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Allgemeiner Anzeiger : 28.01.1905
- Erscheinungsdatum
- 1905-01-28
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190501288
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19050128
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- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1905
-
Monat
1905-01
- Tag 1905-01-28
-
Monat
1905-01
-
Jahr
1905
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 28.01.1905
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Vie revolutionäre Kewegung in Kukslanä. * Obwohl es auch am Dienstag inPeters - burgnicht zu größeren Zusammenstößen zwischen Truppen und Aufständischen kam, ist die Lage in der Stadt doch fortgesetzt sehr ernst und gespannt. Die Stadtduma ist außer Funktion gesetzt und der aus Warschau einge- troffen« General Trepow zum militärischen Diktator eingesetzt worden. In den Außen bezirken haben die Aufständischen mehrere Fabriken und Niederlagen zerstört. In mehreren Straßen find die Parterrefenster mit Brettern zugeschlagen worden. Petroleum darf nichtverkauft werden. Die Polizei hat viele Verhaftungen vor genommen, darunter auch die Maxim Gorkis und mehrerer andrer Arbeiterführer. Die Advokaten haben in einer Versamm lung erklärt, daß sie vorläufig, bis zur Ein führung einer Verfassung und gesicherter Rechts grundlagen, ihre Tätigkeit einstellen und sich mit den Arbeitern solidarisch erklären. Auch die Studenten wollen nicht eher wieder die Universität besuchen und weiter studieren, bis eine Verfassung gegeben ist. Es heißt, der Zar habe eingewilligt, am Mittwoch eine Arbeitervertretung von zwölf Per sonen in Zarskoje-Selo zu empfangen. *Wie viele Menschenopfer der mißglückte Versuch der Petersburger Arbeiter, dem Zaren persönlich ihre Petition zu übeneichen, gekostet hat, läßt sich auch heute noch nicht mit Sicherheit angeben, da die Mel dungen zwischen 300 und 2000 schwanken. Der Versuch der Arbeiter, nach Zarskoje- Selo vorzudringen, wohin sich der Zar mit seiner Familie zurückgezogen hatte, ist am Montag mit Waffengewalt verhindert und sollte am Dienstag von 40 000 Arbeitern wiederholt werden. Es wird verbreitet, die Zarenfamilie habe von den blutigen Vorgängen des Sonntags nichts erfahren! (Eine blutige Illustration des Selbstherrschertums). über Petersburg soll mittels Zarenmanifestes der Belagerungs zustand verhängt werden. Eine Kommission von drei Generalen soll mit der Niederwerfung des Aufstandes beauftragt worden sein. Der Montag ist verhältnismäßig still verlaufen; starke Patrouillen durchstreifen dir Stadt. *Vom Priester und Arbeiterführer Gapon zirkuliert unter den Arbeitern folgendes Schreiben: „Brüder! Nach dem heutigen Tage (dem Sonn tage mit seinem Blutbade) haben wir keinen Kaiser mehr. Das Blut der Unschuldigen trennt ihn vom Volk. Infolgedessen rufe ich: Es lebe der Beginn der Volkserhebung für die Freiheit. Ich segne euch alle und werde heute abend mit euch sein." — In Petersburg soll große Bestürzung herrschen. Die Aufständischen drohen alle R e g i eru n g 8 g e b ä u d e in die Luft zusprengen; viele Stadtteile sind total im Dunkeln infolge des Streiks der Arbeiter der Helios-Fabrik. Es heißt, auch der Bahnverkehr zwischen Petersburg und Moskau habe aufgehört. — Aus der Pontilow-Fabrik wurden Tausende von Explosivkörpern gestohlen. — Ebenso wurde ein staatliches Arsenal geplündert und viele Gewehre ge stohlen, doch soll die Munition dazu fehlen. * Zu der russisch-offiziösen Meldung, wonach die Zahl der Getöteten bis Sonntag abend 76, die der V erwund eten 233 be trage, schreibt der Korrespondent des ,Verl. Tagebl/, der die Zahl der Opfer auf mindestens 2000 Tote und etwa 4000 Verwundete beziffert hatte: „Die Erklärung der Negierung findet nirgends Glauben. Meine gestrigen Angaben beruhen auf sorgfältig an den einzelnen Punkten der Metzelei eingezogenen Informationen und Angaben der Gendarmerie. Ich glaube sogar, daß meine Angaben eher zu niedrig, als zu hoch gegriffen find." *Jn Ssbastopol in eine regelrechte Militärrevolte ausgebrochen. Die Ma trosen der Schwarzen Meerflotte haben die Brandstiftungen in denArsenalen veranlaßt. Sie beklagen fich, daß sie von den Offizieren um Sold und Verpflegung betrogen werden. Priester Gapon, der Führer der Petersburger Arbeiterschaft. Führern veröffentlichen, dis fich augenblicklich in London aufhalten. Der Vorsitzende des russischen revolutionären Komitees, Goldenberg, erklärte, schon seit längerer Zeit sei der Aufruhr vor bereitet, er werde auch nicht auf Petersburg beschränkt bleiben, sondern sich auch auf die übrigen Städte ausbreiten. In diesem Zu sammenhang gewinnt eine Meldung an Inter esse, die über Zuzug Ausständiger von außerhalb berichtet; danach wären 30 000 bis 40 000 Arbeiter von Kolpino, einer Stadt, die 28 Kilometer von Petersburg entfernt ist,.nach der Hauptstadt marschiert. — Ganz anders lauten andre austauchende Gerüchte, die wissen wollen, daß der Aufruhr von der Re gierung gewollt gewesen sei. Man muß im Interesse aller Teile, im Interesse der Menschlichkeit, gegen die hie« ohnehin schon so traurig gesündigt worden ist, hoffen und an nehmen, daß diese Gerüchte lügen. Sie zeigen aber zum mindesten, welche Ungeheuerlichkeiten man dem System des Absolutismus zutraut. Die Regierung, so behaupten diese Gerüchte, hat den Aufstand gewünscht. Sie hätte mit Fleiß die Forderungen der Arbeiter durch ihre scheinbare Passivität ermuntert, um die Be wegung soweit anwachsen zu lassen, daß sie mit scheinbar gutem Recht die Polizeigewalt durch die Militärdiktatur ersetzen konnte. Der Polzei sek verboten worben, die Ausbreitung des Streiks oder die Entwickle mer Revolution zu verhindern. Seit Mit Habs sie Befehl gehabt, beiseite zu stehen m.o die Dinge für das Militär reifen zu lassen. — Da dürfte denn doch hoffentlich eine gröbliche Mißdeutung an sich wohlgemeinter anfänglicher Zurück haltung der Regierung fich zu einer Anklage verdichtet haben, von der man hoffen muß, daß sie völlig ungerecht ist. * Die polnisch-sozialistische Partei veröffent licht ein ihr zugegangenes geheimesRund- sch reiben des Ministeriums des Innern an alle Behörden, das denselben befiehlt, alle Ver sammlungen zwecks Besprechung von Reformen im Innern des Reiches wenn nötig gewaltsam zu verhindern. Sie verweigerten den Gehorsam und verletzten mehrere Offiziere schwer. Darauf setzten sie die Offiziers- gebäude in Brand. Gegen fie gesandte Jnfanterieabteilungen weigerten sich auf die Meuterer zu schießen. Darauf wurde das Bielostocker Regiment gegen sie be ordert. Die Soldaten erklärten jedoch gleich falls, siewerdennicht schießen. „Wenn wir schießen, werden die Offiziere unsre Scheibe sein." Indessen raste die Feuersbrunst in den Arsenalen stundenlang fort. * Zwei Garde-Batteriechefs find in der Angelegenheit des Kartätschen schusses beim Newawasser-Weihfeste ver haftet worden. * Von angeblich sorgfältiger Vorberei tung des Aufstandes erzählen Londoner Meldungen, wonach die dortigen Blätter Unter redungen mit den russischen revolutionären Oti dnter äer Maske. 14) Roman von Lady Georgina Robertson. Mcrtsetzuna.1 „Es ist nichts. Ich bin müde," aniwortete Ellen der besorgt fragenden Gattin. Einen Augenblick später hatte fie die Be sinnung verloren. Barbara hob die leichte Last auf und leche sie auf ein Ruhebett. Es fiel ihr nicht em, daß ihr Geschwätz die junge Frau beunruhigt haben könnte. Sie war ohnmächtig geworden und das war ein Zeichen, wie sehr fie immer noch der Schonung bedurfte. „Sage Mama nichts davon," gebot Lady Ehesleigh, als fie erwachte, „fie sorgt fich immer gleich so sehr um mich." „Mylord würde noch besorgter sein," meinte Barbara, aber Ellen wandte fich seufzend ab. * * * Es war Lady Ehesleigh klar, nun ihr Ver dacht fich bewahrheitet hatte, daß Artur und Mathilde verlobt waren, ehe ihre Laune fie trennte. Wie aber sollte fie die volle Wahr heit erfahren? Keines von beiden würde ihr Rede stehen und Barbara hatte alles gesagt, was fie wußte. Auch war diese fest überzeugt von Lord Chcsleighs Liebe zu seiner Frau. Ellen kannte fich selbst nicht mehr. Nie zuvor hatte fie die Nächte durchgeweint und war mit dem Gefühl aufgestanden, daß wieder ein Tag durchlebt werden müsse. Es war ihr neu, ihre Gefühle verbergen zu sollen und heiter zu scheinen, während ihr fast das Herz brach. Sie war zu glücklich gewesen, ihr ganzes Leben lang, darum traf sie dieser Schlag doppelt. Sie fing an, fich bittere Vorwürfe über ihre übereilte Heirat zu machen; es war eine Idee gewesen, die fie sich mit tausend lichten Bildern ausgeschmückt hatte und mit Poesie umwoben. Sie würde es nie getan haben, wenn fie nicht geglaubt hätte, daß sie sterben müßte. „Ach, wenn ich doch gestorben wäre," schluchzte sie laut, „dann stände ich ihrem Glück nicht im Wege. Wie müssen fie mich hassen, wenn fie wirklich verlobt waren, als ich krank wurde." Dann kam wieder eine Zeit, in der fie fich einzureden versuchte, daß alles Täuschung sei, bis die Menge der Beweise fie erdrückte, zu denen fie Mathildens eigene Worte rechnen mußte. Hatte diese ihr doch gesagt, daß fie einen Kummer hätte, den nur der Tod enden würde. Derselbe Gedanke beschäftigte fie, welchem Lord Ehesleigh gefolgt war. Sollte es keine Möglichkeit geben, ihre Ehe zu trennen? Er hatte fich nur aus Mitleid mit ihr trauen lassen, hatte solche Heirat Giltigkeit? „Wie wenige Menschen dürfen ihrem Herzen folgen I" — Diese Worte hatten ihr die Augen geöffnet. Wie hatte fie nur so lange blind sein können! Ihre eigene Liebe und der Wunsch, ihm anzugehören, hatten ihr eigenes Urteil verwirrt. Jetzt verstand fie auch das Benehmen ihres ver 22. Januar in Petersburg. Von ihrem Petersburger Berichterstatter geht dem ,Berl. Tgbl/ folgender Bericht über dies furchtbare Gemetzel in der Stadt zu: Der 22. Januar war ein folgenschwerer Tag, der für Petersburg anbrach. Bald nach Mitternacht hatte eine Arbeitermenge von an tausend Mann das städtische Wasserwerk anzu greifen gesucht, um es zu zerstören. Sie wurde von Militär dnrch scharfe Schüsse zurückgetrieben, an 30 Tote und Verwundete zurücklassend. Der blutig eingeleitete Tag sollte blutig verlaufen. Schon beim Morgengrauen wurden sämtliche aus den Vorstädten nach der Stadt führenden Straßen durch einen fünffachen Milstärkordon gesperrt, um keine Arbsiter- mcngen ins Zentrum gelangen zu lassen. Der Platz vor dem Winterpalais wurde von Militär besetzt. Im Hof des Palais war eine Artillerie brigade postiert. Die Siraßen durchzogen starke Reiterpatrouillen. Kosaken mit blanker Klinge wurden an den meisten Straßenecken aufgestellt. Fettgedruckte Anschläge mit der Warnung von Seiten der Polizei an die Be wohner, ihre Häuser nicht zu verlassen und sich an Aufläufen nicht zu beteiligen, wurden an geschlagen. Als ich gegen 10 Uhr morgens meine Wohnung verließ, boten die Straßen ein unge wöhnlich stilles, fast totes Bild, doch je näher mich der Schlitten dem sogenannten Narvaschen Tor bei den Putilow-Werken brachte, um so belebter wurde das Straßenleben. Der Warschauer Bahnhof und der Baltische Bahnhof waren von einem Militärkordon umgeben, um das Eindringen von Arbeitern zu verhindern. Bei der Narvaschen Pforte befand sich ein letzter Militärkordon, von der Leibgarde ge bildet. Nur mit großer Mühe gelang es mir, durch die Vermittlung bekannter Offiziere soweit vor wärts zu kommen, daß ich die gegen 11 Uhr 15 Minuten anmarschiercnde gewaltige Arbeiter- menge deutlich sehen konnte. Den Demon strierenden voran zog der P'iester Gapon, der in einer Hand das Kreuz, in der andern eine Rolle mit der Bittschrift für den Zaren und den Forderungen der streikenden Arbeiter trug. Ihm folgten 15- bis 18 000 Mann, die eine Hymne sangen. Etwa 80 Schritte vor dem Militärkordon tönte dem Haufen der Befehl, zurückzugehen, entgegen, da sonst geschossen werden würde. Eiu Moment des Zögerns kam in die Menschenmasse. Dann trat Gapon vor, um mit dem Offizier zu unterhandeln, wobei er versuchte, ihm die Bittschrift zu überreichen. Alles wurde aber zurückgewiesen. Nun kehrte Gapon um und stellte sich an die Spitze seiner Schar, die jetzt vormarschierte. Ein Kommando ruf ertönte, die Hähne knackten, dann fiel um 11 Uhr 40 Minuten die erste Salve blinder Schüsse. Dis Arbeiter marschierten weiter vor. Ein neuer Kommandoruf, ein Knacken, und drei scharfe Salven wurden in den dichten Haufen hineingeschossen. Ein furchtbarer Schrei des Entsetzens ertönte. Schmerzens- mse, Stöhnen der Verwundeten, die eine wilde Flucht der Arbeiter hervorriefen, war das Re sultat dieses Gewaltaktes. Der Priester Gapon ist, wie fich herausgeftellt hat, unversehrt. Furchtbar war die Wirkung des Feuers auf so nahe Entfernung gewesen. Wohl fielen ver einzelte Revolverschüsse aus den Reihen der fliehenden Arbeiter, die von wilder Panik er griffen, dahinjagten und die ihre Wut an ver einzelten Polizeiposten auslieben, indem sie mehrere von ihnen töteten. Hier war die Tra gödie zu Ende. An 300 Tote und ebensoviele Verwundete deckten die Straße, überall standen kleinere Gruppen von Arbeitern ^nd weinenden Frauen zusammen, die heftig gestikulierten. Ich befragte einige und erhielt zur Antwort, sie be griffen nicht, warum Militär auf fie schieße, wo sie doch nur dem Zaren ihre Bittschrift über geben wollten. Als ich auf deren politischen Inhalt hinwies, wußten die meisten nichts davon. Sehr blutig verlief ein zweiter Zusammen stoß an der Moskauschen Pforte, auf die 20 000 Arbeiter anrückten. Hier sollen etwa Mannes und das Mathildens. Sie beobachtete fie noch genauer und fand heraus, daß unter der äußeren Kälte und Förmlichkeit doch ein Zug warmer Sympathie sich zeigte. Warum nur war fie damals nicht gestorben! Artur würde ihr ein freundliches Andenken be wahrt und ihre Liebe hätte ihm in der Er innerung wohlgetan. Er und Mathilde würden eine Zeitlang um fie getrauert haben, dann aber wären sie glücklich geworden und ihr wäre die Qual erspart, unter der fie jetzt so namen los litt. Ihr einziger Trost war ihr Kind; wenn fie es ans Herz drückte und sah, wie die Kleine ihr die Ärmchen entgegenstreckte und zu ihr ver langte, dann konnte fie fich für Augenblicke wieder vollkommen glücklich fühlen. Eines Tages, als Ellen fich auch wieder ihren Gedanken hingegeben hatte, ging fie nach der Kinderstube, um sich dort Trost zu holen. Sie fand Mathilde mit der kleinen Dora spielend und ein Gefühl der Eifersucht er füllte sie. „Sie hat mir meines Mannes Liebe ge nommen, die meines Kindes soll fie nicht auch haben," war Ellens erster Gedanke, doch fie wies ihn zurück. Mathilde war nie anders als gut und aufopfernd gegen fie gewesen. Lächelnd sah diese zu ihr auf. „Du hast den Eindringling abgefaßt, Ellen," sagte sie. „Ich komme oft herauf, um deinen kleinen Liebling zu bewundern." „Hast du sie so lieb?" fragte die junge Mutter und nahm ihr die Kleine ab. Mathilde lachte. „So lieb, wie sie außer dir niemand haben kann," erwiderte fie. Ellen konnte der Versuchung nicht wider stehen, Mathildens Herz auszuforschen und sagte ganz unvermittelt: „Wenn ich jetzt stürbe, Mathilde, würdest du dich des Kindes annehmen?" „Gewiß würde ich das tun," war die ruhig« I Antwort. „Erinnerst du dich, daß du mir einmal sagtest, du würdest nie heiraten. Glaubst du, daß du dich dazu entschließen würdest, wenn nh tot wäre?" Trotz ihrer Selbstbeherrschung und dem vom Stolz diktierten Bestreben, ihr Geheimnis nicht zu verraten, konnte Mathilde nicht hindern, daß eine verräterische Röte in ihre Wangen stieg. Ihr Herz hatte die Frage schon beantwortet, ehe fie Zeit sand, die Lippen zu öffnen. Sie wußte ganz genau, daß Lord Ehesleigh fie heiraten würde, wenn er frei wäre. „Liebste Ellen," sagte sie, „wer kann heute voll fich mit Bestimmtheit sagen, daß man dieses oder jenes einstmals tun oder lassen wird! Ich glaube nicht, daß ich heiraten wiuke, weil ich nicht wüßte, wen. Und warum denkst du ans Sterben?" Ein trauriges Lächeln spielte um Ellens Lippen. „Ich wollte, ich wäre damals gestorben, Mathilde, es wäre für uns alle besser gewesen." Das junge Mädchen sah sie entsetzt fie hatten einander ja so lieb, trotzdem ihre Lebenswege fich so wunderbar geircuzt hatten. Vie Ohnmacht -es Mächtigen. Auf einem Umwege wird von verläßlicher Seite aus Petersburg über eine charakteristische Szene berichtet, die sich nach dem Kartätschen- schuß beim Fest der Wasserweihe im Anitschkow- Palais bei der Kaiserin-Witwe abgespielt hat. Es wird versichert, daß der Zwischenfall den Zaren, der äußerlich im ersten Augenblick seine Ruhe zu bewahren schien, fürchterlich erschüttert habe. Er erteilte sofort den Befehl, die an- wesenden Mitglieder der kaiserlichen Familie, einige Minister und Geistliche mögen fich bei der Kaiserin-Witwe versammeln. Der Zar erschien alsbald unter ihnen in größter Auf regung und beschwor die Anwesenden bei den Heiligenbildern, bei der Liebe zum Vaterland« und im Namen der Menschheit, ihm doch endlich die Wahrheit über die Bewegung im russischen Volke zu sagen. Der Zar schien außer fich vor Erregung zu sein, seine Gesichts- zöge verzerrten fich, und als er zu Ende ge sprochen hatte, sank er fast ohnmächtig in den Sessel zurück. Die Anwesenden erschraken auf das heftigste, die Kaiserin-Witwe, Großfürst Wladimir und Metropolit Antonius bemühten sich um den Zaren, der fich nach kurzer Zeit 300 verwundet worden sein. Ähnlich wurden die Arbeiter auf andern Straßen empfangen. Schon gegen 1 Uhr war es klar, daß der Versuch der Arbeiter, in die Stadt zu dringen, völlig gescheitert war. Auf dem Platz vor dem Winterpalais war bis 6 Uhr abends alles ruhig, denn jede kleine Ansammlung wurde sofort gesprengt und über- ritten. Einige Zehntausend Arbeiter waren immerhin in der Stadt. Sie promenierten ruhig durch die Straßen; doch wo fich ein Auslauf zeigte, da sprengten gleich Kosaken mit blanker Waffe heran, eine Schneewolke hinter sich lassend. Man hörte Angstschreie und Hilferufe, hörte Schüsse fallen, dann war alles ruhig. Der Versuch, zu revoltieren, schien völlig gescheitert. Die Zahl der Toten anzugeben, ist schwer, doch dürste sie gegen 2000 betragen. Die Zahl der Verwundeten festzustellen, ist unmöglich. Verhaftungen wurden nicht vor genommen. Am späten Nachmittag fanden in einzelnen Hauptstraßen regelrechte Straßenkämpfe statt. Auf Umwegen gelaugten Arbeiterströme in das Zentrum der Stadt und versuchten fich vergeb lich zu einem festen Körper zusammenzuschließen und gegen das Militär geschlossen vorzugehen. Bei der Admiralität gab das Militär im Lause des Tages zehn scharfe Salven ab, die viele Opfer forderten. Stellenweise antworteten die Arbeiter durch Werfen vonHandgranaten und Bomben und durch das Abfangen vereinzelt fahrender Militärpersonen, die halbtot geprügelt wurden. So sah man auf dem Newski einen stark blutenden halbtoten General, den Arbeiter überfallen hatten, von zwei Offizieren sorgsam im Schlitten nach Hause transportiert. Mehrere alleinfahrende Einjährige wurden von Arbeitern in ihrer Wut totgeschlagen. Gegenwärtig (8 Uhr abends) ist es ruhiger geworden, doch das Passieren des Newski ist : stellenweise noch gefährlich, da ab und zu ' Schüsse fallen. Sonst macht die Stadt den ' Eindruck eines großen Heerlagers. Auf den Plätzen und in den Straßen brennen Wachtfeuer und lagern Truppen; man hört Rossegewieher und Gestampf. Den Soldaten wird warmes Essen- gebracht. Die Wachen stehen untex Gewehr. Die Hospitäler find überfüllt. Die Zahl der Verwundeten soll an 4000 betragen, doch ist dabei ein Irrtum möglich. In den Vororten herrscht Ruhe. Den Oberbefehl über die Truppen führte Großfürst Wladimir, in dessen Palais sich seit dem frühen Morgen sein Stab befand. Die erteilte Parole war, keinen zu schonen und jede Zusammenrottung zusammenzuschieben. Diese Parole wurde streng befolgt, ein entsetz lich blutiges Werk wurde verrichtet; leider Haven viele Unschuldige leiden müssen, die für i ihre Neugier schwer bestraft worden sind. Die Polizei und die Gendarmerie waren so gut wie außer Funktion gewesen. Es herrschte Mili- tärgewalt.
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