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politische Kunälchau. Ter russisch-japanische Krieg. *Die Bemühungen des Präsidenten Roose velt, dem entsetzlichen Ringen in Ostafien ein Ende zu bereiten, scheinen nach dem gegen wärtigen Stande der Dinge Aussicht zu haben, von Erfolg gekrönt zu werden. Roosevelt richtete ein in derben Worten abgesaßtes S ch r e ib e n an die Regierungen Rußlands und Iapans mit der Aufforderung, unge säumt Bevollmächtigte zu ernennen, die an einem noch zu bestimmenden Orte zusammen treten sollen, um sich mit den Friedensbe- stimmungen, die natürlich Japan diktieren wird, bekannt zu machen. Rußland und Japan haben sich daraufhin bereit erklärt, be sondere Vertreter zu dieser Friedenskonferenz zu ernennen. *Der schwer verwundete Admiral Rosch- djestwensky ist wieder soweit hergestellt, daß er aus dem Marinelazarett in Sasebo nach Kioto (im Innern Japans) übersiedeln konnte. Z« de« russische« Wirre«. *Der russische Ministerrat lehnte bei Be ratung des Bulyginschen Entwurfes die Wahlen auf ständischer Grundlage ab und sprach sich gegen das allgemeine Stimm recht und für Wahlen auf der Grundlage des Landschaftsgesetzes von 1864 aus. Als Wähler werden zugelassen die Großgrundbesitzer, die Stadtbewohner und die Landbevölkerung; diese dan Mandate Großgrundbesitzern erteilen. Die Volksvertretung soll nach Petersburger Blättern schon im Herbst einberufen werden. (?) *Der Kongreß der Semstwover- treter und Sladthäupter in Moskau stellte außer der an den Kaiser gerichteten Adresse den Text einer Resolution fest, die dem Minister- komitee unterbreitet werden soll. Der Wort laut der Resulution entspricht demjenigen der Adresse. — Einige Teilnehmer des Kongresses suchten in Erfahrung zu bringen, ob die Ab ordnung von dem Kaiser würde empfangen werden. Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist noch nicht bekannt. * Gegen die Selbstherrschaft und den allmächtigen Bureaukratismus sucht man in Rußland nach allen möglichen Rezepten. In Petersburg hat sich jetzt ein Verband gebildet, der die verschiedensten Gesellschasts- und Äerufs- klassen vereinigt, auch Bauer» find dem Bunde beigetreten. In einem Programm dieser Ver einigung wird vorgeschlagen, diejenigen Personen, die sich die Staatsgewalt angemaßt Härten, ohne Verzug zu entfernen, an ihrer Stelle eine konstituierende Versammlung einzuberufen, Maßregeln zum Schutzs der Verbandsmitglieder zu treffen, allgemein zu empfehlen, vor den Gerichten jedes Zeugnis auf Fragen bezüglich des Verbandes zu ver weigern und endlich für alle Berufe, die dem Verbände angehören, einen allgemeinen politischen Ausstand ins Werk zu fetzen. (Ein bißchen dunkel ist das ja alles noch. Wie denken sich die Leute z. B., „alle leitenden Personen zu entfernen?" Und wie soll es mit der konstituierenden Versammlung werden? Mit einem „polnischen Ausstand", d. h. mit Vermeidung jeglicher Teilnahme au den politischen Vorgängen? Etwas Besseres werden sich diejenigen, die heute in Ruhland das Heft in Händen haben, kaum wünschen können.) * * Deutschland. * Die Kaiserjachi „Hohenzollern" wird mit dem Kaiser an Bord nach der Kieler Woche dis an landschaftlichen Schönheiten reiche Ostsee küste befahren. Die „Hohenzollern" verläßt Kiel am 30. Juni und dampft über Lübeck nach Rügen, wo Saßnitz angelaufen wird. Als nächster Ankerplatz gilt Swinemünde. über die weiteren Fahrten ist noch nichts Endgültiges festgesetzt. *Das Kronprinzenpaar hat eine Kundgebung erlassen, in der es sür die vielen ihnen anläßlich ihrer Vermählung dar- gebrachten Glückwünsche herzlichen Dank sagt. * Auch der Kaiser hat in einem Schreiben an den Oberbürgermeister Kirschner seiner hohen Befriedigung für den großartigen Empfang, den die Stadt Berlin dem kronprinzlichen Paare bereitet hat, beredten Ausdruck gegeben. * Außer der Reichsfinanzreform beabsichtigt der BundeSrat bis zum Herbst die Gesetz entwürfe über den Versicherungsvertrag, den Schutz der Forderungen der Bauhaudwerker und die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine vor zubereiten. * Die sür das Etatsjahr 1904 nunmehr vor liegenden amtlichen Nachweisungen über die Einnahmendes Reichs aus Zöllen und Verbrauchssteuern ergeben bet den Zöllen mit 489 862 708 Mk. gegen das Vorjahr ein Weniger von I8V2 Mill., das jedoch durch die Einnahmen der Zuckersteuer, die fast 26V- Mill, mehr eingebracht hat als 1904, mehr als aus geglichen wird. Im ganzen ergeben die Ein nahmen mit 834 630 567 Mk. gegen das Vor jahr ein Mehr von 14 820 805 Mk. *Die Reichstags-Ersatzwahl im Wahlkreise Oberbarnim an Stelle des bisherigen freikonseroativen Abgeordneten Pauli, dessen Mandat vom Reichstage als ungültig erklärt worden ist, findet am 13. Juli statt. *Ein Lotterievertrag ist in Berlin zwischen Preußen und Reuß j. L. abge schlossen worden. Reuß j. L. war bisher an der Staatslotterie des Königreichs Sachsen durch Vertrag beteiligt, hat aber diesen Vertrag zum Ablauf des Jahres 1906 gekündigt. Es wird von 1907 ab unter ähnlichen Bedingungen, wie Mecklenburg-Strelitz, an der Preuß. Staats lotterie teilnehmen. Auch die Verhandlungen zur Herbeiführung der Lotteriegemeinschaft zwischen Preußen und Hessen-Thüringen find nun soweit gefördert, daß sür die nächste Zeit ihr Abschluß erwartet wird. dkrankreiÄ. * In Indochina fühlen sich die Fran zosen seit den entscheidenden Siegen der Japaner nicht mehr recht sicher. Der Kolonialminister ersuchte den Generalgouverneur von Indochina telegraphisch, nach Paris zu kommen, um eine Reihe wichtiger Fragen zu besprechen, darunter die Feststellung der für die Verteidigung Indochinas erforderlichen finanziellen Mittel. Schweden-Norwegen. * Die Einberufung des schwedischen Reichstags auf den 20. d. wurde in einer Sitzung des Stockholmer Staatsrats beschlossen, die unter dem Vorsitze des Königs und in Gegenwart des Kronprinzen abgehalten wurde. * Wegen der Befürchtung, daß das selbst ständige Norwegen dazu kommen würde, sich auf politische Kraftproben bald mit der einen, bald mit dern andern Großmacht einzulassen, hatte „Verdens Gang" Unterredungen mit dem Präsidenten des Storthings Berner und dem Minister des Auswärtigen Lövland. Berner erklärte, Norwegen würde vollständige Neutralität bewahren und sich allen grcß- rolitischen Aufgaben fernhalten. Wenn die Verhältnisse auf der Halbinsel zur Ruhe ge kommen wären, bestehe die Hoffnung, daß Norwegen zusammen mit Schweden und Dänemark Mit el erwägen könne, um die -Neutralität der nordischen Reiche zu sichern. Diete gemeinschaftliche Erwägung würde da durch erleichtert, daß durch dis Auflösung der Union auch jeder Grund zu Reibungen mit Schweden aufgehört habe. In demselben Sinne sprach sich der Minister Lövland aus. * Sämtlichen Konsuln, die früher für Schweden und Norwegen gemeinswaft- l i ch.tätig waren, hat der schwedische Minister des Äußern ein Rundschreiben zugestellt, worin er ihnen verbietet, irgendwelche Anordnung von der norwegischen Regierung entgegenzn- nehmen, da diese von schwedischer Seite nicht anerkannt sei. Afrika. *Die ohnehin schon kritische Lage in Marokko ist durch eine Freveltat marokkanischer Räuber noch schwieriger gestaltet worden. In das Haus des Engländers Daniel Madden in Mazagan, der als österreichisch-ungarischer und dänischer Vizek 0 nsul fungierte, drang eine Maurenbande ein und er m 0 rd ets den Be sitzer. Der britische und der österreichische Ver treter find bei der marokkanischen Regierung be reits vorstellig geworden. 6ms Grelle an äen Taren. Die von der Versammlung der Semstwo- mitglieder und der Stadthäupter beschlossene Adresse, die dem Kaiser durch eine Abordnung überreicht werden sollte, lautet: „In anbetracht unsres großen Unglücks und der großen Gefahr, in der Rußland und Ihr eigener Thron schweben, haben wir uns unter Beiseitesetzung aller uns trennenden Meinungs verschiedenheiten, einzig und allein getrieben von heißer Liebe zu unserm Vaterlande, entschlossen, uns direkt an Sie zu wenden. „Majestät! Rußland wurde durch die ver brecherischen Fehler und die Nachlässigkeit Ihrer Ratgeber in einen unheilvollen Krieg getrieben. Unsrer Armee gelang es nicht, den Feind zu besiegen, unsre Flotte ist vernichtet, drohender als die Gefahr von außen beginnt der Bürger krieg. Mit Ihrem ganzen Volke sahen Sie alle Fehler der unwissenden, gefahrbringenden, bureaukratischen Organisation und beschlossen, die Organisation zu ändern. Sie schrieben eine Reihe von Maßregeln vor, die eine Reorganisation bezwecken. Diese Vorschriften find entstellt und auf keinem Gebiete zu der gewollten Aus führung gelangt. Die Unterdrückung der Per son und der Gesellschaft, die Unterdrückung des Wortes, Willkürlichkeiten aller Art nehmen zu, anstatt, daß, wie von Ihnen vorgeschrieben, der Zustand des verstärkten Schutzes aufgehoben und die Willkür der Verwaltung beschränkt werde. Die Gewalt der Polizei wird verstärkt, die Polizei erhält unumschränkte Vollmachten. Man versperrt Ihren Untertanen den von Ihnen zu dem Zweck geöffneten Weg, daß die Wahrheit zu Ihnen gelangen könne. Sie ent schlossen sich, Vertreter des Volkes zusammen- zurufen, um gemeinsam mit ihnen die Reorgani sation unsres Landes durchzusühren, aber Ihrem Worte ist die Ausführung bisher nicht gefolgt, trotz der drohenden Größe der Ereignisse, die sich abgespielt haben. Die Gesellschaft wird be unruhigt durch Projekte, die eine Klasfenkon ferenz anstelle der nationalen Vertretung setzen, die die bureaukratische Organisation be seitigen soll. „Majestät! Befehlen Sie unverzüglich, ehe es zu spät wird für das Heil Rußlands, daß zur Festigung der Ruhe und des Friedens im Innern von allen Ihren Untertanen ohne Unter schied mit gleichem Recht zu wählende Volks vertreter einbcrufen werden, die im Einver nehmen mit Ihnen die Lebensfrage entscheiden, ob Krisg, ob Frieden, die über die Friedens bedingungen entscheiden oder den Frieden ab lehnen und damit den gegenwärtigen Krieg in einen nationalen Krieg umwandeln, die allen Völkern ein Rußland zeigen, das aufgehört hat, von innerem Kampfe zerrissen und erschöpft zu sein, sondern im Gegenteil, geheilt und mächtig in seiner Wiedergeburt, um eine einzige nationale Fahne geschart ist, .und die im Ein vernehmen mit Ihnen eine neue Organisation des Staates herbeiführen." „Majestät! In Ihren Händen liegen Ehre und Macht Rußlands und sein innerer Friede, von dem der äußere Friede abhängt. In Ihren Händen liegt das Reich, das Sie von Ihren Vorfahren ererbt haben. Zögern Sie nicht. Groß ist in dieser Stunde furchtbarer nationaler Prüfung Ihre Verantwortung vor Gott und vor Rußland." Von unä fern. Die Losteenuung Norwegens von der skandinavischen Union tritt auch in Berlin äußerlich in Erscheinung. In den vielen skandinavischen Restaurants, die als Sammel punkte der Schweden und Norweger dienen. wird jetzt die bunte Unionsflagge gegen die „reine" norwegische vertauscht. Diese „reine Flagge zeigt die Farben rot-weiß-blau, die schwedischen Farben find blau-gelb. Die bisher geltende Unionsflagge zeigt auf dem oberen linken Felde eine bunte Zusammenstellung der Farben Blau und Not, der gelbe Querstreifen, der dieses rot-blaue Muster durchschneidet, ioll dieZusammengehörigkeitNorwegensmitSchweden symbolisieren. In Berlin halten sich durch schnittlich 1000 Skandinavier auf. »v vv« Mark gestohlen. Ein überaus frecher Einbruchsdiebstahl wurde in der Nacht zum 2. Feiertag im Bureau des Vereins Ber liner Buchdrucker und Schriftgießer verübt. Die Diebe gelangten durch das Hinterhaus in die Bureauräume, erbrachen den Geldtchranl und erbeuteten eine Summe von etwa 30609 Mark in Gold und Silber. Von den Dieben fehlt bis jetzt jede Spur. Eine« Kanonenrausch muß ein Hotel besitzer gehabt haben, der am Sonntag nach mittag in Berlin den Nordring der Stadtbahn bestieg. Gegen 12 Uhr nachts wmde er auf der Station Gesundbrunnen geweckt; sieben Stunden lang war er um Berlin gefahren! Da er ehrlich genug war, dies einzugcstehen, mußte er die volle Fahrt fünfmal nachbe zahlen. Auf See verschwände« ist der Unter offizier Berg vom großen Kreuzer „Prinz Adalbert". In der Nacht zum 16. v. hörte man an Bord des in See befindlichen Kreuzers einen schweren Gegenstand ins Wasser fallen. Doch konnte man nicht seststellen, was dies gewesen war. Man nimmt an, daß Berg Selbstmord verübt hat. Gegen Berg schwebte eine kriegsgerichtliche Untersuchung wegen Be drohung eines Offiziers. Er hält es nicht länger ans! Eine tragikomische Szene trug sich am Mühlcnkamp in Hamburg zu. Auf der Brücke zankte sich ein älteres Ehepaar. Plötzlich schrie der Mann: „Ich halte es nicht länger mehr aus!" und stürzte sich über das Brückengeländer in den Kanal. Kaum war er ins Wasser geplumpst, so schrie er auch schon gellend um Hilfe. Mehrere Männer waren ihm behilflich, das nahe Ufer zu erreichen. Am Ufer fisten sich Frau und Mann lachend vor lauter Freude über die gelungene Rettung um den Hals und trot teten davon. Gaunerstreich. Durch einen abgefeimten Gaunerstreich ist die Stadt Altona erheblich geschädigt worden. In den Altonaer Schulen erschien in den letzten Tagen ein junger Mann, der sich als Elektrotechniker vorstellte und er klärte, beauftragt zu sein, die Blitzableiter- anlagen zu prüfen. Anstandslos wurde ihm der Zutritt gestattet. Hinterher stellte es sich heraus, daß er einen großen Teil des Leitungs drahtes abgeschnitten und gestohlen hatte. Als der Gauner in einer Volksschule dasselbe Manöver versuchen wollte, wurde er abgefaßt. Der gestohlene Draht wurde bei einem Trödler in Hamburg beschlagnahmt. Durch diesen Gaunerstreich find der Stadt Altona, die die Schulgebäude zu erhalten hat, erhebliche Kosten verursacht worden, da jetzt alle Blitzableiter anlagen ausgebessert und geprüft werden müssen. Beim LebensrettungsweLk ertruuke« ist bei Leer (Ostfriesland) der Nesse-Verwalter Watsema. Er sprang einem Kinde, das mit einem Boote von der Nesse zur Seeschleuse fahren wollte und dabei in Gefahr des Er trinkens geriet, nach, und ertrank dabei, da er kein Schwimmer war. Das Kind wurde von herzueilenden Leuten gerettet. Zwei jugendliche Seefahrer wurden bei der Insel Neuwark in Gewahrsam genommen. Es waren zwei 13 jährige Schulknaben aus Wandsbek, die nach Entwendung größerer Geldbeträge von ihren Eltern sich eines Zoll kutters bemächtigt hatten und dann nach ent sprechender Verproviantierung elbabwärts ge segelt waren. Trotz schwerer See waren die Jungen bereits bis zur Insel Nenwark ge kommen, wo sie jedoch infolge der Brandung in Seenot gerieten und Hilfs annehmen mußten. O Twei frauen. 19s Roman von E. Borchart. «Fortsetzung.! Mechanisch folgte Elisabeth der voraus schreitenden Beate; sie empfand lebhaften Schmerz über dies jähe Erwachen aus ihrem schönen Traum und aus aller Freude, die sie in der Ausübung ihres Talentes genoffen hatte. Sie zeigte Beate nicht, daß sie litt, aber sie verabschiedete sich schnell von ihr und eilt in ihr Zimmer. Sie war wieder um eine Hoffnung ärmer geworden. Es ist ein sonniger Maimorgen. Die Sonne wirft ihre Hellen Sirahlen durch das Fenster in Elisabeths Zimm« hinein. Sie berühren lieb- loiend die reine Stirn und den lockigen Scheitel der jungen Frau. Sie hat, in trübe Gedanken versunken, am Fenster gesessen, jetzt hebt sie den Blick und sieht hinaus. Der Park steht in vollem Blätter- und Blütenschmuck, der Springbrunnen läßt seine Wasser spielen, und wie Diamanten leuchtend fallen die Tröpfchen in das Granit- bscken zurück. Vogelgezwitscher dringt herein und verheißungsvoll scheint die ganze Natur zu rufen: „Komm heraus zu uns, hier ist Frieden!" Elijaöeth greift nach Hut und Schirm uud nimmt ihr Tagebuch, darin fie eben geblättert, mit auf den Spaziergang. Ein schattiger Buchengang nimmt fie auf und führt fie nach halbstündigem Wandern an die wer des Landegger Sees, dessen klare Fluten ein Helles Spiegelbild seiner Ufer geben. Auf der einen Seite steht ein kleines Bootshaus, Kähne liegen im Schilf halb ver steckt. Nicht weit davon, unter einer schattigen Eiche, ist eine Ruhebank, Elisabeths Lieblings platz. Hierher lenkt fie am liebsten ihre Schritte, hier muß fie auch stets vorüber, wenn fie nach Boyneburg will, und auf diesem Sitz lastet fie jedesmal. Selten nimmt fie ja sür fich allein den Wagen; fie geht am liebsten zu Fuß. Heute ist der See das Endziel ihrer Wan derung. Sie setzt fich und läßt ihre Blicke umherschweifen über das oft geschaute und doch fie immer wieder entzückende Bild. Ein leichter Wind kräuselt die Fluten, fie schlagen plätschernd ar. das schilfige Ufer, und traumbefangen lauscht Elisabeth. Doch horch, welche süßen Töne klingen vlötzlich aus nächster Nähe an ihr Ohr? Eine Nachtigall ist es, die ihr jauchzendes, frohlockendes und dann wieder Nagendes Lied ertönen läßt. Unwillkürlich hält fie den Atem an und flüstert: „Kleine, süße Nachtigall!" Wie deutlich klingen auch ihr diese Worte noch im Ohrel So hat Nora Stein, die Freundin und Lehrerin, fie oft liebkosend ge rannt. Sie meint es wieder zu hören, fie meint die geliebte Gestalt vor fich zu sehen. Und die Erinnerung wird wach, tausend, kleine Szenen leben vor ihr«, Geiftesauge auf, Gesaugstundenerleb nisse, dir dmals ihr ganzes Denken ausmachten. Sie sucht nach Auf zeichnungen aus jener Zeit in ihrem Tagebuch, das sie mitgenommen hat, und vertieft fich in die Lektüre. Die Sehnsucht nach Nora erwacht. Wo mag fie jetzt weilen? Ob sie wieder in Berlin lebt oder ob fie die Sommerferien wie alljährlich zu einer Reise benutzt? Wie viele nicht zu beantwortende Fragen auf einmal! Nora ist damals fortgegangen, ehe Elisabeth fich verlobte; Nora weiß nichts davon, weiß nicht, daß fie eine Abtrünnige von der Kunst ist. Wenn fie es wüßte, was würde fie dazu sagen! Was würde fie dazu sagen, daß fie nicht mehr fingen darf? Dieser letzte Gedanke ruft ihren alten Schmerz hervor. Sie darf nicht fingen daheim im Schlosse, aber hier, in der freien Gottes natur, wer will es ihr wehren? Sie legt das Tagebuch auf die Bank und merkt nicht, daß ein Blatt herausgleitet und zu Boden fällt. Nur ein einziger Wunsch, ein einziger Gedanke beseelt fie. Sie erhebt sich und schmettert gleich darauf ihre herrlichen Töne hinaus ins Weite. Von den Bergen hallt es wieder, und ein vielfaches Echo wird wach. Erst wehmütig und scheu, dann jauch zend und frohlockend, wie vorhin von der Nachtigall, klingt das Frühlingslied, darin fich die ganze ungerrübte Jugendlust der Sängerin, die kein Geschick zu unterdrücken vermag, ausspricht. Wir weltentrückt singt Elisabeth, die Augen in die unbestimmte Ferne gerichtet. Sie be merkt es nicht, daß fie schon lange nicht mehr allein ist, daß jemand ihrem Gesänge still und andächtig lauscht. Erst als das Lied beendet ist und fie auf atmend inne hält, wendet fie fich um, wie magisch angezogen von den auf ihr ruhende« Blicken. Da tritt eine herrliche Frauengestalt an dern Gebüsch und kommt auf fie zu. Fassungs los, nicht wissend, ob fie wache oder träume, starrt Elisabeth die Näherkommende an. Dann entringt fich ein Jubellaut ihrer Brust, und mit ausgebreiteten Armen läuft sie in die geöffnete« Arme der andern. „Nora Nora!" „Elisabeth!" Die beiden Frauen halten fich umschlunge« und küssen fich. „Bist du es denn wirklich, Elisabeth, mein« kleine Nachtigall?" Sie halten fich an den Händen und sehe« fich in die Augen, darin fich die Freude über dieses Wiedersehen abspiegelt. „Und du, Nora, und du! Wie habe ich mich nach dir gesehnt — gerade heute vor wenigen Augenblicken noch. Wie hätte ich eS ahnen können, daß ich dich so bald und hier Wiedersehen würde!" jubelt Elisabeth. „Als ich deinen Tönen, die mir so lieb und vertraut vorkamen, nachging, in unbe wußter Ahnung, dich hier zu finden, da llop'le mir das Herz vor Freude. Doch nun, laß un« auf jene Bank, Elisabeth, und tauschen wir unsre Erlebnisse aus." Nora Stein legt den Arm um Elisabeth? es find zwei edle Erscheinungen, von gleicher Schönheit und doch so verschieden. Die älter« in der vollsten Blüte, eine üppige Gestalt-