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vor, entnahm ihr einen nur wenig beschriebenen Bugen, sowie ein bereits adressiertes Kuvert. „Lies das, damit Du meine Entscheidung kennst, und dann besorge den Bries." Johann wollte etwas entgegnen, doch nach einem Blick in der Runde schwieg er grimmig; hier konnte er nicht sagen, was er wollte. Chevallier erriet seine Gedanken und lächelte spöttisch. Johann nahm den Brief in die Hand, die leise zitterte- Er las. Seine Lippen zuckten und für einen Augenblick schoß ihm das Blut in die bleichen Wangen. Dann erhob er seine Augen zum Herrn, unter dessen Blick der Bursche plötzlich sein geschmeidiges, unterwürfiges Wesen wiedererlangte. Er schob den Bogen in den Briefumschlag, klebte diesen zu und barg ihn in der Brusttasche seiner Livree. Chevallier ging die Treppe hinab. Johann folgte und eilte unten voraus, um den Wagenschlag zu öffnen. Das Zöflein hatte die Szene oben im Vorsaal ebenso durch ein Schlüsselloch von einem Zimmer aus beobachtet, wie auch Chevalliers Gespräch mit seiner Braut belauscht und freute sich königlich, dem lieben freundlichen Herrn, der sie so oft traf, wenn sie in der nahegelegenen Konditorei von Hendrichs etwas zu holen hatte, Neuigkeiten berichten zu können. Ter gute Mann machte ihr den Hof, traktierte sie öfters mit Süßig keiten, Sträußchen, Parfümfläschchen und war so neugierig, weil er auch aus Münster stammte und die Familie von Schelder kannte. Und als die Zofe nun hinab auf die Straße sah, wo Chevalliers Wagen dahinrollte, bemerkte sie den lieben Mann. Er kam gerade wieder aus der Konditorei von Hendrichs, wo er den Kaffee zu dieser Stunde nahm, schwang sich auf sein Rad und sauste davon. Schön war es nicht, daß er gar nicht hinaufsah, wo seine Verehrte am Fenster stand. Aber es ging auch nicht. Soden hatte es heute eilig; Chevalliers Equipage jagte mit polizeiwidriger Geschwindig keit dahin. Als Soden am Ende der Straße um die Ecke bog, bemerkte er Chevalliers Wagen in der Ferne vor ewem Schneiderladen stehen. Der Beamte fuhr nicht direkt dorthin, sondern auf Um wegen in eine dort einmündende Nebenstraße. Als er in diese ein bog, sah er unten an der Straßenecke einen jungen Mann in Livree, der gerade einen weißen Brief in den Briefkasten warf und dann wieder hinter der Ecke verschwand. Soden sprang vom Rade und ging die Straße langsam hinab. In der Nähe der Ecke erblickte er in den Schaufenstern der andern Straße das Spiegelbild von Chevalliers Wagen. Ter Beanile trat mit seinem Rade in ein Einfahrtstor und machte sich an seiner Maschine zu schaffen. Soden atmete schneller, wie ein Mensch, der in tausend Aengsten ist. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Angst, daß er des Briefes, den Johann soeben in den Kasten geworfen, nicht mehr habhaft werden könnte, und daß jemand Weitere Briefe hineinwürfe, brachte ihn fast außer Fassung. 10. Chevalliers Equipage war davongefahren und Soden beeilte sich, einem soeben erst entworfenen Plane folgend, an den Kasten zu gehen. Er stellte sich an das eine Ende desselben, zog aus der Tasche einen gebrauchten Briefumschlag und hob die Klappe des Kastens, wobei er in denselben hineinsah. Dann ging er, sich be sinnend, an die entgegengesetzte Seite, las die Adresse seines Um schlages und zog während dessen aus seiner Tasche den blechernen Radöler heraus. Unter dem Kuvert her steckte er die lange Spitze des Oelers in den Spalt des Briefkastens und drückte anf den Boden des Blechgefäßes, das einen Tropfen Oel fallen ließ. Mit einem Blick überzeugte sich Soden, daß die Leerung des Kastens ganz nahe bevorstand. Ter Kriminalbeamte begab sich in eine nahe gelegene Wirtschaft, wo er sein Rad in Verwahrung gab und.schrnb dort schnell eine Mitteilung an den nächststationierten Polizeikommissar. Sie lautete: „Geehrter Kollege! In äußerst dringlicher Cache bedarf ich Ihrer Hilfe: Halten Sie in einem Raume, in dem ich mich fünf Minuten allein aufhalten kann, irgend ein Gesäß mit siedenden, Wasser auf Feuer bereit, möglichst Kanne mit rohrsörmigem Aus guß. Ich komme gleich mit einer Person zu Ihnen, mit der Sie allein ein beliebiges Verhör anstelle«, sagen Sie (wie auch ich) er sei mit dem von der Polizei gesuchten „Moller" identisch, und halten Sie ihn so lange damit auf, bis ich aus den. Raume, wo das Wasser bereit ist, zu Ihnen ins Bureau trete. Der Mann soll seine Tasche in der Schreibstube lassen, Sie verhören ihn in Ihrem Privatbureau. Ich übernehme alle etwa resultierende Verantwortung. Mit kollegialem Gruße Ihr Soden." Er schlug den Bogen zusammen, schob ihn in einen Bcief- ^schlag und nachdem er diesen geschlossen und adressiert hatte, liber al' er ihn einem in der Wirtschaft anwesenden Dienstmann zur iMunigsten Beförderung. Soden wußte, daß die Post gutwillig den von ihm gewünschten Brief nicht heransgeben würde. Letzteres geschieht nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft, erfordert viel Zeit und noch mehr gewichtige Gründe. Ein junger Posthilfsbeamter erschien am Briefkasten und holte dessen Inhalt ab. Es war einer von den Aushilfsbeamteu, die mit Ausnahme der Armbinde und der Kappe keine Uniform tragen. „Umsvbesser!" dachte Soden, der ihm folgte. In einer anderen abgelegenen Straße hielt der Kriminalbeamte ihn an und gab sich ihm als Polizist zu erkennen. „Was wünschen Sie von mir?" fragte der Briefholer. „Sie heißen Moller, nicht wahr?" „Nein, Heiford." „Leugnen Sie nicht! Können Sie sich ausweisen?" „Ja hier " „Halt! Hier anf der Straße ist das verboten. Kommen Sie eben die paar Schritte aufs Kommissariat. Haben Sie sich aus gewiesen, so können Sie sofort wieder gehen." Auf der Wache angelangt, sagte Soden dem Kommissar: „Ich glaube, das ist der gesuchte Moller. Befragen Sie den Mann ein mal. Er sagt, er hieße Heiford. Wo haben Sie denn die Photo graphie von dem Moller?" „Die Photographie? Ach ja, ich weiß schon. — Bitte in das erste Zimmer rechts im Gange dort. — Also Heiford wollen Sie heißen? Kommen Sie einmal hier herein. — Was? Lassen Sie mal Ihre Tasche hier und vorwärts!" Kaum hatte sich die Türe hinter den beiden geschlossen, als Soden mit der Tasche in das bezeichnete Zimmer eilte. Dort stand ein SpiutuTocher mit brodelndem Theekesselchen. Der Brief mit dem Oelfleck war sogleich gefunden. Soden hielt ihn mit der ge klebten Klappe vor das Ausgußrohr des Kessels, sodaß der dichte Dampfstrahl den geklebten Rand der Klappe bestrich. In wenigen Sekunden rollte sich dieselbe auf. Soden zog den Brief hervor, las ihn, notierte sich einiges, schob den Bogen wieder in den Umschlag, und nachdem er diesen verschlossen hatte, brachte er den Brief und sodann seine Tasche wieder an seine Stelle. „Ich kann das Bild von Moller nicht finden," mit diesen Worten trat er beim Kommissar ein. „Ist mich nicht nötig. Dieser junge Mann ist Moller nicht. Aber wahr ist, daß er ihm außerordentlich ähnlich sieht." „Ich bedaure sehr," sagte Soden zu dem Briefholer, „daß ich Sie belästigt habe. Entschuldigen Sie. So etwas ist mir noch nicht vm gekommen. Erzählen Sie niemandem von der Sache. Hier haben Sie eine kleine Vergütung. Er drückte ibm einen Taler in die Hand. Der junge Mann lächelte verlegen, doch er nahm es an und machte sich mit seiner Tasche davon. Soden sagte dem Kommissar: „Herr Kollege, meinen besten Dank! Es hat sich gelohnt." „Hätte ich das gewußt, was Sie wollten, dann —" „Nicht weiter! Sie wissen gar nichts, daher ist alle Verant wortung auf meiner Seite. Adio!" Soden holte sein Rad und fuhr zu Fehrer. „Etwas Neues?" fragte ihn dieser. „Ja. Was ich vermutet hatte, kestätigt sich: Chevalliers Diener find keine Diener, sondern verkappte Komplizen." „Wie ist das?"- „Ehe ich mich Jhncn genauer erkläre, bemerke ich, daß ich auf Ihre Fragen nach den von mir angewandten Mitteln und Wegen nicht antworten kann. Also: Herr Chevallier hat vorhin einen Brief an das Bureau Fröres in Antwerpen, ein Bankhaus, aufgegeben, der die Weisung enthält, 15 000 Francs von dem Konto Chevalliers auf das des Herrn Johann Peter Hauser zu überschreiben." „Ei der Tausend! Haben Sie den Brief?" „Nein." „Wie erfuhren Sie das denn?" „Dalauf kann ich Ihnen nicht antworten." „Ah, ich verstehe! Krumme Wege! Ich gratuliere, Soden. — Doch deshalb braucht Hauser noch kein Komvlize zu sein." „Fünfzehntausend Francs! Herr Kommissar —" „Ja wofür denn?" „Das fragen Sie?" „Ja, oas frage ich, Soden." „Das ist der Preis für ein junges Blut, Herr Fehrer, für den totcn Bruder!" Ter Kommissar schnellte vom Stuhle auf: „Mein Gott, ja! es ist Zeit, Hauser festzunehmen. Er wird am ehesten gestehen." „Was denn? Haben wir eine Ahnung, was diese Chevallier- sche Kolonie treibt?" „Nein. Wissen Sie aber, was die Volksstimme sagt? — Mn munkelt, die Bewohner des Chevallier'schen Hauses hätten seinerzeit een Einbrechern uachgesctzt, um ihnen das Gestohlene abzunehmcn. 4Ü.