Suche löschen...
Allgemeiner Anzeiger : 14.09.1912
- Erscheinungsdatum
- 1912-09-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191209146
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19120914
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19120914
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1912
-
Monat
1912-09
- Tag 1912-09-14
-
Monat
1912-09
-
Jahr
1912
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 14.09.1912
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Internationales MKtrauen. Seit König Eduard VIl. von England seine Europafahrten machte mit dem nicht verhehlten Zweck, einen allgemeinen Staatenbund gegen Deutschland ins Leben zu rufen, ist die Well eigentlich nicht wieder zur Ruhe gekommen. Gewiß, der große Staatsmann hat sich über» zeugen müssen, daß seine Idee nur in der Theorie etwas für sich hat, er mußte sich nach langem Bemühen endlich eingestehen, daß gegen über dem Dreibund (in dessen Machtbereich das unzuverlässige Italien durchaus keine bedeut same Rolle spielt) keine Parteiengruppierung gefunden werden kann, die stark genug wäre, in einem Kriege gegen Deutschland einen un bedingten Erfolg zu verbürgen. Aber gerade diese Erkenntnis hat unser Verhältnis zu Eng land nicht besser werden lassen. Das große Jnselreich, dessen JnteressenkreiS die Welt um spannt, sieht sich nun einmal durch den deutschen Wettbewerb bedroht und hofft in der Stille, daß eines Tages Frankreicy auf den Plan treten werde, um seinen Rachekrieg gegen Deutschland zu führen, dessen Früchte, wie immer er ausgehen möge, zum großen Teile England in den Schoß fallen würden. Und dieser Interessengegensatz hat sich nach und nach der ganzen Welt mitgeteilt. Durch England ermuntert, hat Frankreich sein Bündnis mn Rußland geschlossen. Dieses Bündnis war der Grund, weshalb das Zaren reich seine Orientpolilik, die von einem Balkan bunde unter der Führung Rußlands träumte, aufgeben und dafür den Schritt nach dem fernen Asien lenken konnte. In Asien aber fühlte sich England bedroht und hetzte daher — um den gefährliche« Nebenbuhler loszuwerden — Japan zum Kriege. Als Japan die großen folgenschweren Siege in der Mand schurei und Korea erfochten hatte, und in ihrem Verfolg seine Interessensphäre auf den Stillen Ozean ausdehnte, erfaßte die Ver. Staaten Groll und Mißtrauen. Immer verwirrter wurde die Lage — und je öfter man sich zur Er haltung des Friedens im Haag zusammenfand, um so deutlicher zeigte sich, daß der Friede bereits so gebrechlich geworden ist, daß er knapp noch eine Debatte über die Möglichkeit seiner Erhaltung erträgt. Frankreich gegen Deutsch land, England gegen Deutschland, der Drei bund gegen die Ententemächte (Rußland, Frankreich und England), Österreich - Ungarn gegen Italien, Rußland gegen Österreich (auf dem Balkan) und gegen England (in Ostasien), alle Europastaaten (außer Deutschland) auf dem Balkan gegeneinander, so kann man am besten die Mächte gruppieren nach dem Mißtrauen, das sie gegeneinander hegen. Und obwohl diese Sachlage niemand verschwiegen werden kann, weil sie auch der weltfremdeste erkennen muß, wird immer wieder von dem wolkenlosen Horizont gesprochen, und wenn ja jemand auf den Ge danken kommt, bescheiden um den Grund der immer schwerer aus der Welt lastenden Rüstungen zu fragen, so erhält er die Antwort: Die Rüstung ist der Fneüe. Wir glauben nur das alte Märchen nicht mehr. Wenn in dem all gemeinen Wirrjal, bei dem Mißtrauen, das die Völker der Welt gegeneinander erfüllt, über haupt noch eine Friedensgarantie möglich ist, so besteht sie darin, daß sich die Nationen sagen müssen, jeder Krieg, auch der siegreichste, muß heute ein Volk an den Abgrund bringen. Schönere Siege, als Japan sie über Rußland errang, sind in der Weltgeschichte noch nicht da gewesen und auch wohl kaum denkbar, es sei denn, daß ein Gegner ohne weiteres bei einem Angriff auf Gegenwehr verzichtet. Und dennoch ist Japan noch heute völlig erschöpft, kann es noch heute nicht daran denken, auf normalem Wege auch nur die Zinsen der Schuld zu decken, die ihm der Krieg ausgeladen hat. Und noch ein Gedanke ist tröstlich: die Völker, wenigstens die, auf die es bei großen Ent scheidungen anlommt, sind nahezu an der Grenze ihrer Leistungsjähigkeit angelangt. Die allge ¬ meinen Rüstungen beginnen den Geldmarkt zu lähmen (ein Blick auf'die Rentenkurse lehrt es), das Geld wird immer mehr entwertet und es bleibt Wießlich nur noch der Weg zur Verständigung. Wenn die Völker erst eingeiehen haben werden, daß sie ohne Selbstvernichtung keinen Krieg führen können, werden sie das Mißtrauen über winden und den Weg der Verständigung be- schreiten. Und nur die werden die Folgen zu tragen haben, die eigensinnig beiseite stehen und an der vernunftsgemäßen Lösung der unheim lichen internationalen Krise nicht teilnehmen wollen. AU). Politische Aunälchau. Deutschland. "Kaiser Wilhelm hat für die Zeit des Manövers in einem Barackenlager bei Benutz zwischen Oschatz und Mügeln Aufenthalt genommen. * Das Ergebnis der BuchlauerBe- sprechungen wird in einer halbamtlichen Auslassung wie folgt gekennzeichnet: Der zwei tägige Besuch des Reichskanzlers v. Beth mann-Hollweg beim österreichischen Minister des Äußeren Grafen Berchtold in Buchlau hat den leitenden Staatsmännern der beiden verbündeten Mächte wiederholt zu eingehenden politischen Unterredungen Gelegenheit gegeben. Dabei wurden alle augenblicklich schwebenden Fragen der allgemeinen äußeren Politik, ins besondere diejenigen des nahen Ostens be sprochen und die beiderseitige volle Überein stimmung über alle Punkte erneut festgestellt. * Wie die ,Weser-Ztg/ berichtet, hat sich die bayrische Regierung mit der Reichs leitung ins Einvernehmen gesetzt, um Maß regeln gegen die Fleischteuerung zu treffen. EL handelt sich um die Erleichterung der Einfuhr ausländischen Fleisches, das nach 8 12 des Meischbeschaugesetzes nur in ganzen oder halben Tierkörpern und in natür lichem Zusammenhang mit Lunge, Herz, Leber, Nieren, Euter, Brust- und Bauchfell eingeführt werden darf. Die Kühlung oder Eisoerpackung großer Tierkörper und dazu noch im Zusammen hang mit den genannten Organen ist keine ganz leichte Aufgabe, die Zerlegung in kleinere Stücke müßte gestattet werden, und nach dieser Richtung hin will die bayrische Regierung wirken. Die Reichsregierung prüft gegenwärtig die Frage, ob die Einfuhr ausländischen Fleisches gegenwärtig geboten, und ob sie aus sanitären Gründen zulässig sei. "Die Frage, ob bei eintretendsr unver schuldeter Arbeitslosigkeit die Steuer leistung aufzuhören habe, ist bis jetzt nicht immer einheitlich von den preußischen Ein- schätzungsbehörden behandelt worden. Die ein schlägigen Bestimmungen ließen verschiedene Deutungen zu. Es ist beabsichtigt, diese Frage bei der Steuerreform endgültig und einheitlich zu regeln. Schon in der Steuerkommission ist die Frage angeschnitten worden und es konnte ein Einverständnis mit dem Finanzministerium erzielt werden. Nach der gegenwärtigen Rechts lage kann bei allen denjenigen Steuerpflichtigen auf ihren Antrag eine Ermäßigung der Ein kommensteuer erfolgen, deren Einkommen infolge Wegfalls einer Einkommensquelle sich um mindestens ein Fünftel gegen die Veranlagung des laufenden Steuerjahres verringert hat. Balkanstaaten. G Wiener Nachrichten zufolge ist zwischen den italienischen und türkischen Unterhändlern in der Schweiz bereits ein vorläufiges Friedensabkommen getroffen worden. Demzufolge sollen die Angriffe der Italiener auf türkische Küsten und Inseln eingestellt und die Feindseligkeiten in Tripolis möglichst be schränkt werden. Die Türkei erlaubt dagegen den ausgewiesenen Italienern die Rückkehr als deutsche Schutzgenossen. Die Frage der Oberhoheit über Tripolis und die Cyrenaika, also die Kardinalsrage des ganzen Sireites, bleibt vorläufig unerörtert. Ob auf dieser Grundlage wirtlich ein Frieden zustande kommt, erscheint doch sehr fraglich. * Unter den aus der asiatischen Seite der Dardanellen' untergebrachten türkischen Truppen ist eine Meuterei ausgebrochen, weil mit Rücksicht auf den Krieg die Ent lassungen verzögert worden sind. Von der europäischen Seite wurden Truppen gegen die Meuterer gesandt, die sich nach kurzem Kampf ergaben. Amerika. ONach langem Zögern scheinen sich d» Ver. Staaten endlich entschlossen zu haben, der Revolution in Mexiko, die bereits zehn Monate lang das Land verwüstet und Leben und Mgentum der Fremden bedroht, ein Ende zu machen. Präsident Taft hat dem Präsidenten Madero von Mexiko eine kurze Frist zur Niederwerfung der Rebellion gestellt. Ist sie ohne Erfolg verstrichen, werden ameri kanische Truppen in Mexiko einrücken. — Man verhehlt sich in Washington allerdings nicht, daß das Unternehmen kostspielig und langwierig sein wird. Afrika. * Schneller als nach den bisherigen Berichten anzunehmen war, ist es den französischen Streitkräften gelungen, die südliche Hauptstadt des Scherifenreiches, Marrakesch, die von dem Gegensultan El Hiba ein genommen worden war, in ihre Gewalt zu bekommen. Nach einem heftigen Gefechte floh El Hiba, von dem mehrere Stämme wieder abgefallen sind, ins Gebirge. Es ist indessen zweifelhaft, ob damit die marokkanische Erhebung beendet ist. U berliner Kriek. Die Hellen Kleider sind aus dem Straßen- bilde der Reichshauptstadt verschwunden, denn es gilt im allgemeinen nicht für schick, nach der ersten Theaterpremiere noch „Sommer* zu machen. Berlin bereitet sich auf die Saison vor. Sie wissen, was das heißt, verehrter Freund: Die Mama ist tagelang unsichtbar, und wenn man sie sieht, immer in furchtbarer Er regung, denn sie entwirft mit der Schneiderin Toiletten für den kommenden Feldzug: die Tochter des Hauses geht fleißig zur Tanz stunde, um bis zum ersten Familienball ge rüstet zu sein; der Herr Sohn paukt mit irgend einem Kenner „Knigges Umgang mit Menschen"; Papa sitzt an seinen Büchern und berechnet im voraus die Kosten der Gesellschaftskampagne — und der Junggeselle schleicht im Dunkel des Spätsommerabends ins Leihhaus, um den Frackanzug aus seinem sommerlichen Schlaf zu erlösen. Noch sind ja die Tage der Hoffnung I Noch hat uns keine Haustochter mit ihrem Gesang die Freude an der Musik auf Wochen verdorben, noch ist der Magen von der Sommer kur in Ordnung und keine Frikassees, keine echten und falschen Suppen nach französischer, englischer und wer weiß was für Art, kein Geflügel und Wildpret hat uns aus irgend einem Hause in die Flucht geschlagen. Noch hofft man auch (wie seit vielen Jahren vergeblich), daß irgend ein Theater, oder irgend ein Dichter etwas Außergewöhnliches bringen wird. Noch sind die Tage der Hoffnung, die freilich in diesemJahre schon von vornherein einen leisen Mißklang erfuhren. Der neue Direktor des Deutschen Schauspiel hauses, der seit Monden für seine neuen Ziele Reklame gemacht hat, hat mit mehreren Kritikern, die seine recht mißglückte Egmont- Aufführung nicht gelobt haben, einen Zweikampf in der Presse ausgefochten, der leider nicht ver mocht hat, aus seiner Niederlage einen Erfolg zu machen. Die „Saison" begann also eigent lich mit einem Skandälchen, wie es der Berliner gerade gerne hat. — Ein wenig freundlicher gestaltete sich der Beginn der Kurfürsten - Oper, wo Wilhelm Kienzl, sie nennen ihn nicht mrt Unrecht den in „reinen Melodien Schwelgenden",' seinen „Kuhreigen" aufführen ließ. Den „Kuhreigen" kennen wir. Es ist das Alpenlied: „Zu Straßburg auf der Schanz'", das durch Silchers einfache Vertonung bekannt geworden ist. Für eine Oper reichte der Volks liederstoff nicht aus. So hat denn der Text dichter für den Komponisten einen Stoff daraus gemacht, der durchaus leidlich ist. (Ein Schweizer ist (17L2- verhaftet worden, weil er den verbotenen Kuhreigen gesungen hat. Man verurteilt ihn zum Tode, und eine schöne Frau aus altem Adel und von weitreichendem Einfluß bittet sür ihn. Er wird begnadigt. Als dann Frankreich zusammenbricht, soll auch die schöne Frau auf das Schafott geschleppt werden. Da kommt der Schweizer und bietet ihr seine Hand an, womit sie gerettet wäre, da sie ja durch die Heirat eine Bürgerliche würde. Aber die Frau, die den Glanz und die weltberühmten Liebes- Händel des letzten französischen Königshofes miterlebt hat, will nicht leben als Bürger liche. Lieber beschreitet sie, eine Heldin von ganz eigener Art, das Schafott.) Der Stoff und Kienzls Musik errangen einen vollen Erfolg. Oder besser gesagt, sie lösten eine hehre Stimmung aus, der sich auch die griesgrämigsten Kritikaster nicht entziehen konnten. Einen vollen Erfolg erzielt nämlich in Berlin auch manches andre. So zum Beispiel die große Modenausstellung, die vor einigen Tagen im Zoologischen Garten eröffnet worden ist. Sie soll eine Widerlegung der Behauptung sein, die Reichshauptstadt beziehe ihre Modenideen aus Paris, London oder Wien. Nein, Ver ehrtester, wir haben unsre eigenen Modemacher, wie wir auch unsre eigenen Modenkönige und Modenköniginnen haben. Der Naive er staunt einigermaßen, was heutzutage alles zur Mode gehört. Neben den Leistungen der Bekleidungsindustrie, die hier übrigens zeigt, daß sie an Ungewöhnlichem nicht hinter dem Auslande zurück bleibt, steht man Dinge aus dem Reiche der Kosmetik, Artikel zur Gesichts massage und den (offenbar gerade jetzt modernen). Fettpuder. Ob unsre Damen aber von der Ausstellung überzeugt sein werden? Sie werden die Leistungsfähigkeit der deutschen Bekleidungs industrie bewundern, aber sie werden ihre Hüte und Kleider, ihre — sämtlichen Bedarfsartikel weiter aus dem Auslande beziehen; denn eS gilt doch sür eine Berlinerin nicht als „schick", deutsche Sachen zu tragen. Und alles kann eine Berlinerin ertragen, nur nicht den Vorwurf, daß sie nicht schick sei. öl. O. f)eer unci flone. — In Wilhelmshaven wird vom 22. Sep tember ab das Jubiläum des 25 jährigen Be stehens der zweiten Torpedodivision begangen werden. — Das auf den Vulkanwerken erbaute Linienschiff „Friedrich der Große" fährt am 17. d. Mts. nach Kuxhaven, um am Tage darauf seine Probefahrten auf der Nordsee auf zunehmen. Von unci fern. Nachklänge zum Schweizer Kaiser besuch. Kaiser Wilhelm hat den Armen der Städte Zürich und Bern je 5000 Mark ge spendet. — Wie ein Züricher Blatt zu erzählen weiß, hat der Monarch zu einem ersten Stadt- rat geäußert: „Ich hätte nie gedacht, daß in einer Republik ein Monarch so glimpflich be handelt würde." Eine Berliner Familie in Amerika an Fleischvergiftung gestorben. In Rocky Ford (Kolorado) sind plötzlich der vor einem Jahre von Berlin dorthin versetzte Pastor Gustav Latzke sowie seine Frau und seine beiden ältesten Kinder nach dem Genuß von Brühsuppe, die aus verdorbenem Fleisch hergestellt war, ge storben. Nur ein kleines Kindchen von anderthalb Jahren ist am Leben geblieben. Bärenspur in, Karwendelgebirge. Im Karwendelgebirge (Nordttrol), das seit einigen Tagen mit Neuschnee bedeckt ist, wurde die Spur eines Bären entdeckt. Es wurden alle Jagdliebhaber von Mittenwald aufgeboten, um das Raubtier zur Strecke zu bringen, was nach längerer Jagd gelang. Erdbeben in den Abruzzen. In den Abruzzen wurde in einer der letzten Nächte ein starker Erdstoß verspürt. Der durch den Fels getriebene Tunnel zwischen Camarada und Paganica wurde stark beschädigt. A Ans lUcbt gebracht. 1) Roman von H. Köhler.^ 1. Auf dem sogenannten „Promenadenweg" in der Handelsstadt Goßburg zeigten sich Schwärme von fröhlichen Stadtbewohnern, die, den langen Winter hindurch in ihren Häusern eingeengt, wie die Bienen ihren Bau verließen, um sich an dem blauen Himmel, der milden, balsamischen Lust und dem prächtigen Sonnenschein des ersten wirklichen Frühlingstages des Jahres zu erfreuen. Wie das herüber und hinüber wogte von frMchen, lachenden Gruppen, und wie zahl reich eigentlich das schöne Geschlecht vertreten war, das heute, am ersten Mai, auch zuerst die langersehnte Gelegenheit bekommen hatte, schon längst bereit liegende Frühlings kleider in Glanz und Licht hinauszutragen. Wie an einem Festtage war daS junge Volk geputzt; und wie das dabei miteinander kicherte, lachte und plauderte, und wie sorgfältig es einander musterte und prüfte I Ganze Trupps junger Schönen wanderten aus und ab, lachend und plaudernd, wenn sie sich begegneten, und ehrbar und züchtig wieder grüßend, wenn junge Herren ihrer Bekanntschaft vorübergingen, nach denen sie aber um's Leben nicht den Kopf hätten drehen dürfen — wie schwer ihnen das ost auch wurde. Die munterste von allen war die sonst eigentlich weit mehr ernste und sinnige Tochter Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. des Justizrats von Hochweiler, Elisabeth, eine reizende Brünette von vielleicht zwanzig Jahren, und sie vor allen andern musterte die ihr Be gegnenden. So still und ehrbar sie aber auch an ihnen vorüberschritt, nicht das geringste ent ging ihrem Blick, und mit viel Geist und einem trefflichen Humor wußte sie immer, sobald sie vorbei waren, so treffende und ost komische Be merkungen zu machen, daß ihre Begleiterinnen manchmal kaum ein lautes und jedenfalls un schickliches Lachen unterdrücken konnten. Auch die Herren entgingen der scharfen Geißel ihres unerbittlichen Witzes nicht. Je freundlicher und ehrerbietiger sie grüßten, desto schärfer wurden sie durchgenommen und reichen Stoff boten sie ja. — Der trug die Haare in der Mitte gescheitelt wie ein Oberkellner, jener ein Monoele im Auge wie ein Leutnant, — dieser war geschnürt, der andre hatte Sporen angeschnallt und wußte nicht einmal, von welcher Seite man „gewöhnlich" auf ein Pferd hinaufsteigt; kurz, es kam keiner ohne einen kleinen Seitenhieb vorbei, und je harmloser diese auch im ganzen waren, desto besser amüsierten sich die jungen Mädchen dabei. So waren sie schon fast um die ganze Promenade herumgeschritten und Elisabeth und deren um einige Jahre jüngeren Schwester Käthe in der Nähe ihrer Wohnung angelangt, als ihnen ein junger Herr begegnete, der durch seine äußere Erscheinung ihre Aufmerksamkeit plötzlich kesselte. Sein ganzes Äußeres ließ zwar schon auf den ersten Blick hin in ihm einen Mann der bevorzugien Stände erkennen, jedoch wies seine elegante Kleidung Mängel auf, die jedem, der ihm begegnete, auffallen mußten. Des Fremden feingeschnittenes Gesicht um rahmte ein voller, nur etwas kurz gehaltener, doch sorgfältig gepflegter Bart, aber — an seiner Weste waren nur die beiden untersten Knöpfe zugehakt, und die schwarzseidene Krawatte war unordentlich um den weißen Hemdkragen geschlungen, so daß sie schief saß und hinten über den Rand des Kragens hinausragte. Unter dem linken Arm trug er ein kleines, nach lässig in unsauberes, zerknittertes Zeitungspapier eingewickeltes Paket — alles Dinge, die den jungen Damen sofort auffielen. Elisabeths Blicke flogen aber unwillkürlich nach des Fremden rechtem Knie hinab, denn dort zog eine besonders auffallende Unregel mäßigkeit ihr Auge auf sich. Das Beinkleid war nämlich an jener Stelle zerrissen und zwar nicht etwa wieder ausgebessert, sondern ein Stück des leichten, seinen Stoffs hing offen Herab, als ob der Eigentümer vielleicht eben erst an einem Nagel hängen geblieben wäre und den Schaden nicht einmal bemerkt hätte — er würde sich doch sonst sicher nicht in dem Zustande aus der Straße gezeigt haben. Jetzt passierte er sie; wie fragend hob sich ihr Auge zu ihm auf und ihre Blicke begegneten sich, ja, die junge Dame hatte ihn unwillkürlich so fest angesehen, daß er, als er an ihr vorüber ging, den Hut zog und ihr damit daS Blut in Wangen und Schläfen jagte. „Kanntest du den Herrn mit den zerrissenen Unaussprechlichen, Lily?" kicherte ihr ihre Schwester übermütig zu, als sie den Fremden weit genug entfernt glaubte, um ihre Wort» nicht verstehen zu können, deren Klang er ab« jedenfalls noch gehört haben mußte. „Aber Käthchen," rief Elisabeth erschreckt, „das schickt sich ja gar nicht!" „So in der Stadt herumzulaufen, nick»/ wahr?" lächelte daS junge mutwillige Mädchen, indem es den Kopf zur Seite wandte, aber so gleich wieder herumfuhr und nun selber bestürzt sagte: „wahrhaftigt, er sieht sich nach uns um!" „Du bist auch gar zu ausgelassen, Käthchen," ermahnte sie die ältere Schwester, „wer dreht den Kopf nach einem Herrn, wenn er vorüber geht!" „Wer daS nur gewesen sein mag?" sagt» Käthchen, ohne auf den Vorwurf der Schwester etwas zu erwidern. „Sicher kein hiesiger Kauf mann, vielleicht ein Fremder, der eben erst hi« angekommen ist. Wie wird er sich ärgern, wenn er merkt, daß er hier mit zerrissenen Kleider« umherlies." „Laß uns nmkehren," sagte Elisabeth plötzlich. „Ja," rief Käthchen rasch, „vielleicht begegne« wir ihn noch einmal." „Aber deshalb doch nicht," jagte Elisabeth und fühlte trotzdem, daß sie wieder rot wurde: „es ist schon spät, und wir müssen nach Hause." Noch während sie sprachen, fuhr eine offen« Droschke vorüber, in der der Herr mit dem zer rissenen Beinkleid saß Er mußte seinen Schade« bemerkt haben, denn sein Taschentuch in d« Hand haltend, ließ er es über das rechte Kni« fallen. Die Damen schien er aber nicht wieder
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)