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Zahl. Das macht also in den 26 Jahren, die ich «m- Biihne äuge- höre, durchschnittlich drei bis vier Mal im Jahres Ja! Kommt aber an den „Heising" und „Don Juan" nicht heran. Heinling wie oft? 117. Dou Juan 142, rund sechs Mal im Jahre. Ist aber auch eine Bombenportion!" Er nickte vergnüglich mit dem wohlfrisierten Haupt und winkte zu dein einen Porträt an der Wand hinauf, so das; der gros;e Brillant am kleinen Finger in tausend Strahlen blitzte: „Bravo, Wolfgang Amadeus, bravissimo! — Wann hab' ich Dich eigentlich zum ersten Mal gesungen?" Die Kassette wurde fast bis auf den Grund geleert, bis ein ver gilbtes Blatt auftauchte. „Aha — da — richtig. Was hab' ich damals niedergeschrieben? ,Heute, Dienstag, 3. Februar 1874 zum ersten Male Mozarts „Don Juan". War glänzend bei Stimme; mußte Champagner- Arie und Ständchen wiederholen. Vier Mal herausgerufen! In tendant macht Komplimente! Wenn nur die Kritik gut ausfällt! Bin jetzt unter 25 Mille Pro Jahr nicht mehr zu haben. Wenn ich 300 Mille zurückgelegt habe, quittiere ich die Bühne, lebe als Varon und singe nur noch hier und da zum Vergnügen." Der Sänger strich das Blatt glatt, ließ einen Rauchkringel zur Decke steigen und lächelte: „Ja — ja — im Anfang! Da denkt man nur an den Tresor; aber nachher kommt der Ehrgeiz, der verdammte Ehrgeiz. Dann will man sticht mehr 'runter, wenn man auch kann. Liebes Himmclchen, die dreimal Hunderttausend hatte ich schon vor 10 Jahren, aber hätten mich da wohl zehn Pferde von der Bühne geschleift? Und möchte ich heute gehen? — Und es wird doch schließlich auch einmal die Zeit kommen. Manches Mal ist mir jetzt schon so, als ob es mir etwas schwerer fiele. Aber das muß die gute Schule kompensieren. Schule — natürlich! Was hat denn die heutige Jugend für eine Schule? Der Strömer z. B., dieser Mensch, der sich erfrecht, neben mjr meine Rollen zu singen? Unsereins hat seine sechs Jahre bei Lampcrti geschwitzt, und heute laufen sie aus den Konservatorien nach dreiviertel Jahr fort und wollen erste Partien singen!" Der Künstler schob mit einer heftigen Arnibewegung die Kassette von sich, drehte den Schreibstuhl und schritt einige Male durch das Zimmer. Endlich fielen seine Augen auf das Bauern- tischchen an der Tür, auf den der Diener die Postalen Eingänge niedergelegt hatte. Es waren drei Tageszeitungen, mehrere Ge schäftsschreiben, schon von weitem an der groß aufgedruckten Firma erkennbar, und dann ein Briefchen in cremefarbenem Kuvert. „Ilha, von meiner unbekannten Schönen, die sich immer „Senta" unterschreibt, und die mich gern zu ihrem Holländer haben möchte!" Er nahm das Briefchen in die Hand, legte es aber dann wieder beiseite.. „Nein! Zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen! Und diese Pflicht heißt —- Kritiken lesen. Denn wir werden heute ja Kritiken haben, weil die Bergniann aus Wien gastiert hat." Der Sänger nahm wieder am Schreibtisch Platz und entfaltete ein Blatt nach dem anderen; immer düsterer wurde der Ausdruck seines Antlitzes, immer nervöser trommelte die Fußspitze auf den Boden, je weiter er in seiner Lektüre gelangte. Endlich warf er die Blätter zur Erde und stand in lichter Empörung auf. „Es ist eine Gemeinheit! Zwei Blätter nennen mich gar nicht - den „Holländer" im „Holländer" gar nicht! — Ist das nicht zum Hohnlachen? Und das dritte Blatt — das dritte — nein, ich bringe es nicht über die Lippen! Ich, der anerkannt beste Holländer in Deutschland, ich, der selbst einen Betz, Bulß und Reichmann in dieser Rolle turmhoch überrage, ich — ich soll ein schwächlicher — wie sagt der Kerl? — ,jein schwächlicher und blasser Vertreter" sein? Aber ich kenne Dich! Das ist Gunkelmann, der mich nicht leiden kann, dieser minderwertige Zeitungsschmierer — redet den Leuten vor, meine Höhe hätte stark nachgelassen, mein Organ ginge rapide zu Ende! Verklagen werde ich den Kerl! — Aber nein! Nicht verklagen — ich ignoriere solche Burschen!" Der wütende Baryton machte eine Beruhigungspromenade durch das Zimmer, trank einen Kognak und steckte dann höchst eigenhändig die Zeitungen in den Ofen. / „So — Waberlohe soll Dich verzehren, Neidingsschrift," sagte er, „und nun zu etwas besserem, zu Dir, Botschaft aus dem holden Reich des Eros." Ein zierliches Kärtchen entfiel der Hülle. „Sehr geehrter Herr! Da Sie es durchaus wünschen, mich Persönlich kennen zu lernen, so will ich Ihnen die Gelegenheit dazu bieten. Sie können von mir nicht Wohl erwarten, daß ich Sie — wie das varkommen soll — nach dem Theater zu einem Stelldichein bitte, denn ich entstamme einer Familie, in der es nicht Sitte ist, daß die Töchter abends allein ausgehen. Ebensowenig ist es angängig, daß wir beide uns gegenseitig besuchten. Daher schlage ich vor: lleber- morgen nachmittag 5'/^ Uhr in der Kunstausstellung. Sie kennen die Nische, in der das große Bild von Becker hängt: „Tanzende Venetianer"? Nebenbei gesagt — ein Lieblingsstück von mir! I» dieser Nische, mein Herr! Ich erwarte von Ihnen, den ich so ofl als Kavalier in der Oper bewundert habe, daß Sie mich nicht mil Fragen bestürmen, wer ich sei. Ich will nichts sein, als Ihre Be wundern! und Ihre getreue Senta." „Kleine Katze! Eine wie die andere! Mit dem Feuer spielen, aber sich die Händchen nicht verbrennen! — Na also, sei es denn!" Er trat vor den Spiegel, gab sich eine leichte Haltung, strich den Bart empor und trillerte aus dem „Don Juan": „Sieh', dieses Schloß ist mein, Einsam gelegen, Und dort, mein süßes Täubchen " „Ach Gott, diese Mädchen, diese reizenden Mädchen! TaS ist doch das beste, was der liebe Gott auf der ganzen Erde erschaffen bat!" Ain Nachmittag des nächsten Tages, bald nach fünf, betrat der Sänger die Flucht der Kunstausstellungssäle, die im hellsten elektrischen Licht strahlten. Langsam schritt er von Gemach zu Ge mach, von Bild zu Bild, um auf den Glockenschlag V-6 Uhr in die bestimmte Nische zu treten, — der Raum war noch leer. In einein breiten Fauteuil, gerade gegenüber den „Tanzenden Venesianern" ließ er sich nieder und kontrollierte von Zeit zu Zeit den Gang seines Chronometers. „Sie ist jedenfalls nicht sehr pünktlich." Um V«6 Uhr erschien eine Dame; ein altes Mütterchen, die mit einem Lorgnon die Gemälde musterte. Um 6 Uhr rasselte ein Leutnant im Paradeschritt durch die Nische. Um ein alter hustender Herr im Pelz, fünf Minuten vor - ein junges Ehe paar, beide sehr chic, er Zylinder und hellgraue Handschuhe, sie Tuchkostüm auf Seide gearbeitet, rauschend und knisternd. — „Nun ist's genug — eine Stunde warte ich! Gans! Na warte, schreibe Du mir wieder! Es ist höchste Zeit, ich muß in die Oper." Er erhob sich und schritt hinaus; draußen in den Anlagen, die die Gallerie umgaben, wurde er milder gestimmt. „Lieber Himmel, sie kann ja auch plötzlich behindert worden sein. Ein Mädchen aus guten Kreisen kann sich nicht immer frei machen. Da kommt vielleicht Papa oder Mama, oder eine Tante dazwischen — einmal will ich noch Gnade üben." Als er so lautlos auf dem schneeüberwehten Pfade dahinging, schlugen Stimmen an sein Ohr. Die Sprecherinnen waren offen bar zwei junge Mädchen, die auf einem Parallelweg daherschritteu, und es nicht vermuteten, daß die klare Winterluft den Schall des gesprochenen Wortes weit trägt. Zuerst achtete der Sänger nicht auf diese Stimmen, als aber die Worte „Holländer" und „Opern haus" an sein Ohr schlugen, wurde er aufmerksam. „Aber wo denn, Lilly, ich habe in ich nicht getäuscht! Ich hatte doch mein Opernglas mit, mau kann ja aus Saal XXIV bequem in die Nische hineinsehen, lind es saß ja auch kein anderer drin." „Du meinst also sicher, daß er es war, Grete?" „Sicher! Er Ivar es ganz bestimmt!" „Nun, dann ist ja Tein Wunsch erfüllt; dann hast Du ihn ja ganz aus der Nähe aesehen." „Ach, Lilly, ich wollte, ich hätte ihn nicht bestellt; nun sind alle meine Illusionen dahin. Der schöne Don Juan, der rührende Holländer, der ideale Zampa — ein gräßlicher alter Kerl mit dicken Falten unter den Augen und .Krähenfüßen — fingerlang. Ter Mensch ist sicherlich nicht weit von sechzig." „Du übertreibst, Grete !" „Fünfzig aber mindestens — brrr! — Werft das Scheusal in die Wolfsschlucht." Im Opernhause wartete man schon mit Schmerzen auf den Sänger der Titelrolle; Marschners „Heiling" sollte in Szene gehen. Endlich, kurz vor 7 llhr, erschien der Erwartete, sehr ein silbig und in sich gekehrt. Während er sich in seiner Garderobe ankleidete, hatte der Intendant und der Oberregisseur ein Zwiegespräch im Direktorial- Bureau. „Bitte, mein Lieber, arrangieren Sie die Sache," sagte die Exzellenz. Gleich darauf klopfte der Regisseur au die Garderoben tür. „Darf ich 'reinkommen?" „Ah, Sie sind es! Bitte sehr! Was gibt es neues?" „Nichts — rein nichts. Will mich nur nach Befinden erkun digen! Sie haben neulich wieder einen famosen „Holländer" herausgestellt. Heiliger Wagner! Die Arie singt Ihnen keiner nach, keiner zwischen Lissabon und Moskau!" Der Sänger antwortete nicht, er schminkte sich gerade. „Na, überhaupt die alte Generation," fuhr der andere fort, der sicb auf ein Sofa gesetzt hatte, „die Alten, da ist noch Talent, Schule und Fleiß. Sie haben jetzt in zehn Tagen vier große Rollen gesungen, den Ton Juan, Wolfram, Holländer und heule