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Allgemeiner Anzeiger : 10.08.1912
- Erscheinungsdatum
- 1912-08-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191208108
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- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1912
-
Monat
1912-08
- Tag 1912-08-10
-
Monat
1912-08
-
Jahr
1912
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 10.08.1912
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Der Verfaslungskampf in äer Türkei. G Die türkische Abgeordnetenkammer, die im April dieses Jahres unter dem Druck der Jungtürken gewählt worden ist, wobei besonders in Albanien mancherlei „Unregelmäßigkeiten* vorkamen, ist nunmehr durch einen Erlaß des Sultans aufgelöst worden. Es war vergeblich, daß die Kammermehrheit einen Vertagungs anirag einbrachte, vergeblich auch, daß sie dem selben Ministerium, dem sie vor wenigen Tagen ihr Vertrauen ausgesprochen hatte, ihr Miß trauen aussprach. Es war auch vergeblich, daß die Jungtürken sich mit einer Beschwerde an den Sultan wandten; er ließ niemand vor und wies auch eine Depesche seiner Getreuen, die ihn doch au den Thron geführt haben, zurück. Kurz, das jungtürkische Regiment hat eine schwere Nieder lage erlitten; die Albanier, die unter allen Umständen diese Kammer beseitigen wollten, haben gesiegt. Freilich, die Regierung gibt nicht zu, daß sie mit der Kammerauflösung eine Forderung der Rebellen in Albanien erfüllt habe. Sie versteckt sich hinter staatsrechtliche Winkelzüge, wie die Verfügung betr. die Kammerauflösung zeigt, in der es u. a. heißt: „Wegen der zwischen dem früheren Kabinett Said - Pascha und der früheren Kammer entstandenen Mei nungsverschiedenheiten über eine Abänderung der Verfassung ist die alte Kammer aufgelöst und die neugewählte Kammer am 18. April einberufen worden. Nach einem Beschlusse des Senats ist die neue Kammer ausschließlich dazu bestimmt gewesen, sich als Schiedsrichter über den Streitpunkt, den der Artikel 35 (betr. das ausschließliche Recht des Sultans der Kammer auflösung) der Verfassung bildet, auszusprechen. Nachdem diese Aufgabe erfüllt worden ist, muß das Parlament geschlossen und Neuwahlen müssen ausgeschrieben werden.* — Man kann über die Rechtmäßigkeit dieser Begründung zweierlei Meinung sein. Jedenfalls hat die Regierung die Macht — und sie hat davon Gebrauch gemacht. Um jeden etwaigen gewalt samen Widerstand im Keime zu ersticken, wurde der Belagerungszustand über Konstantinopel verhängt, der erst vor kurzer Zeit aufgehoben worden war. Der Verlesung des AuflösungS- erlafles wohnten in der Kammer nur 10 Ab geordnete bei. Sie erklärten, die Kammer auslösung sei ein Staatsstreich und die Kammer werde in einem andern Ort weiter tagen. Das wird allerdings nicht so einfach sein, da die meisten Städte Gegner des jungtürkischen Komitees sind. Ehe die Deputierten den Saal räumten, hielt der ehemalige Minister Dschavid eine Anklagerede, in der er u. a. ausführte: »Als vor einigen Tagen der Präsident bedroht wurde (durch den Brief eines Offiziers), erklärte er sich bereit, sein Leben für die Verfassung zu opfern. Heute tritt diese Frage an uns alle heran. Nicht nur wir, sondern Sie Verfassung ist bedroht. Am 18. April 1909 wurden mehrere unsrer Kameraden die Opfer des Staatsstreiches (als Abd ul Hamid die Verfassung aufheben wollte). Das Komitee hat damals die Verfassung ver teidigt. Heute meldet sich der Verrat unter andrer Maske. Wir haben Friedensliebe be wiesen, indem wir der Regierung zunächst das Vertrauen aussprachen. Die Regierung wollte aber leinen Frieden. Sie hat Verwirrung ge stiftet und die Aufregung grenzenlos vermehrt. Unter dem Vorwand der Gesetzlichkeit hat das Kabinett das schlimmste Unrecht begangen. Die Regierung glaubt durch die Kammer-Auflösung etwas erreichen zu können. Das Ministerium ist das Werkzeug der Offiziere; aber wir fürchten keine Drohungen. Alle Donnerkeile Abd ul Hamids konnten uns nicht einschüchtern. Wir werden auch jetzt Mittel finden, die zu bestrafen, die jetzt die Verfassung mit Füßen treten. Die Armee soll kommen und sehen, welche Ver brechen man in ihrem Namen begeht. Nicht die Albanier, die Minister find Rebellen. Wir brauchen uns den Befehlen einer Regie rung nicht zu unterwerfen, die unter dem Zwang von Offizieren handelt.* So ist denn ein ver-, hängnisvoller Kampf um die Macht zwischen dem jungtürkischen Komitee und der Regierung entbrannt, ein Kampf, bei dem beide Gegner einen Teil der Armee hinter sich haben. Die Jungtürken werden nun zunächst die Neuwahlen vereiteln und mit allen Mitteln danach streben, alle Mitglieder des gegenwärtigen Kabinetts wegen „eines Angriffs auf die Verfassung vor einen Staatsgerichtshof zu stellen*. — Es kommt nur darauf an, welche der beiden Par teien stärker ist. Soll aber die Armee im blutigen Bürgerkriege die Entscheidung bringen? Das ist die Frage, von deren Beantwortung das Schicksal der Türkei abhängt. Politische Kunäschau. Deutschland. * Kaiser Wilhelm ist von der Nord landreise heimgekehrt und in Swinemünde ein getroffen. Der Monarch empfing dort den Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg zu einem längeren Vortrag über die Lage und besichtigte dann eingehend in Ahlbeck das von ihm ins Leben gerufene und jetzt im Bau be griffene Erholungsheim für arme Kinder. Von Swinemünde aus begab sich der Kaiser nach Essen zur Teilnahme an der Kruppschen Hundert jahrfeier. *Die Verhaftung von fünf Eng ländern der besseren Stände, die unter dem Verdacht der Spionage auf ihrer Dampfjacht bei Eckernförde festgenommen wurden, hat all gemein großes Aufsehen erregt. Es heißt, daß bei den Verhafteten mehrere Photographien von Festungs- und Schleusenwerken gefunden wurden, die jetzt der Marinebehörde zur Prüfung vor liegen. — In Metz ist ein Schirrmeister vom Artilleriedepot sowie ein Vizefeldwebel ebenfalls unter Spionageverdacht verhaftet worden. * Nach einer Zusammenstellung des Reichs versicherungsamtes beträgt die Zahl der seit dem 1. Januar 1891 bis einschließlich 30. Juni 1912 von den 31Landesversicherungsanstaltenund den zehn vorhandenen Sonderanstalten bewil ligten Invalidenrenten 2 043 354. In folge Todes oder Auswanderung des Berechtigten, Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit, Bezuges von Unsallrenten oder aus andern Gründen sind bereits 1090 297 Invalidenrenten weg gefallen, so daß am 1. Juli 1912 noch 953 057 Invalidenrenten liefen. Ihre Zahl hat sich so nach gegen den 1. April 1912 um 8074 erhöht. Krankenrenten wurden in der Zeit vom 1. Januar 1900 bis einschließlich 30. Juni 1912 132 792 bewilligt. Infolge Todes, Wieder erlangung der Erwerbsfähigkeit oder aus andern Gründen find bereits 116 926 Kranken- renten weggefallen, so daß am 1. IM 1912 noch 15 866 Krankenrenten liefen. Ihre Zahl hat sich sonach gegen den 1. April 1912 um zwei erhöht. Die Zahl der während desselben Zeit raums bewilligten Altersrenten beträgt 510 838. Infolge Todes oder Auswanderung des Berechtigten oder aus andern Gründen sind bereits 419 507 Altersrenten weggefallen, so daß am 1. Juli 1912 noch 91 331 Alters renten liefen. Ihre Zahl hat sich sonach gegen den 1. April 1912 um 1254 vermindert. Test dem 1. Januar 1912 ist der Invalidenversiche rung die Hinterbliebenenversiche- rung angegliedert worden. Bis 30. Juni 1912 st Witwenrente und Witwerrente in 829 Fällen, Witwenkrankenrente in 17 Fällen, Waisenrente in 3716 Fällen, Witwengeld in 1050 Fällen und Waisenaussteuer in 9 Fällen bewilligt worden. "Im vierten uiederbayrischen Reichstags wahlkreise Pfarrkirchen fand am 5. d. Mts. ne Ersatzwahl für den vor kurzem ver- torbenen Abgeordneten Bachmeier statt, der dem Bayrischen Bauernbund angehörte. Ge wählt wurde Landwirt Bauer (Bayrischer Bauernbund) mit 8650 Stimmen gegen den Zenlrumslandidaten Bürgermeister Gerau er, der 5798 Stimmen erhielt. — Bei der Haupt ¬ wahl im Januar d. Js. hatte der Bauernbündler Bachmeier mit 9882 Stimmen gegen 7722 Kimmen des Zentrumskandidaten gesiegt. Osterreich-Ungar». * * In der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 7. Juli wurde dem österreichisch-ungarischen Kciegsminister v. Auffenberg dieMehrforde- rungen von einer Viertel Milliarde Kronen für Neuanschaffungen der Heeres verwaltung nicht bewilligt. Kriegsminister v. Auffenberg hat daher dem Kaiser eine Denk schrift überreicht, in der er die Notwendigkeit der Mehrfordemngen begründet. Das ,Neue Wiener Tagblatt' erfährt nun aus gut unter richteter Quelle, daß die Generaldirektion der Skodawerke (Geschützsabriken) dem Kriegsminister den Vorschlag gemacht hat, die Rohre für die Artilleriegeschütze vorläufig auf ihre Kosten durchzuführen, d. h. der Kriegsverwaltung die Lieferungen zu kreditieren. Diesen Vorschlag hat der Kriegsminister dem Kaiser in Audienz unterbreitet, und der Kaiser hat den Vorschlag der Skodawerke genehmigt. So wird also Österreich-Ungarn die abgelehnten Neuanschaf fungen auf einem Umwege erhalten. England. * König Georg hat nach der ,Voff. Ztg/ einer Sammlung zur Unterstützung der verarmten Frauen und Kinder der streikenden Dockarbeiter 10000 Mark, die Königin 2000 Mark überwiesen. Balkanstaaten. "Mehrere Blätter melden aus Rom, daß ein italienischer Vorstoß gegen die Türkei unmittelbar zu erwarten sei. Der italienische Lenkballon „M. 1* sei aufgestiegen und kreuze über den Dardanellen auf Kon stantinopel zu und ein Flottenmanöver großen Stils werde folgen. Gleichzeitig laufen in Rom Gerüchte um, daß dieser Vorstoß nur die Einleitung zu diplomatischen Verhandlungen sein soll, und daß, nachdem ein energischer Druck auf die Türkei ausgeübt worden sei, die Friedensverhandlungen eingeleitet werden könnten. — Auf türkischer Seite erklärt man nach wie vor, daß an Frieden nicht zu denken sei, da erst jetzt wieder die arabischen Führer in Tripolis ausdrücklich die Fort setzung des Krieges „bis zum Ende* gefordert haben. Amerika. "Auf dem Kongreß der von dem früheren Präsidenten Roosevelt (nach seiner Nieder lage gegen Taft um die Präfidentschaftskandi- datur) gegründeten Fortschrittspartei, der in Chicago tagte, kam es zu einer Schlägerei zwischen Weißen und Negern, an der sich auch viele als Abgeordnete erschienene Frauen beteiligten. Man ist auf dem Kon greß der Ansicht, daß sich der Wahlkampf zwischen Roosevelt und dem demokratischen Kandidaten Wilson abspielen wird. Asien. * Nachdem Iuanschikai, der Präsident der Republik China, vor einigen Tagen den englischen Journalisten Dr. Morrison als politischen Beirat gewonnen hat, ist es ihm jetzt gelungen, noch einen zweiten Beirat in der Person des japanischen Gelehrten Nagao, Professor für internationales Recht, zu ver pflichten. Die chinesische Regierung legt Wert auf die Erklärung, daß beide Männer nur private Berater Juanschikais sind und mit dem Auswärtigen Amt in Peking in keiner Be ziehung stehen. Der Vrückeneinsturz in Sinz. Gegenüber den Darstellungen verschiedener Blätter, die die Schuld an dem Einsturz der Binzer Landungsbrücke, der 15 Menschenopfer forderte, der Badeverwaltung beimessen, richtet der Amtsvorsteher von Binz eine berichtigende Zuschrift an die Zeitungen, in der es u. a. heißt: An der Unglücksstelle, einer Treppe von vier Metern Breite, und am Einsteigeplatz waren am 28. Juli, nachmittags, drei Beamte im Dienst, zwei Polizeibeamte sowie der ständige, auch äußerlich durch Dienstschild als Beamter gekennzeichnete Brückenaufseher, der schon mehrere Jahre diesen Dienst ausübt. Von diesen ist der eine ertrunken, der zweite in- Wasser gefallen, aber gerettet worden, der dritte warf Helm und Säbel ab und ging ans Rettungswerk. Auf der Brücke waren außerdem (Strecke etwa 500 Meter und zwei Anlegestellen) ein Wachtoffizier und drei oder vier starke Patrouillen im Dienst. Nach der Katastrophe wurden die Abtransporte durch den Vorarbeiter und sämt liche Gemeindearbeiter, sowie durch Marine mannschaften geleistet. Die Unterbringung der Kranken wurde durch das Amt sofort geregelt. Stockungen haben sich nicht ergeben. Der Ab transport geschah schnell. Die jetzige Brücke steht erst seit Sommer 1905. Die Pläne sind geprüft von der Auf sichtsbehörde. Die Reparaturen, die jedes Jahr nötig sind, die Erweiterungs- und Verbesserungs- Arbeiten werden bis zur Saison durchgeführt. Im Jahre 1912 sind hierfür von der Gemeinde 56 000 Mark ausgegeben. Am Brückenkopf befanden sich sechs Rettungs ringe mit Strick, vier Haken usw., auf der Brücke in Summa zehn Ringe, acht Stangen. Die Fischer haben sich, im Gegensatz zu der fast allgemeinen Darstellung, durchweg an der Rettung beteiligt. Als Zivilisten verschwanden sie natürlich unter der Menge der rettenden Matrosen. Was die Katastrophe selbst an betrifft, jo entscheidet darüber das Gericht. Die ersten amtlichen Erhebungen fanden, so weit eS den Beamtendienst betraf, noch in der Unglücks nacht statt, der Brückenwärter z. B wurde dieserhalb nachts 3 Uhr aus dem Bett geholt. Die Aussagen gehen dahin, daß die Ab sperrvorkehrungen an der Brücke von de» Publikum selbst beseitigt sind, daß die Beamte» dem Andrang der Masse gegenüber machtlos waren. Das Urteil über den zerbrochenen Balken seitens des Sachverständigen vor dem Staatsanwalt geht dahin, daß er ihn als vor sichtiger Zimmermeister nicht eingelegt hätte, wenn er ihn aber eingelegt bei der Revision als Kontrollbeamter getroffen hätte, hätte er ihn nicht entfernen lassen. Kiesemholz ohne Aststellen gäbe es nicht. Gewisse Mängel in der großen Brückenanlage sind vorhanden und festgestellt, sie finden sich bei allen Landungs brücken, die dauernd Wind und Wetter aus gesetzt sind. Die Anregungen einer Sonder kommission von Ingenieuren der Badegesellschast in dieser Beziehung werden beachtet werden. Sie sind zu Papier gebracht und sollen den Aufsichtsbehörden vorgelegt werden. k)eer uncl flone. — Die beiden letzten Abschnitte des seiner Vollendung entgegengehenden neuen Kriegs hafens in Wilhelmshaven bilden der sogenannte -Jnseldurchstich* und die neue Torpedowerst. Sie wird die größte Anlage ihrer Art werden und sich mit ihren Bauten bis weit in das oldenburgische Gebiet erstrecken. Nachdem der Bau der Werkstätten bereits in Angriff ge nommen worden ist, soll nunmehr eine besondere Arbeiterspeiseanstalt für die Torpedowerft er richtet werden. — Das auf der Vulkanwerft in Hamburg erbaute Linienschiff „Friedrich der Große" wird demnächst die Werft verlassen und, nachdem auf der Reede von Brunsbüttel die Kompaßregu lierung erfolgt ist, zur Ableistung der Probe fahrt in See gehen. Von unci fern. Das Ehrengeschenk des Deutsche» Museums zur Krupp-Jahrhundertseier ist eine verkleinerte Nachbildung der ersten Betriebsdampfmaschine, die 1835 für Krupp er baut wurde und damals allein die ganze« Werke versorgte. Das auf kostbarem Marmor sockel ruhende Modell wurde in der Königlichen Eisenbahn-Zentralwerkstätte in München natur getreu ausgeführt. Der Direktor deS Deutschen Museums in München, Reichsrat Oskar von Miller, hat das Geschenk nach Essen über bracht. A Ourck eigene s) Novelle von Hans Lingg. Es waren etwa dreißig junge Leute in Karls Alter. Die Botanifiertrommeln, die groß und klein umherlagen, verrieten, daß die Jünglinge auf einem botanischen Ausflug begriffen waren. Soeben hatten sie einen neuen Vers begonnen, und Karl stand still und aufmerksam, um die feierliche Andacht und den schönen Gesang nicht zu stören: „Und wie der Klang nun verklinget, Wird auch Verhallen dein Schmerz; Kommt doch ein Abend und bringet Frieden auch dir, o mein Herzt* Erst als der letzte Akkord verhallt war und die Sänger aussprangen, trat Karl näher. „Entschuldigen Sie,* bat er. „Ich bin ver irrt und kann aus diesem Labyrinth von Gängen nicht herausfinden. Ich bitte, zeigen Sie mir, wenn Ihnen die Gegend bekannt ist, den Weg nach dem nächsten Ort!" Aus der Gruppe der jungen Leute trat jetzt ein Greis heraus, den Karl bisher nicht ge sehen hatte. Das war auch kein Wunder, denn der alte Herr war mehr als einen Kopf kleiner als seine Schüler. Auf dem kleinen Körper >aß ein verhältnismäßig großer Kopf. Das runzelige Gesickt machte den Eindruck väterlicher Liebens würdigkeit, mid die großen, grauen Augen bückten klug und freundlich zu Karl hinauf, der unwillkürlich eine stramme Haltung angenommen hatte und den Hut ehrerbietig in der Hand hielt. „Wenn Sie nach Braunshöhe wollen," sagte der alte Herr, „so haben wir einen Weg." „Ich suche ein Obdach in der Nähe. Die Gegend ist mir fremd. Mir ist jeder Ort an genehm.* „Dann, bitte, schließen Sie sich uns an." Die Gesellschaft brach auf. Nach zehn Minuten hatten sie einen breiten Fahrweg er reicht, der am Saum des Gebüsches hinführte. Hier angekommen, ordneten sich die Jünglinge zwanglos in Reihen zu drei und vier und sangen heitere Volkslieder, nach deren Takt sie munter hinschritten. Einige sangen die Melodie, andre ahmten die verschiedenen Instrumente nach und machten so eine lustige Begleitung. Karl fühlte sich durch die harmlose Munter keit unwiderstehlich angezogen. Er mußte herzlich mitlachen, als einer der Sänger, der sich durch einen breiten Mund aus zeichnete, am Schluffe jedes Liedes, indem er die Töne der Trompete nachahmte, mit einer kühnen Modulation nach einer andern Melodie überleitete, in der der Chor dann singend und blasend einfiel. Er hätte gern gefragt, was es mit diesen jungen Leuten, die offenbar nicht Schüler eines Gymnasiums und noch viel weniger Studenten waren, für eine Bewandtnis habe, aber die Bescheidenheit schloß ihm den Mund. Nach einer Weile trat der freundliche Greis, den seine Schüler mit „Herr Jäger* anredeteu, Karl näher und fragte nach dem Woher? und Wohin ? Das tat er mit jener liebenswürdigen Teilnahme, die sich absichtslos und unwider stehlich in das Herz der Menschen einschmeichelt, und deshalb erzählte Karl auch ohne Umstände seine ganze Leidensgeschichte und die Absicht, die ihn in die Ferne trieb. „Ich will zu Fuß nach der Provinzial hauptstadt,* schloß Karl seinen Bericht, „um von dort aus mit der Bahn nach Berlin zu fahren." „Gott geleite Sie, mein lieber, junger Freund!" sagte der alte Herr herzlich. „Mögen Sie Ihre guten Absichten erreichen und glück lich nach Ihrer Heimat zurückkehren. Für heute aber bitte ich Sie, mein Gast zu sein und mit einem einfachen Abendbwt und einem leidlichen Nachtlager fürsieb n'ehmen zu wollen. Sehen Sie, da sind wir zu Hause!" „O wie schön, wie schön!" rief Karl über rascht, als er aufblickte. Vor ihnen lag ein gewaltiger Häuser- komplex, aus dem sich der Turm einer Kirche kühn zum Himmel erhob. Nach links gewahrte man die Häuser eines Dorfes, nach rechts aber siel das Plateau terraffenartig zu einem weiten Tale ab, das sich fast enplos bis zum Horizont ausdehnte. Noch nie hatte Karl das Imposante und Liebliche so schön auf einem Fleck vereint gesehen. „Ein altes Kloster, nicht wahr ?" wagte Karl. „Ja, ein Zisterzienserkloster. Jetzt befindet sich in den Men Räumen eine landwirtschaft liche Schule. Ich selbst bin Lehrer an dieser Schule, und diese dort sind ein Teil unsrer Schüler." In diesem Augenblick erscholl der begeisterte Gesang der Wacht am Rhein. Die Schüler hatten aus dem Gespräch Karls mit dem alten ' Herrn io viel gehört, daß Karl als Freiwilliger den Krieg mitmachen wolle, weshalb sie ihm auf diese Weise ihre Sympathien zu erkenne« gaben. So zogen sie nach dem Takt des be liebten Marschliedes in Braunshöhe ein. Auf einem wetten Platz erhob sich in dea Formen des romanischen Stils die mächtige Klosterkirche, an deren Hinterwand sich die Ge bäude der landwirtschaftlichen Schule, die früheren Mönchs Wohnungen anlehnten. Nach links sührte ein großes, schön gebautes Tor auf die Dori straße hinaus, nach rechts kchntt man durch einen Sänlengang nach dem Portal der Anstatt. Die fröhliche Schar eilte hinein. Es waren lange, hohe Spitzbogengänge, die sie aufnahmen. Von den Wänden sahen ernste Heiligenbttder hernieder, die, mit den Marterwerkzeugen in der Hand, durch die sie einst den Märtyreriod erlitten hatten, einen fast unheimlichen Ein druck machten, als ob sie sich ärgerten über die laute Lustigkeit da unren, die ihrer nW achtete. Beglückt von der Gastfreundlichkeit, die ihm jo ungesucht zu Teil geworden, eigenartig be rührt von den dumpfen Räumen des alte« Klosters, überkam Karl ein unbestimmtes Ge fühl, als ob dieser Ort ihm noch Glück und Leid die Fülle bringen solle. 3. Karl wurde von der Familie seines freund lichen Führers auf das herzlichste begrüßt. Es waren zwei Damen, die Mutter und eine ältere, unverheiratete Tochter, die darin wett eiferten, dem Gaste es bequem zu machen und
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