Suche löschen...
Allgemeiner Anzeiger : 29.04.1905
- Erscheinungsdatum
- 1905-04-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190504293
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19050429
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19050429
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1905
-
Monat
1905-04
- Tag 1905-04-29
-
Monat
1905-04
-
Jahr
1905
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 29.04.1905
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
politische Kunclsckau. Der russisch-japanische Krieg. * Iapan hat nunmehr an Frankreich Protest wegen des längeren Verweilens Roschdjestwenskys in der Kamranhbai gelangen lassen. Diese Bai wird als ein geschlossener Hafen bezeichnet, und wenn ihn die Russen benutzen durften, so würde sich auch nichts da gegen einwenden lassen, wenn England in ähnlicher Weise den Gegnern Hongkong überließe. * Die japanischen Proteste, von England unterstützt, haben gewirkt. Das russische Geschwader im Großen Ozean hat die schützende Kamranh-Bucht, in der ihm Frankreich Vie auf Madagaskar Asyl bot, ver lassen müssen und wird sich jetzt voraus sichtlich in kurzer Zeit dem Feinde stellen müssen. Erst jetzt erfährt man zuverlässig, daß tatsächlich das ganze russische Geschwader, Kriegs- und Transportschiffe, in der Kamranh-Bucht geweilt haben. Zuletzt wurde Roschdjestwenskys Ge schwader 15 Meilen nördlich von Saigon ge sichtet. * Eine Nachricht vom Dienstag besagt, daß 20 japanische Kriegsschiffe die Kamranh- Lucht passiert, dort aber keine russischen Schiffe mehr getroffen haben. Diese find vielmehr an scheinend nordwärts weiter gefahren und würden mit der japanischen Hauptflotte etwa am Freitag bei der Südspitze der Insel Formosa zu sammentreffen. Auch das dritte baltische Ge schwader hat sich inzwischen mit Roschdjestwcnsky vereinigt, so daß dieser einen feineren Grund zum Zögern nicht mehr hat. * Prinz Karl Anton von Hohen- zollern ist in Begleitung des Prinzen Kanin vom mandschurischen Kriegsschauplatz nach Japan zurückgekehrt. * * Zu den russischen Wirren. * Der Verteidiger Gorkis, Grusen berg, veröffentlicht eine umfangreiche Erklärung, worin er nachweist, daß Gorki keineswegs Auf rufe gegen die bestehende Ordnung erließ. Er verfaßte bloß den Entwurf eines Aufrufs, der nicht in die Öffentlichkeit gelangte. Die Anklage sei hinfällig. Grusenberg protestiert gegen die Verhandlung bei geschlossenen Türen als ungesetzlich. *Jn Warschau drangen vier bewaffnete Anarchisten in zwei Häuser der Widok- straße ein, erdolchten einen und verwun deten tödlich den zweiten Hausbesorger aus Rache dafür, daß sie Genossen verraten hatten, die später zu Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Als die Verbrecher verfolgt wurden, feuerten sie Revolverschüsse auf ihre Verfolger ab, verwundeten einen, entkamen aber durch ein Haustor der Widokstraße. * In dem Warschauer Vorort Powonski haben die Polizei und Militär in der Nacht zum Mittwoch zweihundert Personen festge nommen. Bei den Verhafteten wurden zahl reiche Revolver gefunden. * Das Zollamt in Noworossijsk hat die sorgfältige Revision der hier eintreffendsn Kisten mit Zitronen und Apfelsinen angeordnet. Diese Maßnahme ist durch den Verdacht her vorgerufen, daß Bomben in Form dieser Früchte eingesührt würden. (I) Die Kaufmann schaft hat sich deswegen beim Senat über den Fmanzmimster beschwert. * * Deutschland. *Das Kaiserpaar ist am 2. Oster feiertag an Bord der „Hohenzollem" in Palomo kingetroffen. *Die .Berliner polit. Nachrichten' haben in Aussicht gesteht, daß zu den noch rückständigen Gesetzentwürfen dem Reichstag möglicher weise noch einige weitere Regierungsvorlagen in dieser Session zugehen würden; so über den Schutz der Werke der bildenden Kunst, ferner über den Schutz der Erzeugnisse der Photographie und endlich über Er werb und Verlust der Staatsangehörig keit. Die ,Deutsche Tageszeitung' warnt die verbündeten Regierungen davor, dem Reichstag diese sehr wichtigen Vorlagen, die ohne Zweifel weitreichende Erörterungen Hervorrufen würden, jetzt noch zugehen zu lassen, denn eS liege für jeden Kenner der Verhältnisse auf der Hand, daß der Reichstag diese Vorlagen vor dem Frühsommer nicht erledigen könne. Ihre Ein bringung würde also nur die Bedeutung und die Wirkung haben, daß eine Vertagung des Reichstags eintreten müßte, um die Vor arbeiten nicht in den Papierkorb fallen zu lassen. Wünsche die Regierung die Vertagung, dann lasse sich die Einbringung der Entwürfe verstehen, andernfalls nicht. Das Blatt rechnet auch nicht einmal damit, daß die Vorlagen, die bereits jetzt den Reichstag beschäftigen, sämtlich erledigt werden. Da eine Tagung über Franz d. Defregger. Am 30. April vollendet Franz b. Defregger sein 70. Lebensjahr. Eine von seltenen Erfolgen gekrönte reiche künstlerische Tätigkeit ist cS, auf die der berühmte Maler zurückblickt, geehrt und bewun dert überall, wo deutsche Kunst gekannt und ge schätzt ist, vor allem im Vaterland; und in wahrhaft rührender Weise in seiner engeren Heimat Tirol. Dort in der letzten Hütte und un sumsten Tal klingt der Name Defregger wider, mit Liebe und Stolz zugleich genannt. Pfingsten hinaus ausgeschlossen erscheine, werde der Reichstag außer kleinen Vorlagen höchstens nur die Militäipenfionsgesetze durchberaten können. * Uber die künftige Gestaltung der Kolonialabteilung wird der ,Welt- korresp.' geschrieben: Die Hinausschiebung der angekündigten Abänderung in der Gestaltung und Stellung des Kolonialamts beweist, daß ein dringliches Bedürfnis für diese Änderung nicht vorhanden ist. Tatsächlich wird das Kolonialamt in seiner Betätigung nicht dadurch gehindert, daß es kein selbständiges Reichsamt, andern nur eine Abteilung des Auswärtigen Amtes ist. Auch in Zukunft wird es nicht vom Auswärtigen Amte abgelöst werden, ondern die ganze Änderung dürfte darin be sehen, daß die Stellung des Leiters des Kolonialamts eine höhere wird, etwa, indem er den Rang eines Unterstaatssekretärs erhält. Die sachliche Position der Kolonialabteilung zum Auswärtigen Amte wird dadurch natürlich nur wenig verschoben. * Die .Franks. Ztg.' entnimmt einem Privat- iriefe eines württembergischen Herero- ämpfers folgendes: Wie wir mit der kleidung bestellt sind, spottet überhaupt eder Beschreibung. Zerfetzt, zerlumpt! Am schlimmsten ist es mit der Wäsche; diese önnen verschiedene nicht mehr waschen, sonst hat man Fetzen in den Händen. Hierzu be merkt die,Nordd. Allg. Ztg.', daß die nach Südwestafrika abgehenden Mannschaften bei ihrer Ausreise unter anderm mit folgenden Be ¬ kleid Mücken versehen werden: 1 Kord- wockfe rock, 1 Kordreithose, 1 lange Kordhose, 3 Fel^anzüge, 1 Mantel, 1 Paar Reitstiefel, 1 Paar Jnfanteriestiefel, 1 Paar Lederschnür schuhe, 6 Hemden, 6 Unterhosen, 6 Paar Strümpfe, 2 Handtücher, 1 Leibbinde, 6 Taschen tücher, 4 wollene Decken. Außerdem steht der Truppe im Schutzgebiete zur Ergänzung defekt gewordener Stücke der volle etalsmäßige Jahres bedarf an Bekleidung und Ausrüstung zur Ver- fügung. *Die Zahl der Hereros, die ge fangen genommen wordßn sind oder sich er geben, beläuft sich auf etwa 5000 Köpfe; fie sind auf verschiedene Stationen verteil worden und werden dort überwacht. Voraus sichtlich werden sich die künftigen Niederlassungen der Eingeborenen um die Misfionsstationen gruppieren, weil dort schon die Häuser und sonstigen Baulichkeiten vorhanden sind. Wenn aber angenommen worden ist, die Missionare würden nicht nur die Obsrhirten der Gemeinden, sondern auch in Verbindung mit den ihnen unterstellten Kapitänen die verwaltungsmäßigen Leiter sein, so dürste dies nicht zutreffen. Es dürften vielmehr Eingeborenen-Kom- missare angestellt werden, wie fie sich in englischen Kolonien recht gut bewährt haben. Dazu wird wohl auch gelegentlich ein Missionar ernannt werden, aber die Regel wird dies sicherlich nicht sein. Frankreich. * Der Minister des Äußern, Delcass 6 , reichte am 22. d. sein Entlassungs- gesuch ein. La die Deputiertenkammer seine Marokko-Politik nicht ohne weiteres guthieß. Erst auf Bemühungen des Präsidenten Loubet hin entschloß sich Delcassä, das Portefeuille weiter zu führen. Bakkanstaaten. *Jn der zu Rom abgehaltenen Konferenz der Vertreter der beteiligten Mächte über die Kretafrage ist die Aufrechterhaltung des bis herigen Zustandes beschlossen worden. Damit ist die Stellung des Prinzen Georg unhaltbar geworden. Stellt er sich auf feiten der Mächte, so muß er den Kretern als Verräter gelten; lehnt er sich aber gegen die Mächte auf, so muß er selbstverständlich aufhören, deren Ober kommissar auf Kreta zu sein. *Jn den diplomatischen Kreisen Belgrads hat die Ernennung der am Königsmord beteiligten Offiziere Pawlowitsch nnd Protitsch zu Adjutanten des Königs große Entrüstung hervorgerufen. Man erörtert bereits die Frage einer neuerlichen Demonstration seitens des diplomatischen Korps. verAriegsrat über die Fortsetzung -es Krieges. Man schreibt aus Petersburg: In den Sitzungen des Kriegsrats in Zarskoje Selo, der nach den Mukdener Niederlage« die Frage hinsichtlich der nächsten Maßnahmen und Ent- schüsse zu erörtem hatte, ist von allen Rat gebern des Kaisers General Dragomirow am entschiedensten für die Fortführung des Krieges um jeden Preis eingetreten. Dragomirow, der ein alter Haudegen, aber gleichzeitig ein großer Phantast ist, rechnete bei seinen Darlegungen nicht mit der Möglichkeit, daß der russische Ober- seldherr, solange seine Armee der japanischen numerisch nur wenig überlegen bleibe, dem Feinde einen nennenswerten Schlag beizubringen imstande sein werde oder daß man eine Armee von doppelter Stärke vor Fertigstellung des zweiten sibirischen Bahngleises am rechten Ufer des Amur aufstellen könne. General Drago mirow setzte vielmehr auseinander, wie aus- fichtsvoll und praktisch cs sei, die kriegerischen Operationen in den bisherigen Verhältnissen nötigenfalls drei bis vier Jahre hinauszuziehen und alles Augenmerk auf die Vermeidung ent- cheidender oder doch bedeutender Wendungen zu richten, bis die Kräfte des Gegners allein mrch die Länge der Aktion wesentlich vermin dert, für Rußland aber die Zeit gekommen sei, einerseits ein frisches Heer von etwa 800000 Mann in der Front anzusammeln, anderseits eine neue, moderne Flotte zu schaffen, die stark genug sein müsse, um auch andre Seemächte in Ostasien zurückzuhalten. General Dragomirow empfahl zugleich strenge Sparsamkeit in den Kriegsausgaben, da sonst das wirtschaftliche Leben des Staates bei der langwierigen Dauer der Feindseligkeiten völlig zu Grunde gerichtet würde. Ende aber der Feldzug schließlich mit der Vernichtung Japans, so werde Rußland sich bald erholen, ja sogar für seine Opfer reichlich entschädigt werden. Andre Staaten hätten sieben- und dreißigjährige Kriege geführt, ohne miniert worden zu sein. Einen formelle» Beschluß über die Dragomirowschen Vorträge hat der Kriegsrat nicht gefaßt. Kein einziger Teilnehmer ist, wie man versichert, während der Erörterung dieser Thesen auf die Frage ver fallen, ob nicht schon die Entwicklung der inner- russischen Verhältnisse den Gedanken, das ost- asiatische Engagement unabsehbar zu ver schleppen, von vornherein als absurd erscheinen lasse. Von stab uncl fern. Ein neuer Transport aus Ruhland flüchtender Japaner wird demnächst auf dem Wege zur Heimat Berlin passieren. Es ist eine Gruppe von 30 Männern, Frauen und Kindern, die letzten, die mit Hilfe des amerikanischen Botschafters aus allen Teilen Rußlands ge sammelt worden find, um über einen deutschen Hafen nach Japan zurückgebracht zu werden. Von Berlin werden einige Herren den Flücht lingen, unter denen fich auch zwei Koreaner befinden, bis zur Grenze entgegenfahren. Sein Ehrendiplom zurückgesandt hat Professor Joseph Joachim der Kaiserlich Musikali schen Gesellschaft in Petersburg. Die Gesell schaft hatte bei Ausbruch von Schülerunruhen bei dem ihr unterstellten Petersburger Konser vatorium den berühmten russischen Komponisten und Lehrer an diesem Konservatorium, Rymsky- Korsakow, der die polizeilichen Maßregelungen von ausständigen Schulen als statutenwidrig erklärte und an die Musikalische Gesellschaft einen Protest wegen Duldung dieser Maß regelungen gerichtet hatte, seiner Lehrtätigkeit enthoben. Der Heiratsmonat April hat fich in Berlin auch in diesem Jahre wieder als solcher bewährt. Diesmal brachte die erste Woche des April 1056, die zweite 1039 Eheschließungen. In nur vierzehn Tagen (vom 2. bis 15.) wurden 2095 Ehen geschlossen, fast soviel wie im Hoch sommer fich auf den Zeitraum von zwei Monaten zu verteilen pflegen. In diesem Jahre ist sür Berlin zum ersten Male der Fall eingetreten, daß schon im Frühjahr die Zahl der Ehe schließungen pro Woche über 1000 hinausging. Bisher war nur im Herbst, der an Ehe schließungen noch etwas reicher als das Früh jahr ist, diese Zahl in ein oder zwei Wochen des Oktober überschritten worden. Ei« Rechtsanwalt als Strassenbahn fahrer. Ein Rechtsanwalt, der unter die Straßenbahnfahrer geht, dürste eine Seltenheit ein. Der jetzt 7000 Mitglieder zählende Verein >er Angestellten der Großen Berliner Straßen bahn hat vor Jahresfrist den Rechtsschutz ein geführt und drei Rechtsanwälte als Syndici gewonnen. Es liegt in der Natur der Sache, -aß die drei Anwälte vorwiegend die Vereins milglieder in Klagesachen, die dienstliche An gelegenheiten betreffen, zu vertreten haben. Am meisten kommen hierbei die Straßenbahnfahrer n Betracht, die bei jedem Zusammenstoß, Inglücksfall rc. auf Grund der Bestimmungen wer Eisenbahntransportgefährdung unter An- !lage gelangen können. Der Rechtsanwalt Schröder, einer der vrei Syndici des oben ge nannten Vereins, hat zu einem eigenartigen Mittel gegriffen, um die Geheimnisse der Elektrizität in der Kraftübertragung auf die Straßenbahn kennen zu lernen. Er machte einen Kursus als Straßenbahnfahrer durch, und man konnte den Rechtsanwalt Schröder vor einiger Zeit alltäglich auf der Treptower Chaussee beobachten, wie er dort nach allen flegeln der Kunst einen Straßenbahnwagen ührte und die verschiedenartigsten Bremsübungen wrnahm. K Twei frauen. bj Roman von E. Borchart.*) sFort!«tzmig.) Im Herzen jedoch gab Elisabeth die Hoffnung auf eine Sinnesänderung des Vaters nicht auf, und der Trost und Zu spruch ihrer Lehrenn, der fie ihr Herz aus geschüttet hatte, verfehlte ihre Wirkung nicht, überhaupt besaß Leonore einen Einfluß auf Elisabeths Charakter und Gemüt, wie ihn sonst niemand aui ihre selbständige Natur und ihren stolzen Sinn auszuüben vermochte. Der Grund hierfür lag zu allererst in der warmen Zu neigung und Verehrung, die Elisabeth der Künstlerin entgegenbrachte; fie sah in ihr die Verkörperung alles Edlen und Schönen. Aber auch Leonores festem, energischen Charakter war dieser Einfluß zuzuschreiben. Elisabeth fühlte wohl, daß fie dem Herzen der Gefeierten nahe stand, näher, als sonst jemand aus ihrem jetzigen UmgangSkreise. Nicht allein Elisabeths Talent und Be gabung, auch ihr jugendlicher Liebreiz, ihr ein facher Wese« hatten es der Künstlerin angetan, und fie zeigte es offen, daß Elisabeth ihr teuer war. „Mein Singvögelchen — meine Nach- ugall" pflegte sie ihre Lieblingsschülerin zu nenneu. Das Verhältnis der beiden Frauen gestaltete sich immer inniger und wurde bald ein Freund- schastsbund, der 'der Achtung der Schülerin vor der Lehrerin keinerlei Einbuße tat, aber danrm nicht minder herzlich und innig war. Der Verkehr außerhalb der Unterrichtsstunden war allerdings ein einseitiger. Leonore Stein besuchte grundsätzlich keine Gesellschaften und hatte auch die Einladung des Oberst von Nitt- berg ein- für allemal abgelehnt. Zuweilen suchte fie allerdings Elisabeth in ihrem Mädchen stübchen auf oder verweilte auch kurze Zeit in deren Familie. Am liebsten aber behielt fie Elisabeth bei fich, wenn dieselbe zum Unterricht kam. Über ein Jahr war Elisabeth schon Leonore SteinS Schülerin, und ihre Stimme hatte fich zu seltener Kraft und Fülle entfaltet. Da wurde dem Studium Elisabeths plötzlich ein Ende bereitet, und zwar durch Leonore selbst, da diese einen Gastspielvertrag nach Amerika abgeschlossen hatte, und nun war man bereits in den letzten Tagen vor der Abreise. Nicht eitle Nuhmessucht trieb Leonore fort, sondern eine unbestimmte Hoffnung, jenseits des Ozeans etwas zu finden, wonach fie hier seit Jahren vergeblich suchte. Es war alles zur Reise vorbereitet, die beiden Dienstboten und die Hunde folgten ihrer Herrin in den fernen Erdteil. Leonore sah dieser Fahrt mit einer gewissen Siegesfreudig keit entgegen, und wenn fie doch ein Bedauern empfand, so war es, weil fie sich auf so lange Zeit von Elisabeth v. Rittberg trennen mußte. Heute erwartete fie dieselbe zur letzten Ge sangsstunde. Bis zu Elisabeths Ankunft be- schästigte sie fich damit, einige Fächer ihres Schreibtisches zu ordnen und überflüssige Papiere zu verbrennen. Der Tisch stand im Mustksalon, und Leonore ließ fich nun daran nieder. Sie trug ein dunkelblaues Seidenkleid, das die Üppigkeit ihrer Figur in ein vorteilhaftes Licht setzte. Ihr goldblondes Haar bildete einen herrlichen Gegensatz zu den Farben des Kleides, fie sah sehr schön aus in diesem Gewände. Zu ihren Füßen hatte sich einer der mächtigen Bernhar diner gelegt und seinen zottigen Kopf in die Fasten des Kleides vergraben. Eine Weile hatte Leonore gekramt, geord net und gesichtet. Plötzlich seufzte fie laut auf und erblaßte. Einem Paket Briefe war beim Auseinanderbinden eine Kabinettphotographie entfallen, und Leonores Augen hafteten wie ge bannt aus diesem Bilde, als könnte sie mit ihren Blicken die Züge zum Leben erwecken. Die Photographie stellte einen Mann in dem Kostüm des Lohengrin dar. Leidenschaftlich blitzende, schöne Augen blickten aus seinem Ge sicht heraus, das mit seinen markanten Zügen, der edel gebogenen Nase und dem feinen Mund ungemein sympatisch berührte. Der Mann war noch jung, groß und kräftig gebaut, gebietend in der Haltung, eine Heldengestalt im wahren Sinne des Wortes. In den Anblick dieses Bildes versunken, ver gaß Leonore die Gegenwart. Was war mit ihm geschehen seit jenem schrecklichen Tage, der ihn für immer aus dem Reiche der Kunst, aus seinem Paradiese ver trieb ? Warum verbarg er fich vor ihr und der Welt? O, wie fie jenen andern haßte, der chn zum Lebendigbegrabensein verdammt«! Wie viel barmherziger wäre es gewesen, er hätte ihn in seiner blinden Eifersucht getötet. — Aber durfte fie ihren Haß aus ihn werfen? Trug fie nicht die größere Schuld an dem Unglück? War fie nicht zu sehr aufgegangen in ihrer Kunst, und hatte fie dämm nicht ihre heiligsten Pflichten verletzt? Welche Qualen der Reue durchlebte fie jetzt dafür. — Erst daS Schlagen der Uhr auf dem Kamin weckte Leonore aus ihrem Sinnen, und fast zu gleicher Zeit ertönte die Klingel an der Haus tür. Der Hund hob lauschend und leise knurrend den Kopf, und Leonores Brust ent rang fich ein banger Seufzer. Schnell schob fie die Papiere zusammen und legte fie in ein Fach ihres Schreibtisches, nur die Photographie vergaß fie in der Eile; fie blieb auf der Platte zurück. Wenige Minuten später trat Elisabeth von Rittberg über die Schwelle und eilte mit freund lichem Gmß auf Eleonore zu. „Guten Morgen, kleine Nachtigall!" er widerte Leonore, und ihre Züge hellten sich bei dem Anblick ihres Lieblings auf. Sie war aufgestanden und hatte Elisabeth an das Fenster gezogen. „Sie sehen bleich aus, mein Kind — was fehlt Ihnen?" fragte fie nachdem fie einen prüfenden Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens geworfen hatte. „Ich fühl« mich ganz wohl, nur —" fit stockte verlegen und senkte den Blick. „Nuu?" forschte Leouore. „Ich habe gestern — getanzt." „Schon wieder?" Leonores Gesicht nah« einen ernsten Ausdruck an. „Ich habe es Ihnen doch verboten!" setzte fie streng hiuzu- „Jch bitte um Verzeihung!"
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)