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^ 132, 10. Juni 1911. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f, b. Dtschn. Buchhandel. 6973 Punkt ein andermal zu reden sein wird) äußert sich die be stimmte Münchener Note in den Auslagen der eleganten Buchläden in den vornehmen Straßen durch die starke Be- tonnng der Literatur über Malerei und Maler. Gegen wärtig allerdings dominiert kein Maler, gegenwärtig steht im Vordergründe aller Kunst und Künstlerliteratur: Richard Wagner, Mein Leben. Die literarische Physiognomie Münchens prägt sich mit der Zeit mehr und mehr zu einer ganz besonderen und eigenartigen aus; abgesehen davon, daß bedeutende Autoren teils dauernd ihren Wohnsitz hier haben, teils ost vorüber gehend hier länger verweilen, wirst auch die Arbeit der ver schiedenen Verleger ihr eigentümliches Licht aus die geistigen Konturen der Stadt. Es kann gesagt werden, daß die Literatur hier mindestens ebensosehr an der allgemeinen künstlerischen Bewegung teilhat wie die bildenden Künste. Im Leben der letzteren löst gegenwärtig ein Firnistag den andern ab. Die Sezession hat Ende Mai schon ihre höchst respektable Sommerausstellung am Königsplatz auf- gelan, am 1. Juni wurde die große jährliche Schau im Glaspalast, die Heuer in Fortwirkung der Prinzregenten- Festlichkelten vom 12. März Jubiläumsausstellung firmiert, mit allen offizielle» Weihen, mit Priuzenbesuch und Ehren kompagnie eröffnet. Die dritte Ausstellung nahm vor ein paar Tagen droben auf den Therestenhöhen in den Hallen des Ausstellungsparkes ihren Anfang. Es ist die zweite juryfreie Kunstausstellung, und nach dem tastenden Versuch des vorigen Jahres scheint die heurige, viel größere Revue eine richtige Konkurrentin des Glaspalastes werden zu wollen, zum wenigsten im Stil der Ausmachung. Die letzten Taten im Theater gingen von der Initiative des Neuen Vereins aus, unserer ersten literarischen Gesell schaft. Dem Lyriker Max Dauthendey verhals der Verein dazu, als Dramatiker mit seinen »Spielereien einer Kaiserin» im Schauspielhaus zu Wort zu kommen. Die Aufführung, außerordentlich sorgfältig vorbereitet, wurde durch die souvei äne Kunst der Frau Durieux, die der Verein für den Abend ge wonnen hatte, zu einem der einprägsamsten Ereignisse der heurigen Theatersaison. — Sehr hoch angerechnet wurde dem gleichen Verein, daß er dem von der Hofoper boykottierten Hans Pfitzner ermöglichte, seinen »Armen Heinrich- dem musikalischen München vorzuführen. Zu einer besonderen Eigentümlichkeit des geistigen Lebens in dieser Stadt gehören die vielen literarischen Prozesse, die draußen im Amtsgericht in der Au, und meistens unter der Leitung des renommierten Oberlandes gerichtsrats Mayer, des liebenswürdigen Spezialisten für Vergleiche, verhandelt werden. Bllcherschau (Düsseldorf) gegen Bücherwurm (München) wurde neulich aufgerufen. Die Düsseldorfer Zeitschrift machte der Münchener den wenig freundlichen Vorwurf, in Idee und Ausführung glatt ein Plagiat von ihr zu sein. Es begreift sich, daß solche Rede den Bücherwurm verstimmte, und er er zählte als Antwort ein anzügliches Grimmsches Märchen, was den Düsseldorfer wiederum so sehr verdroß, daß er klagte. Große Verhandlung. Sachverständigen - Aufgebot (Ostini, vr. Thoma von der Düsseldorfer, die Professoren Muncker und von der Leyen sowie vr. Preetorius von der Münchener Partei). Vergleich. Keiner hat den andern be leidigen wollen. Die Kosten allerdings bezahlt Düffeldorf allein. Weniger harmlos nimmt sich die staatsanwaltliche An klage und der bisherige Verlauf der Verhandlung gegen Börsenblatt snr dm Deutschen Buchhandel. 7S. Jahrgang. vr. Semerau und Marquis Bayros aus, wegen Vergehens wider die Sittlichkeit, begangen durch die Piesse. In dis »Geheimnisse des Toilettentisches« ist der Staatsanwalt ein- gedrungen, las, was der Doktor aufzeichnete und der Marquis illustrierte und machte seinerseits kein Geheimnis daraus, zu erklären, es wäre ein Skandal, — und zog die Konsequenzen. Staatsanwaltliche Konsequenzen, mit Energie verfolgt, führen nicht selten zu Haftbefehlen, Verhaftungen, Auslieferungs ersuchen, Vermögensbeschlagnahmen, wie eben jetzt im Fall Semerau-Bayros. vr. Semerau wurde in Arco verhaftet und soll ausgeliefert werden, da er Reichsdeutscher ist; gegen den Marquis Bayros, der sich in Innsbruck aushält und öster reichischer Staatsangehöriger ist, wurde die Beschlagnahme seines Vermögens in Deutschland ausgesprochen. Die Ver handlung wurde nach diesen Leistungen vertagt. Auch wegen eines Chevaliers bemühte sich der Staatsanwalt in München, eines Chevaliers, der seit ge raumer Zeit auf den Gerichten wohlbekannt ist. Giacomo Casanova, Chevalier de Seingalt, erregte im neuen Georg Müllerschen Kostüm das staatsanwaltschaftliche Interesse (von Leipzig aus war der Verdächtige signalisiert). Es gab Konfiskationen in München und in Leipzig, es gab Unter suchungen und Verhöre — aber letzten Endes, wie so oft, war der große Aufwand vergeblich vertan, man konnte ihm nichts anhaben, dem abenteuernden Kavalier, und er kann lächelnd fortfahren, dem aushorchenden Bürger die Memoiren seines aufregenden Lebens zu erzählen. Um die Gerichtschronik gewissenhaft zu vervollständigen, sei noch ein Fall hier registriert. Zu Pirmasens, der weit bekannten Stadt der Schuster, erscheint seit 34 Jahren (oder find es gar schon 35 >(2) ein Organ für reisende Schausteller und verwandte Zünfte: »Der Komet-. Der pfälzische Komet fühlte sich auss heftigste bedroht, als der neue Münchener -Komet-, die Wochenschrift für Satire, sichtbar wurde und zu strahlen begann. Denn, sagten dis Pirmasenser, es ist doch klar, daß wir jetzt fortwährend ver wechselt werden: wir, das Fachblatt sür reisende Schausteller, mit dem neuen Kometen. Und sie gingen hin nach München und klagten. Aber ach, sie wurden wieder heimgeschickt, nach Pirmasens, wo sie sagen werden, in München gäbe es keine Richter. Von München aus geht in diesen Tagen ein Aufruf hinaus, der so ungewöhnlich wie eindringlich ist. Es handelt sich um Wedekind und die Zensur; die beiden haben sich ja noch nie gut vertragen. In der letzten Zeit aber haben die Zensurbehörden von ganz Deutschland, von München bis Königsberg (so hat es auf alle Fälle den Anschein), sich zu sammengetan und System in die Verbote Wedekindschcr Stücke gebracht, ein Verfahren, das in seiner Bedenklichkeit seinesgleichen sucht und das zwei Dutzend -rspressutativs wen- aller Künste veranlaßte, »die Hand zu einem Zu sammenschluß aller derer zu bieten, denen das Schaffen Frank Wedekinds wert erscheint, vor einer systematischen Ver drängung aus der Öffentlichkeit bewahrt zu werden«. Nur um diesen von einer immerhin guten Laune ge tragenen Bericht nicht allzu ernst ausgehcn zu lassen, soll zur Freude der Bibliophilen erwähnt werden, daß der zweite Jahrgang ihres Leib- und Magenblattes, der so humorvoll sich entwickelnde »Zwiebelfisch«, überaus geschmackvoll ge bunden vorliegt und in seiner geschlossenen Gesamtheit sich sehr angenehm präsentiert. Man bekommt wirklich einen klaren Einblick in das ernsthaft-heitere Wesen dieser nützlichen Zeitschrift, die das deutsche Publikum nicht so sehr gängeln als ihm vielmehr ein wenig die besseren Wege zeigen will. 8.-I-. sos