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RcSe des MchstWabg. GM-Wihchwn-n im Deutsche» Reichstag nach dem amtlichen Stenogramm. 21. Sitzung am Freitag, den 29. Januar 1904. Präsident: Das Wort hat der Herr Ab geordnete Gräfe. Gräfe, Abgeordneter: Meine Herren, ich bin zu meinem Bedauern gezwungen, auch meinerseits nochmals auf dasselbe Thema zunick zukommen, was mein geehrter Herr Vorredner soeben behandelt hat. Ich bin hierzu gezwungen, durch wiederholte maßlose, ja alles und jedes Maß übersteigende Angriffe der sozialdemo kratischen Redner auf die Fabrikanten in Crimmitschau, im besonderen aber auf das Verhalten unserer sächsischen Behörden und unserer sächsischen Regierung. Ich verwahre mich von vornherein gegen den Vorwurf, als wollte ich mich hier aufspielen als Anwalt der Crimmitschauer Fabrikanten; ich fühle mich aber verpflichtet, als leider einziger Abgeordneter der bürgerlichen Parteien in Sachsen (Heiterkeit links) hierzu meine Stellung darzMgen, meine Ueber- zeugung, meine Erfahrung, meine Informationen und alles das Ihnen darzulegen, wovon ich durchdrungen bin in bezug auf diese Frage. Ich möchte vor allem nur kurz die Verhältnisse schildern, die in Crimmitschau vor dem Streik geherrscht haben, vorwiegend die Lohnverhültnisse, die seitens der sozialdemokratischen Partei- in ganz entstellter und der Wahrheit widersprechen der Weise geschildert worden sind. Ich möchte über das Verhältnis der Arbeiter zu den Arbeitgebern usw. sprechen, damit der Deutsche Reichstag und das ganze deutsche Volk auch von meiner Seite, von feiten der bürgerlichen Parteien aus dein Königreich Sachsen, die Tat sachen so geschildert bekommen, wie sie wirtlich gelegen haben, bezw. heute noch liege». Kurz will ich an der Hand der letzten Denk schrift der Fabrikanten Tatsachen feststellen, >vie sie notanell beglaubigt sind: ich bitte heule schon alle diejenigen, die imstande sind, diese Tat sachen zu widerlegen, sich schnellstens Material zu verschaffen und hier an derselben Stelle vorzutragen. Wie waren denn die Wohnverhältnisse in Crimmitschau vor dem Streik? Rormaltüchtige Weber verdienten pro Woche 19 bis 27 Black, Weberinnen 15 bis 20, Weberei und Spinnerei Hilfsarbeiter, einschließlich Färbereiarbeiter, 14 ins 20, Spinner 20 bis 30 Mark. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Was Ihre Widerlegungen wert sind, ist Ihnen schon wiederholt von anderer Seite bewiesen worden; Sie legen sich Ihre Wider legungen so zurecht, wie Sie sie für die Ver hetzung der Arbeiter brauchen. (Lebhafte Zustimmung. Große Unruhe bei den Sozialdemokraten.) Hierzu kommt ein Heer von jungen Burschen und Mädchen, die ganzen Familien der Spinner, Weber usw. Diese alle verdienen vom 14. Jahre ab in Fabriken zuerst 8 bis 9 Black, später 10 bis 12 Black. Ich wiederhole, daß diese Fest stellungen notariell beglaubigt sind . aus den Lohnbüchern der Crimmitschauer Fabrikanten, und daß sie unanfechtbar sind. Die Verhältnisse der Crimmitschauer Spar kasse hat bereits mein Herr Vorredner gezeichnet. Die Einlagen betragen beinahe lO Mill. Mark (hört! hört!), in den letzten 2 Jahren allein sind sie um 2'/, Millionen gewachsen. Mau geht sicher nicht fehl, wenn man einen großen Teil dieser Ein lagen cuff das Konto der Weber und Spinner in Crimmitschau setzt. Es ist bewiesen worden, daß der Eruährungs- und Gesundheitszustand in Crimmitschau ein ausgezeichneter ist und in seinem Niveau weit hinausgeht über die Ver hältnisse in den Vorstädten von Berlin, Leipzig re. Wenn man diese kurzen Tatsachen in das Auge saßt, muß man sich schon darüber klar sein, daß ein tatsächlicher Notstand, der zum Streik gedrängt hätte, in Crimmitschau nicht bestanden hat. Besonders die Vigognespinnerei in Crimmit schall hat einen unendlich schweren Standpunkt der ausländischen Konkurrenz gegenüber gehabt. Die Löhne des Auslandes, namentlich Oester reichs, welches in bezug auf die Konkurrenz in erster Linie in Frage kommt, sind bedeutend niedriger. Z. B. erhält ein Andreher in Oester reich im Durchschnitt 5,10 Mark Lohn, m Sachsen 8,90, ein Ausleger dort 5,80, hier 9,54, eine Kremplerin dort 0,25, hier 10,20, ein Aus putzer dort 10,20, hier 18 Mark, lind diese Industrie ist ausgesucht worden, wät)rend die Sozialdemokratie davon überzettgl sein mußte, daß dieselbe die gestellten Förderungen nicht bewilligen konnte, zm^ Versuchsobjekt für sozialdemokratische MachtMlüste! Wenn der Herr Abgeordnete Fischer (Berlin) am Montag nach Beweisen dafür gefragt hat, daß dies kein Streik, sondern eine politische Machtprobe gewesen wäre, inszeniert von den Führern der Sozialdemokratie, so gebe ich zu, daß juristische Beweise hierfür vielleicht schwer beizubringen sind. Aber das ganze sächsische Volk — das ganze deutsche Volk -- ist davon überzeugt und diese Ueberzeugung geht weit hinein in die Reihen der sozialdemokratischen Arbeiter —, daß es lediglich sozialdemokratischer Einfluß gewesen ist, welcher zu diesem Streik gedrängt und denselben in so frivoler Weise fortgeführt hat, während man schon längst die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß ein Sieg für die Arbeiter nicht denkbar war. Es ist dazu die Crimmitschauer Industrie ausgesucht worden, die gar nicht imstande war, diese Forderungen zu bewilligen, wenn man die Kon kurrenz derjenigen Plätze in Deutschland in Betracht zieht, welche dieselben Erzeugnisse wie Crimmitschau Herstellen. Die Fabrikanten sagen in ihrer Denkschrift ganz richtig: „Das kann auch niemand behaupten, Denn „die gesamte Konkurrenz, Köttbus, Spremherg, „Werdau, Forst re. arbeiten volle 11 Stunden „und halten mit Rücksickt auf das Ausland an „dieser Arbeitszeit fest, während in Crimmitschau „zur Zeit bloß 10'/z und 10V4 Stunden ge- „arbeitet worden ist. Auch dies alles ist, wie „inan deutlich aus allen Kundgebungen der Herren „Professoren ersieht, ihnen völlig unbekannt, wie „denn alle Kritiker überhaupt mit denkbar größter „Unkenntnis der Sachlage, aber mit um so „größerem Pathos und mit einer für alle reichs- „treuen Parteien geradezu erschreckenden Hin- „neigung zur sozialdemokratischen Richtung doziert „haben. Und das ist unsere gepriesene deutsche „Wissenschaft, deren Jünger nach der Meinung „der Besten kein Wort ohne gründliche Prüfung „und genauestes Studium schreiben werden! Und „alle diese Professoren haben noch nie mit einem „Fuße Crimmitschau betreten, sie kennen weder „die Industrie noch ihre Konkurrenz und Lebens- „bedingungen, aber sie leitartikeln und begut- „achten nach Zeitungsberichlen, sie kritisieren und „wissen alles besser als Behörden und alle „Bürger am Platze nB Wenn man diese Erfahrungen, diese Tat sachen zusammenstclll, muß man da nicht zu der Ueberzeugung kommen, daß es wohl nie einen frivoleren Streik gegeben hat als den in Crim milschau? Die Führer des Streiks wie die Führer der Sozialdemokratie mußten davon überzeugt sein, daß eS den Crimmitschauer Fabri Fanten ganz unmöglich war, unter diesen Ver hältnissen einseitig die Forderungen des Ver bandes zu bewilligen, weil dies Selbstmord für die Crimmitschauer Industrie bedeutet Hütte. Es ist aber nicht bloß der Inhalt der Denk schrift, aus der ich meine Informationen geschöpft habe; ich habe dieser Tage Gelegenheit gehabt, mehrere Briefe eines 70jährigen Fabrikarbeiters aus Crimmitschau an seinen Sohn in Dresden zu lesen, und ich will den Inhalt des einen Briefes kurz andeuten. Ich bin leider nicht in der Lage, den Namen dieses Arbeiters zu nennen, weil am Schlüsse des Briefes der Vater seinem Sohn sagt: verbrenne diesen Brief; denn ich könnte nicht länger in Crimmitschau bleiben, wenn jemand erführe, daß ich ihn geschrieben habe. (Lebhafte Rufe: hört! Hörl! rechts.) In diesem Briefe sagt der 70jührige Vater: „Mein lieber Sohn „Es ist trostlos in unserer Heimatstadt. Gewissen- „lose Leute haben ein Elend über uns heraufbe- „schworeu, an den, wir alle schwer leiden. Er fügt hinzu - ich bitte nun aufzumerken, meine Herren —: „Ich verdiene heute noch mit 70 Jahren „mindestens 20 Mark die Woche. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) „Ich habe zwar ungefähr 200 Black Schaden, „weil ich unter der Aussperrung mitleiden mußte. „Gott sei Dank, jetzt habe ich wieder Arbeit. Es ist kurz vorWeihuachten, und ein fröhliches Gott vertrauen spricht ans dem Briefe. Er sagt weiter: „Schickt uns keinen Weihnachtskuchen und auch „keinen Weihnachtsstollen. Gottlob für die „Blutter und mich langt es noch. Wenn wir „auch nicht den Teig bis au die Ellenbogen „kneten können, eS geht bloß bis an die Knöchel, „aber es langt für uns. Gott sei Dank!" Das ist die christliche Zufriedenheit, - die „ver- dammte" Zufriedenheit des Herrn Bebel. Darum ist es Ihnen zu tun, diese Zufriedenheit, dieses Gottvertrauen aus unserem Arbeiterstande immer mehr Herauszureißen, weil Sie wissen, daß, sö'ange der alte Herrgott lebt — und er wird ja leben, wenn man längst den Namen Sozial demokratie vergessen hat —, Sie nicht zu dem Siege kommen werden, den Sie sich immer wieder träumen und Anderen vorreden. Wenn man alle diese Tatsachen zusammen, faßt, dann muß man sich wundern über die Dreistigkeit, mit der heute »och jene Tat von Crimmitschau hier von dieser Stelle verfochten wird. Man braucht sich eigentlich auch nicht zu wundern; denn es ist nicht die Ueberzeugung, Vie aus den Reden der Sozialdemokratie, spricht, daß man auf dem richtigen Wege zum Heil der Arbeiter war: nein, es ist die Furcht, die blasse Angst, daß unserer deutschen Arbeiterschaft die Augen sich öffnen könnten, daß sie eine Ahnung davon bekäme, zu welchem Unheil sie auf Ihren Bahnen geführt wird. Deshalb ruft man heute, nach dem alten Rezept: haltet den Dieb! — weil die Herren selbst wissen, daß sie den Dieb stahl an Elück, Zufriedenheit und Gottvertrauen in Crimmitschau begangen haben. (Bravo! rechts.) Was dann das Verhalten der sächsischen Behörden anlangt, so muß ich offen gestehen, ich bin selbst, als ich die erste Nachricht über jene Versammlungsverbote las, als ich die Kunde vernahm, daß die Weihnachtsbescherungen ver boten seien, der Ueberzeugung gewesen, daß man wohl einen Fehltritt getan habe, daß man einen Mißgriff begangen habe, wie er vielleicht psychologisch zu verstehen sei aus den Verhält nissen, aber nicht zu rechtfertigen. Aber, meine verehrten Herren, nachdem ich mich überzeugt habe, aus welchen Gründen heraus jene Ver- sammlungSverbote erfolgt sind, nach welch schlimmen Ausschreitungen und berechtigten Be fürchtungen das Verbot der öffentlichen Weih nachtsbescherung ergangen ist, bin ich der Ueber zeugung geworden, daß die sächsischen Behörden ihre volle und ganze Pflicht getan haben. (Unruhe bei den Sozialdemokraten.) Die Ausschreitungen, die in Crimmitschau vorgekommen sind, können Sie nicht mit gutem Gewissen verteidige». Ich will zie heute nicht einzeln aufführen, aber außer dem Koalitions recht der Arbeiter - und ich erkläre das hier feierlich im Namen meiner Partei, daß es uns niemals einfallen wird, eS anzulasten, daß wir es hoch und heilig halte» werden allezeit, weil den Arbeitern uiller allen Umständen das Recht gegeben werde» muß, sich gegen Ausbeutung von oben zusammenzuschließen — aber außer dem Schutz des Koalitionsrechts steht den Be hörden und den Regierungen vor allem auch der Schutz des arbeitswilligen Arbeiters, des ruhigen, des friedlichen Bürgers zu und weiter haben unsere sächsischen Behörden nichts getan. Es ist freilich leichter, hier, wie es der Reichs kanzler tut, im Reichstag elegante Reden zu halten und durch einige gut angebrachte Witze die Sozialdemokratie augenblicklich zurückzu schlagen. Aber schwerer ist es in solchen schlimmen Zeiten, in so schweren Lagen für eine Regierung, den richtige» Weg zu finden und nicht bloß den Arbeitern, sondern auch der übrigen Bevölkerung die Ueberzeugung beizu bringen, daß es noch andere Interessen im Staate gibt als lediglich die Interesse» der Ar beiter. Ruhe mid Ordnung sind die Grund lagen des Staates, die haben unsere sächsischen Behörden aufrecht erhalten; ich bin der festen Ueberzeugung, daß ein späterer Kulturhistoriker dieses Vorgehen der sächsischen Behörden »och einmal als eine rettende Tat bezeichnen wird. (Lachen bei den Sozialdemokraten.) — Jawohl, meine Herren, besonders auch im Interesse der Arbeiter: denn ich bin fest über zeugt, wären jene Versammlungsverbote nicht gekommen, wäre das starke Aufgebot der Gen darmerie nicht nach Crimmitschau gesandt, dann wären Ausschreitungen vorgetömmen, die viel leicht Hunderte Crimmitschauer Arbeiter im Ge fängnis büßen müßten, nach denen Sic, meine Herren Sozialdemokraten, dann nicht weiter ge fragt hätten. (Bravo! rechts.) Hinzufüge» will ich noch, daß die Lage der Crimmitschauer Industriellen durchaus nicht eine glänzende gewesen ist, daß sie mit schweren Verhältnisse» haben ringen müssen. Als unsere sächsische Regierung den Vermitteluugsversuch in Crimmitschau machte durch Herrn Regierungs rat I)r. Roscher, teilten ihm die Fabrikanten mit, daß während der beiden letzten Jahrzehnte etwa 40 Firmen in Ler Crimmitschauer Indu strie eingegangen seien, daß sogar die Bevölke rung der Stadt von 23,500 im Jahre 1895 auf 22,840 im Jahre 1900, also um mehr als 700 Seelen gesunken sei. Nach einer vom Kgl. Amtsgericht Crimmitschau inzwischen erlangten Uebersicht der Konkurse sind diese Angaben nicht übertriebe», sonder» bleiben noch hinter der Wirklichkeit zurück; denn in den 21 Jahren von 1883 bis 1903 sielen innerhalb des Amtsgerichts