plündern erworben hatte. Was für einen Gegensatz bietet hierzu die politische Laufbahn eines Washington und Lincoln (Präsidenten der Ver. Staaten)! Es gab auch in alten Tagen einige Ausnahmen, aber die riesige Mehrheit der Griechen und Römer betrachteten, im Höhe- punkt ihrer Kultur, den Gelderwerb in großem Maßstab als Teil einer erfolgreichen politischen Laufbahn. Das alles steht in schroffem Gegen satz zu dem, was sich in den letzten zwei oder drei Jahrhunderten ereignet hat. Reiche Leute üben immer noch einen großen und manchmal unlauteren Einfluß auf die Politik aus, aber es ist meist ein indirekter Einfluß, und in den vorgeschrittenen Staaten wird der bloße Ver- dacht, daß der Reichtum von Männern des öffentlichen Lebens durch ihre öffentliche Lauf bahn erworben oder vermehrt worden sei, sie von weiterer Betätigung im öffentlichen Dienst ausschließen. Wohin drängt nun die Kultur bewegung ? Soll auch die moderne Kultur wie die alten Kulturen verschwinden? Wir dürfen nicht sicher sein, daß die Antwort verneinend lauten wird; aber dessen können wir sicher sein, daß wir nicht untergehen werden, es sei denn, daß wir m»ser Ende verdienen. Unser Sturz ist nicht notwendig; wir können uns unser Geschick selbst gestalten, wenn wir nur den Witz und den Mut und die Ehrlichkeit dazu besitzen. Ich persönlich glaube nicht, daß unsre Kultur untergehen wird. Ich glaube, daß wir im ganzen besser und nicht schlimmer ge worden sind. Aber sicherlich werden sich die goldenen Ruhmesträume der Zukunft nicht er füllen, wenn wir sie nicht mit hochgemutem Herzen und mit starker Hand, durch unser eigenes tatkräftiges Handeln zur Erfüllung bringen. Wir, die Männer von heute und der Zukunft, bedürfen vieler Eigenschaften, wenn wir unser Werk gut tun wollen. Wenn der Durchschnittsmann nicht arbeiten will, wenn er in sich nicht den Willen und die Kraft hat, eia guter Gatte und Bater zu sein, wenn die Durchschnittsfrau nicht eine gute Hausfrau ist, eine gute Mutter vieler ge sunder Kinder, daen beginnt der Staat zu wanken, dann wird er untergehen, gleichgültig, wie glänzend seine künstlerische Entwickelung oder seine materielle Leistung ist. Aber diese hausbackenen Eigenschaften reichen nicht aus. Es muß jene Organisationskraft hinzukommen, jene Fähigkeit, gemeinsam zu einem gemein samen Ziel hinzuarbeiten, welche das deutsche Volk im letzten halben Jahrhundert in so hervorragender Weise gezeigt hat. Außerdem aber: die Nahrung des Geistes ist noch wich tiger als die des Leibes." Noch einmal betonte Roosevelt, daß Berstandeskraft «ie de« Charakter ersetze« kann, und schloß dann: „Endlich sollte diese Kulturbewegung der Welt, diese Bewegung, deren Pulsschlag jetzt in jedem Winkel der Erde gefühlt wird, die Völker der Erde zu ¬ sammen bringen, während sie dock im Einzel bürger jene Vaterlandsliebe unberührt läßt, die im gegenwärtigen Stadium des Weltfortschritts wesentlich für das Gedeihen der Welt ist. Sie, meine Hörer, und ich gehören verschiedenen Nationen an. Unter modernen Verhältnissen dienen die Bücher, die wir lesen, die Nach richten, die wir unsern Zeitungen telegravhieren, die Fremden, die wir treffen, die Hälfte der Dinge, die wir jeden Tag sehen und tun — alles das dient dazu, uns mit andern Völkern in Berührung zu bringen. Jedes Volk kann sich selbst nur dann Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn es gegen andre gerecht ist; aber jedes Volk kann nur dann sein Teil an der Kulturbeweguna der Welt beitragen, wenn es zunächst seine Pflicht in seinem eigenen Haushalt erfüllt. Der gute Bürger muß zuerst ein guter Bürger seines eigenen Landes sein, ebe er mit Vorteil ein Bürger der ganzen Welt werden kann. Ich wünsche Ihnen Gutes. Ich glaube an Sie und Ihre Zukunft. Ich bewundere und staune an die außer ordentliche Größe und Mannigfaltigkeit Ihrer Errungenschaften auf so weiten und so vielen Gebieten; und meine Bewunderung und meine Anteilnahme sind um so größer, weil ich so fest an die Einrichtungen und an das Volk meines eigenen Vaterlandes glaube." Nicht endenwollender Beifall lohnte den Redner, dem dann die Würde eines Ehrendoktors der philosophischen Fakultät verliehen wurde. Als Erster gratulierte Kaiser Wilhelm dem neuen Doktor. Mit der Absingung des Liedes vom Sternenbanner schloß dann die eindrucksvolle Feier. Politische Kunälckau. Deutschland» * Eine Zusammenkunft KaiserWilhelms mit dem Zaren soll während der diesjährigen Nordlandsreise des Kaisers stattfinden. Der Joss. Ztg.' wird darüber aus Cbristiania ge meldet: Hier verlautet, die russische Kaiser familie werde diesen Sommer weniger in den Finnischen Schären als in norwegischen Ge wässern und in Dänemark, vermutlich aus Schloß AMusborg, zubringen. Ein Staatsbesuch in der norwegischen Hauptstadt sei nicht vorgesehen, da der Zar den Umständlichkeiten eines solchen Empfanges entgehen möchte; Übrigens bat der König Haakon auch noch keinen offiziellen Antrittsbesuch in Petersburg gemacht. Aber eine Begegnung des Zaren mit dem König der Norweger Zolle auf der See erfolgen. * Die verstärkte Geschäftsordnungs-Kommission des Reichstages hat ihren Berickt über die Be ratung der Anträge auf Abänderung der Geschäftsordnung erstattet. Es handelt sich um neue Bestimmungen betreffs Anfragen umfassender Art, Anträge und kurze Anfragen. Die Bestimmungen gehen dahin, daß eingehende Anfragen sofort dem Reickskanzler zugehen, der spätestens am dritten Tage darüber eine Erklärung abgeben soll. Gibt der Reichskanzler die gewünschte Erklärung nicht ab oder bemißt die Frist zur Beantwortung auf mehr als vier Wochen, so beschließt der Reichstag selbständig über den Tag der Besprechung. Bei Besprechung von Anfragen über die Tätigkeit des Kanzlers dürfen Anträge gestellt werden, die dahingehen, daß der Reichstag fick über die Billigung des Verhaltens deS Reichskanzlers aussprechen möge. Anträge sollen in jeder Woche in einer bestimmten Sitzung verhandelt werden. Bei Regierungserkläruugen, die außerhalb der Tages ordnung abgegeben werden, kann eine Debatte über diese Erklärungen eröffnet werden. Die Zulässigkeit kurzer Anfragen (nach englischem Muster) wurde abgelehnt. * über einen parlamentarischen Abend beim badiichrn Minister des Innern wird der ,Köln. Ztg/ aus Karlsruhe berichtet: „An dem parlamentarischen Abend, den der Minister des Innern, Frhr. v. Bodman, veran staltete, beteiligten sich die meisten Mitglieder der Ersten und Zweiten Kammer. Dis Sozialdemokraten, die zum ersten Male ihre Karten im Hause des Ministers ab gegeben hatten, waren nahezu vollzählig er schienen. Der Präsident der Ersten Kammer, Prinz Max, unterhielt sich eingehend mit den sozialdemokratischen Abgeordneten." * An Reichsmünzen wurden geprägt im Monat April für 7 533 000 Mk. Dopvel- kronen, 405 980 Mk. Kronen, 1 566 897 Mk. Dreimarkstücke. 1 217 525 Mk. Einmarkstücks, 109 161 Mk. Fünfundzwanmgpfennigstücke, 500l> Mark Zehnpfennigstücke, 4720 Mk. Einpfennig stücke. * Wie der Handelsvertragsverein erfährt, haben die vielfachen Klagen über die Unzuver lässigkeit der russischen privaten Auskunfteien Veranlassung gegeben, daß jetzt die amtliche ,Handels- und Industrie-Zeitung' in Petersburg selbst sine Auskunftei eingerichtet hat, für die bereits die Genehmigung des Finanz ministeriums vorliegt. Die Auskunftei hat die Aufgabe, anfragenden Firmen sowohl des In landes wie des Auslandes alle Nachrichten zu liefern, die sich auf Handel, Gewerbe und Landwirtschaft in Rußland beziehen. Okterreich-U«aar«. *Aus Anlaß des Ablebens König Eduards ist neuerdings die Nachricht aufge taucht, daß der Verstorbene 1908 bei einem Besuche Kaiser Franz Josephs in Ischl den vergeblichen Versuch gemacht habe, den greisen Kaiser für die „Abrüstung" zu gewinnen. Demgegenüber wird in Wien amtlich erklärt, daß ein solcher Versuch niemals unternommen worden ist. Frankreich. *Das Kabinett Briand w'rd sich am 1. Juni bei der Eröffnung der neuen Kammer der Volksvertretung mit dem vom Ministerrat ausgearbeiteten Programm vorstellen. Die Gerüchte von einem Rücktritt des Kabinetts sind daher unbegründet, dagegen wird der Kriegs minister nach der Eröffnung der Kammer seinen Rücktritt nehmen. Weitere Personalverände- rungen im Schoße der Regierung find einst weilen nicht zu erwarten, da sich hinsichtlich des Regierungsprogramms keine wesentlichen Mei nungsverschiedenheiten herausgestellt haben. Die Hauptzüge dieses Programms, für dessen Aus arbeitung im einzelnen die drei Wochen vor Beginn des Parlaments dienen müssen, find be reits in Briands Wahlrede enthalten. Sie be treffen die Wahlreform, die Verwaltungs- und Justizreform, die Steuerreform, den Arbeits- Vertrag, die zivilrechtliche Haftung der Gewerk schaften und die Arbeiterkreditgebung. — An Stelle des zurücktretenden Kriegsministers wird General de Lacroix, ein bekannter Deut schenfeind, in das Kabinett eintreten. E««la«d. *Die Königin-Mutter Alexandra hat einen Brief an das en g l i s ch e Volk gerichtet, in dem es heißt: „Aus der Tiefe meines armen gebrochenen Herzens wünsche ich dem ganzen Volke, das ich so sehr liebe, meinen tiefgefühlten Dank auszusprechen für den rühren gen Ausdruck des Mitgefühls in meinem un aussprechlichen Kummer, der mir aus allen Klaffen, von hoch und niedrig, reich und arm, zuteil geworden ist. Auch das Volk hat durch die plötzliche Abberufung seines besten Freundes, Vaters und Herrschers einen unwiederbringlichen Verlust erlitten. Ich vertraue meinen lieben Sohn Eurer Fürsorge an in dem Bewußtsein, daß er des VaterS Fußtapfen folgen wird, und indem ich Euch bitte, ihm die selbe Treue und Ergebenheit zu erweisen, dit Ihr dem Vater erwiesen habt. Ich weiß, daß mein lieber Sohn und meine Schwiegertochter ihr Äußerstes tun werden, sie zu verdienen." Balkanstaate«. "Die Eidesleistung der kretischen National-Versammlung für König Georg von Griechenland macht in der Türkei viel böses Blut. Das Komitee für Einheit und Fortschritt fordert die Bevölkerung zu Kund gebungen gegen die kretische National-Versamm- lung auf. Die türkische Regierung hofft, daß die Schutzmächte gemäß ihren früheren Versprechungen erklären werden, die Eides leistung sei als nichtig zu betrachten. K bine schwergeprüfte frau. Roman von M. de la Chapelle.*) 1. „Mein Bruder ist wohl zu Hause?" fragte die große, schlanke Dame, die in einem Hause der Zimmerstraße an einer Entreetür im dritten Stock soeben die Klingel gezogen hatte. „Gewiß, Fräulein Hartkopf — — er ist allerdings erst vor kurzem aufgestanden, hat aber bereits sein Frühstück erhalten," antwortete das die Tür öffnende Dienstmädchen. Fräulein Hartkopf nickte nm kurz und ging ohne weiteres an dem Mädchen vorüber zur nächsten Zimmertür. Sie klopfte nm flüchtig an und trat, fast ohne das drinnen hörbar werdende „Herein" abznwarten, ein. „Guten Tag, Otto — oder vielmehr guten Morgen — denn wie ich höre, hast du dich nock nicht allzulange dem Schlaie zu entziehen geruht." Drr junge Mann, der in höchst bequemer Stellung, die Beine wett von sich gestreckt, in einem Fauteuil lehnte, ließ bei dieser Anrede die Zeitung, in der er gelesen hatte, sinken. Ohne seine Stellung zu verändern, reichte er der Schwester nachlässig die Hand. „Tag, Zulek n," sagte er nur — dann begann er i öckst ungeniert zu gähnen und ent, nachdem er Niese wichtige Funktion beendet, fuhr er sort: „Ach — warum soll ich denn schon vorzeitig nus den Federn kriechen? — Liegt ja gar kein *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. Grund vor — der Tag ist noch lang genug. Zudem bin ich vergangene Nacht ein bißchen svät ins Bett gekommen — eine kleine Kneiperei ausweichen gab's nicht, also saßen wir denn richtig bis vier Uhr morgens fest " „Natürlich wurde wieder gespielt — und du hast verloren!" fiel ihm die Schwester mit scharfem Vorwurf ins Wort, der indessen auf Otto wenig Eindruck machte, denn er lachte be- lustigt auf. „Einen prophetischen Geist hast du, Juleken — das muß dir der Neid lassen! Leider kann ich deine Voraussetzung auch nicht enttäuschen, da mich die Brüder ratzekahl aus- aesäckelt haben, ja, ich bin sogar bei meinem Freund Wisotzky noch mit zwanzig Emm in der Kreide." Julie schüttelte seufzend den Kopf. „Du bist doch schrecklich leichtsinnig," tadelte sie. „Ich habe dir bereits weit über die Hälfte meiner Ersparnisse geopfert! Es wäre daher wirklich das beste, dich wieder nach einer Stellung um- zusehen — der fortwährende Müßiggang be fördert nm deinen Leichtsinn." Jetzt sprang Otto aut — die Worte der Schwester ärgerten ihn doch wohl. „Stellung umsehen — fällt mir gar nicht ein!' rief er, die Hände in die Hosentaschen schiebend und im Zimmer auf- und abgehend. „Als Mode warenkommiS habe ich mich ohnedies nie auf meinem Platze gefühlt — ich kann andre An sprüche machen, das wirst du doch zugeben müssen I" Er warf bei den letzten Worten einen selbst gefälligen Blick in den Spiegel, an dem er gerade vorüberkam und blieb sogar einen Mo ment stehen, um seine Erscheinung zu mustern, die freilich nicht häßlich genannt zu werden verdiente, aber in ihren Allüren den Tyv des ehemaligen Kommis nicht verleugnete, während Ottos wohlfrisirrter Kopf mit dem nach der Devise: „es ist erreicht" — schneidig empor gerichteten Schnurrbart dem Schaufenster jedes Friseurladens als reklamemachende Zierde hätte dienen können. Seine Schwester war in vielem verschieden, im allgemeinen ihm aber doch ähnlich. Einen halben Kopf größer als er, schlank, beinahe mager zu nennen, ziemlich starkknochig, chatte sie einen berechnenden Zug in dem lang gezogenen, spitzen Gesicht. Haar, Nase und Augen waren wie die ihres Bruders — nur in den letzteren lag zuweilen etwas Lauerndes, Demütig - geschmeidiges, das sich auch in jeder ihrer Bewegungen ausprägte. Der Altersunter schied mochte zwischen beiden mindestens fünf zehn Jahre betragen. Das Interesse für den Bruder schien der Hauptinhalt von Julie Hartkopfs Leben zu sein — das sprach deutlich aus dem stolzen, zärt lichen Lächeln, mit dem sie Ottos Erscheinung musterte. „Nun ja — teilweise hast du allerdings recht," begann sie nach kurzem Schweigen, als Antwort auf Ottos letzte Worte. „Du kannst und sollst andre als gewöhnliche Ansprüche an das Leben stellen. Aber vorläufig könntest du dich wirklich etwas einschränken — schon diese elegante Wohnung ist überflüssig, denn wie gesagt, noch sind wir nicht am Ziele und es wäre doch immerhin möglich, daß irgend ein nicht geahnter Zufall uns einen Strich durch die Rechnung machte." Otto zuckte ungläubig die Achseln. „Ein solcher Zufall ist wohl ausgeschlossen," ent- gegn-te er zuversichtlich. „Oder denkst du etwa, Baron Thilo könne uns, wenn er im Besitz des Erbes ist, irgend welche Schwierigkeiten in den Weg legen?" Julie zögerte einen Augenblick, um dann, dem Bruder näher tretend, leise zu sagen: „Nun, gesetzt den Fall, Thilo weigerte sich dann, unsre Forderung anzuerkennen: können, dürfen wir die Hilfe des Gerichts in Ansvruch nehmen, um ihn zu zwingen?" „Frage lieber, ob er es so weit kommen lassen darf! Ich meine, er hat begründete Ursache, einen Skan'oalprozeß zu vermeiden. Schon die Drohung, die ganze Geschichte durch eine harmlose Zeitungsnotiz in die Öffentlich keit zu bringen, wird hinreichen, ihm jeden Gedanken an eine Weigerung zu nehmen. Julies nachdenkliche Züge hellten sich sicht lich auf. „Du hast recht — er kann nicht mehr zurück - — verwahre nur auch das Bewußre gut und sicher; du weißt, sein Verlust würde uns dem Baron gegenüber machtlos machen." Otto fuhr mit der Rechten in den Brustschtitz seines buntgestreiften Nachthemdes, welches er, da er noch nicht vollständig Toilette gemacht hatte, unter der bequemen Hausjoppe trug. „Da — es ruht sicher und wohlgeborgen auf meiner Brust und verläßt mich weder bei Tag noch bei Nacht," sagte er, indem er ein läng liches, ziemlich schmales Ledenäschchenheroorzog,
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