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Allgemeiner Anzeiger : 31.07.1912
- Erscheinungsdatum
- 1912-07-31
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-191207312
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- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19120731
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19120731
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- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1912
-
Monat
1912-07
- Tag 1912-07-31
-
Monat
1912-07
-
Jahr
1912
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 31.07.1912
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Der Aufruhr in äer Türkei. G Was nach dem völligen Zusammenbruch der militärischen Disziplin in der Türkei beinahe selbstverständlich erschien, ist nunmehr eingetroffen: der „Offiziersverband zur Rettung deS Vater landes" bedroht die Kammer und damit natür lich alle verfassungsmäßigen Rechte. Der „Offi ziersverband" (neue Militärliga) hat sich an seinen Erfolgen berauscht. Weit entfernt, sich mit dem von ihm erzwungenen Rücktritt des miß liebigen - Kriegsministers Mahmud Schewket- Paicha und mit dem dann erzielten Sturz des ganzen Kabinetts Said-Paschas zufrieden zu geben, verlangt er jetzt unbedingt sofortige Auflösung der Kammer, und da alle diesbezüglichen Telegramme an die Regierung ohne Erfolg geblieben sind, verfiel man auf ein eigenartiges Mittel. Bei dem Präsidenten der Kammer erschien ein Offizier, der einen Drohbrief hinterließ, der nur einen Stempel mit der Aufschrift „Gruppe der Osfi- ziersbesreier" trug und folgenden Wortlaut hatte: „Nach so vielen schlechten Taten, die Ihr im Komitee sowie in der Kammer begangen habt, hat unsre Liga von Euren Schritten und Intrigen erfahren, die Ihr beim Sultan unternommen habt. Diese Taten verdienen die schwersten Strafen. Aber da wir uns nicht mit schmutzigem Blut beflecken wollen, so halten wir es für not wendig, Euch zu benachrichtigen, daß Ihr be weisen müßt, daß Ihr nicht aufhalten, sondern erleichtern wollt die Erfüllung des dringendsten Wunsches der Nation und der Armee, nämlich die Auflösung der Kammer oder vielmehr des Klubs, dieses Theaterklubs. Wenn Ihr nicht schnellstens so handelt, so benachrichtigen wir Euch, daß wir unsre patriotische Pflicht voll ständig erfüllen werden." Die Kammer, in der die besten türkischen Männer versammelt zu sein schienen, tat das klügste, was sie angesichts der drohenden Revolution tun konnte: sie erklärte sich für eine ununter brochene Sitzung, um so die Rechte der ge wählten Vertreter des Volkes gegen die Offiziere zu wahren. Die Verlesung des Briefes in der Kammer rief unbeschreibliche Szenen hervor. Verschiedene Redner sprachen der Osfiziersliga ihre Verachtung aus. Der Vorsitzende der jungtürkischen Partei erklärte, es sei noch nicht dagewesen, daß ein türkischer Offizier Drohbriefe ohne seinen Namen schreibe und er schloß: „Da der Feind vor den Toren der Hauptstadt steht, darf die Armee ihr Schwert nicht gegen uns kehren. Die Kammer fürchtet den Tod nicht! Wir werden siegen oder sterben." Und einstimmig wiederholten die Kammermit glieder: „Wir werden alle sterben." — Die Regierungsmitglieder scheinen sich des ganzen Ernstes der Lage nicht bewußt zu sein, wenigstens klingt die Erklärung des Kriegsministers vor der Kammer sehr zuversichtlich. Er sagte U. a.: „Ich bedaure den Zwischenfall, aber seit Ein führung der Verfassung sind solche Bluffs häufig vorgekommen. Nach dem Offizier, der den Brief zurückgelassen hat, wird gesucht, und natürlich wird er bestraft werden. Jedenfalls wird es auf dem Wege der Gewalt nicht zu einer Auslösung der Kammer und auch zu keiner Verfassungsänderung kommen." Ein andres Regierungsmitglied erklärte sodann, daß es bereits zu einer Einigung mit den Albanese» gekommen sei. Merkwürdigerweise verschwieg der Minister aber, daß die Aufständischen, ge führt von meuternden Offizieren, die Stadt Prischtina eingenommen und daß die türkischen Truppen dieser Stadt keinerlei Widerstand ge leistet haben. Wenn man privaten Mitteilungen glauben darf, so zählen die Aufständischen und Meuterer, die entschlossen sind, eine Verfassungsänderung durchzuführen und Neu wahlen zu erzwingen, zusammen über 50 000 Mann. Will der Kriegsminister diese alle bestrafen? Will er sie hindern, in Konstan tinopel einzuziehen? Die nationalfremde Alba- nefen-Politik der türkischen Regierung und be ¬ sonders des jungtürkischen Komitees, hat diese Krise heraufbeschworen, und niemand weiß, wie dieser nach europäischen Begriffen schier unfaß bare Aufruhr, der den Charakter einer Revolution trägt, enden wird. ^pstwann. Politische kunäscbau. Deutschland. *Zur Durchführung der Reichs versicherungsordnung hat der preu ßische Handelsminister den Oberversicherungs ämtern eine neue Verfügung zugehen lassen. Es wird darin betont, daß, nachdem durch die kaiserliche Verordnung von Anfang Juli die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung über die Ausgestaltung, Errichtung, Vereinigung, Auflösung, Schließung und Ausscheidung der Krankenkassen und das Verfahren dabei, für die bestehenden Krankenkaffen sofort in Kraft gesetzt sind, die entsprechenden Vorschriften des Kranken versicherungsgesetzes außer Kraft getreten sind. Es sind also nunmehr auch bei Vornahme von Organisationen der bestehenden Krankenkassen sowie bei Errichtung von Krankenkassen aus schließlich die Vorschriften der Reichsver sicherungsordnung zur Anwendung zu bringen. Dementsprechend sind die Landkrankenkassen und allgemeinen Ortskrankenkassen so zu errichten, daß sie am 1. Januar 1914 ins Leben treten. Ein früherer Zeit punkt darf nicht gewählt werden, weil die materiell-rechtlichen Vorschriften der Reichßver- sicherungs-Ordnung über die Krankenversicherung insbesondere auch über die Erweiterung der Ver sicherungspflicht erst zu diesem Zeitpunkt in Kraft treten. Andre Ortskrankenkassen als all gemeine Ortskrankenkassen können nicht mehr errichtet werden. Die bestehenden Orts-, Be triebs- und Jnnungskrankenkassen müssen bis zum 31. Dezember 1912 den Antrag auf Zu lassung stellen. Die Zulassung ist mit der Wir kung vom 1. Jannar 1914 ab auszusprechen. Bis zu diesem Zeitpunkte bleiben die bisherigen Satzungen voll iu Geltung. Neue Betriebs- und Jnnungskrankenkassen können auch zu einem früheren Zeitpunkt als zum 1. Januar 1914 errichtet werden. Die Gemeinde-Krankenver sicherungen müssen zum 31. Dezember 1913 geschlossen werden. Bis dahin bleiben die Be stimmungen des Krankenversicherungsgesetzes in Kraft. * Dem Reichstag wird in seiner nächsten Tagung ein Gesetzentwurf zur Regelung des Gerichtsverfahrens gegen Jugend liche zugehen. In ihm wird auch die Frage der Öffentlichkeit der Verhandlungen vor den Jugendgerichtshöfen eine den besonderen An forderungen entsprechende Regelung erfahren. Eine solche Öffentlichkeit wirkt schädlich auf den Angeklagten, weil sie das Ehrgefühl durch die öffentliche Verhandlung abstumpft; vor allem aber können Jugendliche auch durch die Öffentlichkeit eines Verfahrens in ihrem späteren Fortkommen in einer Weise geschädigt werden, die mit der Be deutung der Straftat in keinem Verhältnis steht. Aus diesen Erwägungen und Erfahrungen wird dem Gericht allgemein die Befugnis ge geben werden, in Verfahren gegen einen Jugend lichen die Öffentlichkeit ganz oder teilweise aus- zuschließen. Die Befugnis dürfte sich auch auf die Verkündigung des Urteils erstrecken, wofür jedoch ein besonderer Beschluß erforderlich sein soll. *Jn der Kommission des bayrischen Reichsrats erklärte der Minister des Innen:, Freiherr v. Soden, daß mit der grundsätzlichen Nichtbestätigung sozialdemokra tischer Bürgermeister die bayrische Regierung in völliger Übereinstimmung mit der preußischen Regierung stehe. G Der russische Oberleutnant Nikolski, der in Gemeinschaft mit dem Hauptmann Kostewitsch der Spionage beschuldigt wird, ist gleich diesem nach Leipzig überführt worden. Das Gerücht von einer bevorstehenden Entlassung Kostewitsch' bestätigt sich nicht. Frankreich. * Marineminister Delcassöhat angeordnet, daß die Schießübungen, die das fran zösische Mittelmeergeschwader am f Schluß der Manöver vom 30. Juli bis s 3. August vornehmen sollte, unterbleiben Men. Wie verlautet, ist der Grund dieser über raschenden Verfügung darin zu suchen, das in folge der Gutachten über die Pulver-Explosion auf dem Panzerkreuzer „Jules Michelet" Be denken bezüglich der Pulvervorräte der Kriegs schiffe aufgetaucht seien. Das wirft auf die „Schlagbereitschaft" der französischen Flotte, die Herr Delcassö wiederholt so sehr gerühmt hat, ein eigenartiges Licht. Holland. O Auf der Höhe von Imuiden fuhr während der Nacht eine englische Flotte von 96 Kriegsschiffen durch die dort verankerte Herings-Flottille und zerstörte sämtliche Netze. — Von englischer Seite wird behauptet, daß englische Schiffe nicht in Frage kommen können, da die Schiffe ihre Heimatshäfen nicht verlassen hätten. Da aber die Mehrzahl der deutschen Kriegsschiffe gegenwärtig in der Ostsee übt, können sie unmöglich in der Nordsee ge wesen sein. Holland wird ' sich also wohl an England halten müssen. Schweden. * Die russisch-schwedischen Be ziehungen haben durch die stattgehabte Zusammenkunft der Herrscher eine erfreuliche Befestigung erfahren, und die von beiden Seiten gewünschte freundschaftliche Annäherung der Nachbarmächte scheint nunmehr zur Tatsache geworden zu sein. In Schweden, wo man seit der Broschüre des Forschungsreisenden Sven Hedin über die angeblichen Absichten Rußlands (an der schwedischen Nordküste Land zur Anlage eines Hafens zu erwerben) beunruhigt war, haben die loyalen Erklärungen, die jetzt in den Schären von den russischen Staatsmännern in bezug auf die friedlichen Absichten der russischen Regierung und ebenso über die Bedeutung der russischen Flottenpläne abgegeben worden sind, durchaus befriedigend gewirkt, so daß ange nommen werden kann, daß das gutnachbarliche Verhältnis der beiden Mächte gefestigt worden ist. Afrika. * In dem Gebiete des marokkanischen Hafens Agadir, der im vorigen Jahre im Interesse der dort lebenden Deutschen von einem deutschen Kriegsschiff besetzt wurde, ist es zu Kämpfen zwischen französischen Truppen und Eingeborenen gekommen. Nach ziemlich schweren Verlusten auf beiden Seiten blieben die Franzosen Herren der Lage. — Daß übrigens die Beruhigung des Landes noch immer Schwierigkeiten macht, zeigt der Entschluß der französischen Regierung, neue Verstärkungen ins Scherifenreich zu entsenden. Vie deutsch-englischen Beziehungen. Der englische Premierminister Asquith hielt bei der Beratung des Etats des Reichsverteidi gungsausschusses eine Rede, in der er u. a. auch die internationale Lage und die deutsch englischen Beziehungen berührte. Dabei sagte er etwa: „Unsre internationalen Beziehungen werden jetzt ebenso wie für den größten Teil der letzten zehn Jahre nach vollkommen abge- grenzten und bestimmten Richtlinien geleitet. Sie sind während dieser ganzen Zeit weder nach rechts noch nach links abgewichen. Welches sind nun diese Richtlinien? Wir pflegen mit wachsender Herzlichkeit unsre besonderen internationalen Freundschaften. Sie haben die Prüfung der Zeit, und zwar sowohl die Prüfung schlechten als «tch guten Wetters bestanden, und ich stehe nicht an,, zu behaupten, daß viele Fragen, die, wenn sie vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgetaucht wären, die Ursache von Reibungen, möglicherweise von Mißstimmungen und noch schlimmeren Dingen abgegeben hätten, glatt einer gegenseitigen güt lichen Verständigung gewichen und ohne Trübung auf der einen oder andern Seite beigelegt worden sind. Aber denken Sie an das, was mitunter von denen vergessen wird, die unsre auswärtige Politik kritisieren. Diejenigen Mächte, die mit uns in besonderen Freund schaftsbeziehungen gestanden haben und glück licherweise noch stehen, sind die Mächte, mit denen wir in verschiedenen Teilen der Welt in enge Berührung gebracht sind mit unendlichen Möglichkeiten, wie die Vergangenheit gezeigt hat, nicht nur von Reibung, sondem auch von Gereiztheit und Feindseligkeit, wenn unsre Beziehungen eben nicht die wären, die sie sind. Zwischen uns und jenen Großmächten, mit denen wir ständig in enge Beziehungen gebracht werden, ist die Ge schichte der letzten acht Jahre, wie ich mit Be friedigung feststelle, eine Geschichte des wechsel seitigen Verstehens, des Freiseins von Reibungen und der wachsenden Herzlichkeit und Loyalität. Wenn ich sage, die Mächte, die glücklicherweise mit uns in diesen intimen Beziehungen stehen, so erkläre ich zugleich, wie ich schon mehr als einmal getan habe, daß unsre Freundschaft mit ihnen durchaus keine ausschliestliche Freundschaft ist. Ich sage es mit Überlegung, daß wir keinen Anlaß haben und, soviel wie ich weiß, keine Gelegenheit für einen Zwist mit irgend einem Lande in irgendeinem Teile der Welt. Wir blicken ohne den geringsten Argwohn und ohne Unzufriedenheit, im Gegenteil, mit Gleich mut und mehr als Gleichmut auf solche be sonderen Unterredungen und Meinungsaustausche, wie sie z. B. zwischen Rußland und Deutschland stattgefunden haben. Unsre Beziehungen zu dem grasten Deutschen Reich sind in diesem Augenblick, wie ich mich freue, sagen zu können, Beziehungen vollkommener Freundschaft und vollkommenen guten Willens, und ich bin gewiß, daß sie wahrscheinlich so bleiben werden. Lord Haldane (der frühere Kriegsminister und jetzige Lordkanzler) machte im Anfang des Jahres in Berlin einen Besuch. Er trat in Unterredungen und Meinungsaus tausche ein, die seither auf beiden Seilen im Geiste vollkommener Offenheit und Freundschaft fortgesetzt worden sind, und ich freue mich, sagen zu können, daß wir den Vorteil der Teil nahme des ganz ausgezeichneten Diplomaten haben, den Kaiser Wilhelm in dies Land ge sandt hat. Ich sage, unsre Freundschaften sind in keinem Sinne ausschließliche Freundschaften, und das aus sehr guten Gründen. Das größte Interesse Englands ist der Friede der Welt. Wenn unglücklicherweise hier, wie überall sonst, die Ausgaben für Rüstungen in beklagens werter Weise wachsen, so gibt es keine Macht in der Welt, die nicht ganz genau weiß, daß, soweit wir in Betracht kommen und soweit wir gezwungen werden, an diesen Ausgaben teil zunehmen, wir keine Angriffszwecke verfolgen. Wir begehren keinen Gebietszuwachs. Wir haben weder den Wunsch noch fühlen wir uns versucht, das Gebiet unsrer Verantwortlichkeiten irgendwie zu erweitern. Diese Verantwortlich keiten erstrecken sich über die ganze Welt. Wenn wir gezwungen sind, die Fonds, die wir jetzt zur Erhaltung, insbesondre unsres Übergewichts zur See verwenden, andren ergiebigen, vorteil hafteren Zwecken zu entziehen, so wird diese Ausgabe von uns einfach als eine notwendige Versicherung der ungeheuren inneren und äußeren Interessen angesehen, deren getreue, wachsame Hüter Regierung und Parlament sind und sein müssen." — Der Eindruck dieser Rede war ein ganz gewaltiger. Es war bekannt ge worden, daß Asquith am Tage zuvor zugleich mit dem deutschen Botschafter Frhrn. v. Marschall und dem englischen Botschafter in Berlin eine Audienz bei dem Könige gehabt hat, und die Parlamentarier nehmen wohl mit Recht an, daß Asquiths versöhnliche Rede eine direkte Folge dieser Audienz ist. Der durch Churchills Flottenforderung hervor- gerufene Rüstungstaumel ist ein wenig gedämpft, die Besorgnis vor nahen Verwicklungen ist ge mildert. Man wird trotzdem in Deutschland gut tun, Asquiths Worte als das einzuschätzen, was sie wirklich sind: der Ausdruck des Wunsches, das eigene Land und die Welt hin sichtlich der neuen Flottenforderung zu beruhigen. O Vurck eigene 1j Novelle von Hans Lingg.*) 1. Iw Gasthose „Zum Pelikan" herrschte ängst liche Ruhe. Der Kellner ging auf den Zehen über den Korridor, die Mädchen sprachen mit gedämpfter Stimme. Das fröhliche Leben in der Küche war verstummt, nur ein dumpfes, verhaltenes Geräusch schallte an die Ohren der Gäste, die ebenfalls ihre sonst so laute Ge schäftigkeit zu mäßigen bestrebt waren. Ja selbst die Knechte auf dem Hofe verrichteten ihre Arbeit ohne das gewohnte Rusen und Schelten und wenn sie die Pferde schirrten und zum Tore hinausfuhren, suchten sie ängstlich jedes Geräusch zu vermeiden. Keiner hatte es ihnen verboten; sie wußten, daß es so sein mußte. Der Pelikanwirt, Karl Wilde, war todkrank. Als die Wirtin am frühen Morgen den Arzt fragte: „Wie steht's?" da zuckte dieser die Achseln und sagte: „Ich habe keine Hoffnung. Wenn der Kranke noch etwas zu bestellen hat, so möchte ich zur Eile raten. Aller mensch lichen Voraussicht nach erlebt er den Abend nicht mehr." Tas wußten die Knechte und Mägde. Dann und wann warfen sie wohl einen scheuen, fragen den Blick vom Hofe aus hinauf nach dem dicht verhängten Fenster, hinter dem ihr Brotherr mit dem Tode rang. Sonst mochten sie ihn stets beneidet haben wegen seines Reichtums; heute freuten sie sich doppelt der Hellen Sommer *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. sonne, die wärmend und reisend auf die frucht beladenen Bäumen des Gartens herabschien. Davon sah der dort oben nichts mehr. Er war ein armer, bedauernswerter Mann, der reiche Pelikanwirt. Auch unter den Einwohnern der Stadt er regte der Zustand des Kranten allseitige Teil nahme. Wo zwei oder drei Personen beisam men waren, erzählte man sich von den Kindern beider Ehen Karl Wildes und wie es wohl nach dem Tode des Pelikanwirtes mit dessem weit ausgedehnten Besitze kommen werde. Man fing sogar an, den Gasthof und die Ländereien zu verteilen, wobei man nicht vergaß, der Witwe einen anständigen Altenteil zukommen zu lassen, obgleich sie es um die beiden Kinder aus Wildes erster Ehe nicht verdient habe. Doch, meinte man, werde sie ihrem Zahlaus nicht ent gehen ; es müßte sonst keinen Gott im Himmel geben. Wohl sei der Pelikanwirt ein allzu gut mütiger, schwacher Mann gewesen, was niemand, selbst sein bester Freund nicht, leugnen könne; aber sündhaft sei es und unmenschlich, die Schwäche des Mannes zum Nachteil seiner Kinder aus erster Ehe so auszubeuten, wie es die zweite Frau getan habe. Während so die teilnehmenden Mitbürger das Testament des Kranken machten und über ihn und seiner Frau zu Gericht saßen, schlich Karl, der älteste Sohn des Pelikanwirtes, schweren Herzens zum Krankenzimmer hinauf. Er war ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann von zwanzig Jahren. Dunkles, lockiges Haar fiel auf seine Stirn hernieder, sein Gesicht hatte regelmäßige, einnehmende Züge, aus denen Offenheit und Gutmütigkeit sprachen, aber um den Mund ging ein Zug von Entschlossenheit und Leidenschaftlichkeit, den er nicht von dem ruheliebenden und willenlosen Vater geerbt haben konnte. Der junge Mann schien noch auf der Treppe zu überlegen, ob er weitergehen oder umkehren solle. Aber plötzlich entschlossen, ging er hinauf, schlich auf den Zehen zur Türe des Kranken zimmers und klopfte leise an. Die Tür wurde ein wenig geöffnet, und durch die Spalte sah das Gesicht einer älteren Frau. Es lag etwas Raubvogelartiges in den Zügen des Weibes, was dem Gesicht einen un sympathischen, abstoßenden Charakter gab. „Was willst du?" fragte sie laut und ärgerlich, als ob sie allein nicht nötig hatte, auf den Zustand des Kranken Rücksicht zu nehmen. „Laß mich ein!" bat der junge Mann. „Du weißt, daß es der Arzt verboten hat, den Vater zu stören." „Es ist keine Störung, wenn der Sohn nach dem Vater verlangt. Ich bitte dich, um Gottes willen, Mutter, laß' mich nur auf einige Augen blicke zu ihm I Seit drei Tagen habe ich ihn nicht sehen dürfen!" Aus dem Zimmer drang ein langer, schmerz voller Seufzer. Karl drängte die Tür ein wenig zurück. „Du läßt ihn sterben, ohne daß ich von ihm Abschied genommen habe!" rief er schmerzlich. „Sterben?" antwortete seine Stiefmutter höhnend; „seht den Sohn! Er kann den Tod des Vaters nicht erwarten!" Eine zornige Röte stieg in das Gesicht des> jungen Mannes und, seine Rechte drohend er hebend, rief er: „Mutter l Wie willst du das vor Gott und den Menschen verantworten! Ist es nicht genug —" Ein heftiger Stoß in die Seite schleuderte ihn weg von der Tür, die sofort -»geschlagen und von innen verriegelt wurde. Karl stand einen Augenblick lautlos, als ob er das Ungeheure nicht zu fassen vermochte. Dann drang ein Strom von Tränen aus seinen Augen und langsam stieg er die Treppe wieder hinunter. Im Hausflur begegnete ihm sein Stiefbruder Paul, ein fünfzehnjähriger Knabe, der atemlos zur Haustür hereineilte. „Sie werden gleich kommen!" rief er Karl zu. „Wer?" fragte dieser. „Der Notar und sein Schreiber. Vater will sein Testament machen." Damit eilte Paul die Treppe hinauf. Das Testament! Ein jäher Schreck durch rieselte Karl; er erblaßte und lehnte sich einen Augenblick an das Treppengeländer. Sorge, innige kindliche Sorge um des - Vaters Leben war es bis jetzt gewesen, was sein ganzes Sinnen erfüllte. Nun auf einmal stieg noch eine andre Sorge schwarz und drohend in feiner Seele auf. Er eilte in die Küche, wo Elise, seine Schwester, beschäftigt war. „Einen Augenblick!" bat er, und da sie sich nicht genug zu beeilen schien, faßte er sie am f
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