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Allgemeiner Anzeiger : 25.12.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-12-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190612256
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19061225
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19061225
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-12
- Tag 1906-12-25
-
Monat
1906-12
-
Jahr
1906
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 25.12.1906
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politische Aunälckau. Deutschland. * Zum silbernen Bis chofsjubiIäumdes Kardinals Kopp haben nahezu daS ge samte preußische Episkopat sowie der Olmützer und Prager Bischof am 8. Januar ihren Besuch in Breslau angemeldet. t. Zur bevorstehenden Reichstagswahl haben die Landräte auf besondere Anordnung der Regierung dafür Sorge zu tragen, daß die Bekanntmachungen über die Bestimmungen für den Wahlakt rechtzeitig, wiederholt und ge nügend zu erfolgen haben. Namentlich soll darauf hingewirkt werden, daß zur Vermeidung von Ungültigkeitserklärungen der Wahlhand lungen seitens der Gemeindevorstände wegen der Bekanntmachungen, Abgabe der Bescheini gungen, Auslage der Wählerlisten usw. auf das sorgfältigste die bestehenden Bestimmungen zu beachten sind. * Nach dem Vorgänge der preußischen Regierung macht setzt auch der Senat von Lübeck bekannt, daß die Einfuhr von frischem Fleisch aus Dänemark, Schweden und Norwegen vom 20. Dezember d. ab ge stattet ist und alle gegenteiligen Verordnungen aufgehoben werden. * Aus Anlaß der kürzlich auf einen flüchtigen Deserteur auf offener Straße von dem ihn verfolgenden Unteroffizier abgegebenen scharfen Schüsse hat derHamburgerS en at an das preußische Kriegsministerium das Ersuchen gerichtet, Anordnungen über den Ge brauch von Schußwaffen zu treffen, die eine Gefährdung des Publikums ausschließen. * Die bayrische Regierung hat an geordnet, daß bei Prüfungen in Fort bildungsschulen künftig Geistliche zu gezogen werden. * Bei denNachwahlen zum württenr- bergischen Landtage trugen Volks- partei und Sozialdemokratie den Hauptsrfolg davon. Das Gesamtergebnis der Bezirkswahleu sür den Landtag ist nun: Zentrum 21, Bolkspartei 20, Landwirte bund 12, Nationalliberale 11, Sozialdemokraten 11 Mandate. * Der Postdampser „Ernst Wörmann" ist mit 160 aus Deutsch-Südwestafrika heim kehrenden Unteroffizieren und Mannschaften an Bord in Kuxhaven eingetroffen. *Die Bremer Bürgerschaft be willigte für den geplanten Industrie- und Han delshafen bei Oslebshausen 12 006 500 Mk. Osterreich-Ungarn. * Noch einmal hat angeblich der Kaiser Franz Joseph sich an die Herrenhaus mitglieder gewandt, um ihnen in letzter Stunde noch einmal die Notwendigkeit und Dringlichkeit derWahlreformvorlage vor Augen zu führen. Wie nun aus Wien gemeldet wird, ist die Stimmung des Herrenhauses umgeschlagen und die Annahme der Wahlreform bei ihrer dritten Lesung im Herrenhause nunmehr sicher. Frankreich. *Nach der vom Kriegsgericht in Lille gegen den Hauptmann Magnier wegen Verweigerung der Teilnahme an der Kirchen inventur durchgeführten Verhandlung kam es im Gerichtssaate zu lärmenden Kund gebungen. Ein Teil des Publikums brach in Hochrufe auf Magnier aus; ein andrer Teil in Hochrufe auf den Kriegsminisier Picguart und auf Dreyfus. Auf der Straße kam es zum Handgemenge, bei dem mehrere Personen verwundet und einige verhaftet wurden. *Äus Nancy wird berichtet, der Pfarrer von Mont-le-ueuf-Chüteau jm Departement Boeges habe das Dorf verlassen, da die Be wohner ihm nur unzureichende Bezüge gewähren konnten, und in dem Dorfe Lissol eine Stellung als Drechsler angenommen. Er verständigte gleichzeitig seine Pjarrkinder, daß er jedesmal, falls sie seiner bedürften, sich nach Mont-te-neuf-Ehüteau begeben werde. * Die K u ltu s ko mm i s s io n nahm mit 16 gegen 1 Stimme» die Regierungsvorlage über die Ausübung des katholischen Kultus an. Der Bericht der Kommission soll baldmöglichst der Kammer vorgelegt werden. England. * In Weitersührung der Reform Pläne für die Armee hat der Kriegsminister Haldane jetzt Vorschläge ausgearbeitet zur Schaffung einer „Nationalarmee", welche die Stelle der gesamten bisherigen Hilfsstreitkräfte einnehmen soll. Dis in diese neue Truppe ein tretenden Leute dienen sechs Jahre als Frei willige und können sich während dieser Frist für einen zwei Jahre nicht übersteigendem Zeit raum zum aktiven Dienst in die reguläre Armee einstellen lassen. An allen militärischen Haupt plätzen sollen besondere Unterrichtsanstalten er richtet werden, in denen die Offiziere der neuen Truppe ihre technische Ausbildung erlangen können. * Die neue Schulvorlage ist vorläufig als g es ch eitert zu betrachten, da dasObe r- haus alle vom Unterhaus verworfenen Abänderungsanträge aufrecht erhält. Zugleich erhob das Oberhaus Einspruch gegen die Art, wie das Unterhaus mit den Vorschlägen des Oberhauses verfahren ist. InRegierun g s- kreisen macht man sich auf einen langwierigen Verfassungskonflikt gefaßt. * Der Zivillord der Admiralität er klärte im Unterhaus, daß an der O st - küste ein starker Flottenstützpunkt ge schaffen werden solle; Pläne für den Flottenstütz punkt Rosyth würden vorbereitet. * Die Negierung hat es abgelehnt, ohne Zustimmung der Mächte eine Konferenz zur Regelung der Kongofrage einzu berufen. Schweiz. * Der Ständerat hat den Gesetzentwurf betr. den Schutz von Erfindungen, der sich speziell auf den S chutz von Patenten auf dem Gebiete der chemischen Industrie erstreckt, einstimmig angenommen. Italien. * Der Papst hat nunmehr den Mächten eine Note überreichen lassen, in der er gegen das Verfahren im Falle Montagnini so wohl hinsichtlich der Ausweisung als auch wegen der Beschlagnahme der Papiere Einspruch erhebt. Holland. *Jn der Zweiten Kammer kam es bei der Debatte über den Militäretat zu heftigen Auftritten. Spanien. * König Alfons hat die von Senat und Kammer gebilligte Algeciras-Akte nunmehr unterzeichnet. Rußland. * Die Polizei ist unermüdlich auf der Suche nach staatsgefährlichen Elementen. So gelang es ihr in Petersburg eine geheime Militärorganisation zu entdecken, deren Mitglieder über das ganze Reich verbreitet sein sollen. In Petersburg allein wurden sofort über 100 Verhaftungen vorgenommen. *Die revolutionäre Partei sorgt trotz der langsamen Beruhigung des Landes dafür, daß sie nicht vergessen wird. Als der Ober- polizeimeister Oberst Chrzanowski in Lodz sich in einer Kutsche zum Gottesdienst be geben wollte, wurden zwei Bomben gegen seinen Wagen geschleudert. Die Kutsche wurde zerstört und der Oberst schwer am Bein verwundet. Von der Dragoner-Schuhwache wurde einer ge tötet, zwei verletzt; die Pferde verendeten. Auch der Kutscher und ein Polizeiagent wurden ver letzt. Die zweite Bombs explodierte nicht. Die Attentäter entkamen schießend. Afrika. * Aus Tanger wird gemeldet, das diplo matische Korps habe in einer Note an den Sultan diesen aufgesordert, Raisuli seines Postens als Gouverneur von Tanger und Um gebung zu entsetzen. Wie verlautet, hat darauf hin bereits derKriegsminister, der gegen Raisuli mit einer bedeutenden Truppenmacht herangezogen ist, Unterhandlungen angelnüpst, die die friedliche Entfernung des Rebellen zum Ziel haben. Asien. * Nach amtlicher Bekanntmachung der chinesischen Regierung werden die Orte Tschangtschun, Kirin, Charbin und Mandschuria in der Mandschurei als internatio nale Wohn- und Handelsplätze ge öffnet. *Der Auf st and in der chinesischen Pro vinz Kianasi ist unterdrückt. Vas neue XultusgeletL. Über daS Nachtragsgesetz, das Kultusminister Briand der französischen Kammer vorlegte, wird der ,Frkf. Ztg/ aus Paris geschrieben: Das neue Gesetz, das über die augenblick liche kirchenpolitische Schwierigkeit hinaushelfen soll, besteht im wesentlichen aus zwei Teilen. Im ersten Teil bemüht sich Briand für seine bereits durch seine Anweisung an die Präfekten versuchte Anpassung des öffentlichen Gottes dienstes an das allgemeine Versammlungsrecht eine gesetzmäßige Fassung zu finden; er geht dabei so weit, die sreie Versammlung von Gläubigen als Verein anzusehen, damit die Anzeigegflicht für dis einzelnen Versammlungen überflüssig werde. Auf diese Weise genügt es, daß der Geistliche einfach sein Amt weiterführt, um zu verhüten, daß die Kirche vor Ablauf eines Jahres ohne Zustimmung des Präfekten oder Bürgermeisters dem Gottesdienst entzogen werde; bis dahin kann sich ein Kirchenverein auf Grund des Vereinsgesetzes von 1901 bilden und die dauernde Überweisung der Kirche er langen. Das Trennungsgesetz von 1905 hatte in seinem Artikel 9 vorausgesehen, daß es in vereinzelten kleinen Gemeinden aus Mangel an gläubigen Personen nicht zur Bildung eines Kultusvereins kommen könne; in solchen Fällen sollten die Kirchengüter durch Dekret den lokalen Anstalten des öffentlichen Wohltätigkeits- und Unterstützungswesens zugewiesen werden. Nach dem der Papst die Bildung von Kultusvereinen verboten hatte, ist der im Artikel 9 behandelte Fall die allgemeine Regel geworden; Briand wollte jedoch im Interesse der katholischen Kirche selbst seine Tragweite einschränken, er veranlaßte deshalb den Staatsrat zum Erlaß eines be sonderen Dekrets, durch das die Kirchengüter wenigstens noch bis zum 11. Dezember 1907 vor der endgültigen Enteignung geschützt wurden. Der neu eingebrachte Gesetzentwurf hebt dieses Dekret des Staatsrats auf und gibt dem Artikel 9 des Trennungsgesetzes seine volle Wirkung wieder. Die Folge aller dieser neuen Bestimmungen wird also sein, daß die katho lische Kirche das Verfügungsrecht über alle be weglichen und unbeweglichen Güter verliert, deren Nutznießung ihr bisher gesichert war; nur die Kirchen selbst bleiben den Gläubigen zu gottesdienstlichen Versammlungen geöffnet. Was die Geistlichen selbst anlangt, so berührt der neue Gesetzentwurf in keiner Weise die den alten Geistlichen zugesprochenen Lebenpensionen; dagegen beseitigt er die Verpflichtung des Staates, den jüngeren Geistlichen, die in kleinen Ge meinden ihre Amtstätigkeit fortsetzen, noch acht Jahre. lang Zuschüsse zu zahlen. Diese Maß regel ergibt sich aus dem Trennungsgesetz von selbst, weil die Kultusvereine, deren Zeugnis sür die Fortsetzung des Gottesdienstes erforder lich war, nicht ins Leben getreten sind. Die ganze Vorlage der Negierung ist an eine der ständigen großen Kammerkommissionen, die Kommission für Verwaltungs- und Kultus angelegenheiten überwiesen worden. Mck ^ern. Mit der Wiederherstellung des Aachener Münsters, mit der sich im Juni d. eine in Aachen tagende Ministerialkonferenz befaßte, wird demnächst begonnen. Die Kosten sind auf rund 772 000 Alt. veranschlagt worden, von denen 500 000 Mk. durch eine Lotterie aufgebracht werden sollen. Die Wiederherstellung des karo lingischen Mauerwerks ist in Angriff genommen. Zum Untergang des Dampfers „Prin zessin Viktoria Luise" teilt tue Direktion der Hamburg-Am' -a-Linie mit, daß sie ihren Kapi tänen wiederholt zur Pflicht gemacht habe, den Hafen von Kingston (Jamaika) wegen des ge fährlichen dortigen Fahrwassers niemals zur Nachtzeit und nie ohne Lotsen anzulanfen. Kapitän Brunswig hat sich leider im Vertrauen auf seine große nautische Befähigung verleiten lassen, dieser Order zuwiderzuhandeln und den Hafen von Kingston nicht nur nachts, sondern auch ohne Lotsen anzulaufen versucht. Hätte er Lach der Anweisung seiner Direktion gehandelt, so hätte der Dampfer „Prinzessin Viktoria Linse" nicht ein so plötzliches und trauriges Ende ge funden. Das Urteil in dem großen Waffeu- diebstahls-Prozeß ist in Posen nach nahezu 14tägiger Verhandlung gesprochen worden. Es wurde erkannt: gegen Behrend - Posen auf ein Jahr 6 Monat Zuchthaus und 5 Jahr Ehr verlust, gegen Loll-Grünberg (den Hauvt- angeklagten) auf Freisprechung, gegen Nadersohn- Graudenz auf 1 Jahr 6 Monat Zuchthaus und 5 Jahr Ehrverlust, gegen Besbroda-Thorn auf 3 Monat Gefängnis wegen Unterschlagung, gegen Jäger-Metz auf 1 Jahr 6 Monat Zucbr- haus und 5 Jahr Ehrverlust, gegen Vredecke- Hildesheim auf Freisprechung, gegen Douaih- Spandau auf 1 Jahr 9 Monat Gefängnis wegen Begünstigung, gegen Güntzel-Spandau und Neupert-Spandau auf Freisprechung. Auch Großer-Spandau wurde sreigesprochen wegen Unzurechnungsfähigkeit. Den Verurteilten Behrend, Jäger und Nadersohn wurden vier Monat auf die Untersuchungshaft angerechnet, dem Donath wurden neun Monat ungerechnet, dem Besbroda drei Monat. Besbroda und Donath wurden aus der Hast entlassen. Das Gericht beschloß noch, dem Neupert für die un schuldig erlittene Untersuchungshaft eine Ent schädigung zu gewähren. Das Ergebnis des diesjährigen Heriugsfanges der deutschen Heringsfischerei gesellschaften liegt nunmehr in der Hauptsache vor und wird auf rund 10 Millionen Mark be rechnet. Einige wenige Logger sind noch nicht von der vierten bezw. fünften Fangreise zurück gekehrt. Im allgemeinen konnten die Herings logger in diesem Jahr nur vier Fangreisen machen, statt fünf in den meisten andern Jahren, da die erste Fangfahrt wegen des anfänglich spärlichen Eintreffens der ersten Heringsschwärme einen außergewöhnlich langen Zeitraum in An spruch nahm. Der Gesamtverbrauch des Deutschen Reichs an Heringen betrug im letz'en Jahre rund 45 Millionen Mark, so daß mithin diesmal noch wieder für 35 Millionen Mark Heringe aus England, Holland und Dänemark eingeführt werden müssen. Diese Summe wird sich aber von Jahr zu Jahr verringern, da die bestehenden Heringsfischereigesellschasten ihre Flotten ständig vergrößern und neue Herings- fischsreigesellschasten entstehen. Wie sehr aus baubedürftig die deutsche Heringsflotte noch ist, ergibt sich am augenfälligsten daraus, daß das kleine Holland in diesem Jahre 858 Herings fangschiffe schwimmen hatte. Ein aufregender Vorfall spielte sich in einem Bureau des Bürgermeisterei-Amts zu Duisdorf bei Bonn ab. Dort überfiel der Sekretär Brasch in einem plötzlichen Tobsuchts anfall seinen Kollegen, den Bureaugehitien Rheindorf, mit einem Beil und versetzte ihm mehrere wuchtige Hiebe über den Kopf. Um weiteren Mißhandlungen aus den: Wege zu gehen, sprang der überfallene zum Fenster hinaus und blieb bewußtlos auf der Straße liegen. Die ihm beigebrachten Verletzungen sind sehr schwer, doch hoffen die Arzte, ihn am Leben erhalten zu können. Der tobsüchtige Beamte wurde schließlich überwältigt und der Provinzialheil- und Pflegeanstalt in Bonn zu geführt. Drei Arbeiter totgefahren. Der von Bitterfeld kommende Schnellzug fuhr bei Jüter bog in eine Arbeiterkolonne. Drei Mann wurden getötet, einer schwer verletzt. Auf der Bühne erschossen. In Mül heim am Rhein gab gelegentlich einer Theater aufführung im Konzerisaal ein Darsteller statt blinder Schüsse mehrere Schrotschüsse ab. Ein Mitwukender wurde derart schwer verletzt, daß er ins Hospital eingeliefert werden mußte. A Der Meg 2um Zerren. Novelle von F. Stöckert. t csunp.l „Welch ein Glück, daß ich Sie treffe!" rief Anna erstellt, „Sie müssen nun schon mit hinauf kommen in Helenes früheres Zimmer, Melitta Bendelo liegt dort sterbenskrank, und wenn ihr einer helfen kann, sind Sie es gewiß." Bergen wurde leichenblaß bei Nennung dieses Namens, stumm folgte er seiner Führerin die ihm so bekannte dunkle Treppe hinauf. „Es ist ein Jammer," erzählte diese, „heute haben sie die Frau Kommerzienrätin begraben, das arme Kind hat gar nichts davon erfahren; etwas Geld fanden wir noch in ihrer Kleider tasche, damit sind die Begräbniskosten bestritten, auch einen Kranz habe ich besorgt. Herz zerreißend ist's, wie sie da oben liegt, so toten bleich, so verlaffen, und wenn sie dann phanta siert von ihrer Mama und so flehentlich bittet, daß dieie doch nur einmal zu ihr herankommen und mit ihr sprechen möge. Und dann wieder sucht sie ihre Zöpfe, die sie, glaube ich, in ihrer Not noch am Heiligabend verkauft hat." Bergen rollte bei diesen einfachen Worten Annas langsam eine Träne nach der andern in den Bart. Er erinnerte sich der dunklen Mädchen gestalt, die er in den Friseurladen am heiligen Abend hatte verschwinden sehen, o warum war er ihr nicht gefolgt! Ein schmerzlich Stöhnen rang sich los aus seiner Brust. Jetzt öffnete Anna die Tür: welch ein erschütternder Anblick! War dieses totenbleiche Mädchenbild wirklich die einst so berückend schöne Melitta Bendelo? Wild und wirr hängen die kurzen Locken um das schmale eingefallene Gesicht. Jetzt richtet sie die großen dunklen Augen auf ihn, ein Strahl des Erkennens, ein flüchtiger Schimmer der Freude leuchtete darin auf, als ahne sie, daß jetzt ihr Geschick sich wenden müsse, daß eine treue Hand sich ihrer annehmen und sie nicht länger dem fürchterlichen Elend und dem Mitleid fremder Menschen überlassen wird. Die hohe Männergestalt bebte vor tiefer, schmerzlicher Bewegung, es war ihm, als müsse er zusammensinken vor Weh über diesen Anblick. — Wo war nun all sein Stolz, sein fester Wille, sein Mannesmut, mit dem er sich los- gerifssn ffon ihr, als der ganze Zauber ihrer strahlenden Schönheit sie noch umgab. In diesem Moment schmolz alles dahin in heißer Liebe und Erbarmen mit ihr, die so elend, so ver lassen, nur noch ein Schatten von dem, was sie einst gewesen, hier auf diesem Lager lag. „Sie sind es, Doktor Bergen?" flüsterte Melitta und streckte ihm die kleine, abgemagerte Hand entgegen. Und als müsse sie sich ent schuldigen über all das namenlose Elend, spricht sie leiie weiter: „Es wäre gewiß nicht so weit gekommen, nein ganz gewiß nicht, wenn Mama nicht krank geworden wäre — und nun ist sie gestorben, sie haben sie heute begraben, die kleine Marie von drüben hat es mir erzählt. Glauben Sie mir, ich habe tapfer gekämpft, ich wollte nicht erliegen, nicht verzweifeln, aber," — sie blickte wie mitleidig auf die kleinen, zarten Hände, „meine Kraft reichte nicht aus. Als ich am Heiligabend das Bäumchen angezündet, und meiner lieben, armen Mama eine kleine Freude machen wollte, ich hatte ja darum mein Haar verkauft, und sie lag dort so starr, so leblos, da brach ich zusammen." — Ein Tränenstrom erstickte ihre Stimme bei dieser Erinnerung, die heute zum ersten Male wieder klar vor ihre Seele trat. „Wir werden Sie zu meiner Mutter bringen," sagte Bergen, mühsam nach Fassung ringend; „und sie und meine Schwestern, wir alle wollen Sie pflegen." Melitta blickte ihn dankbar an. „O, Sie sind gut! Ich darf fort aus diesem entsetzlichen, dunklen Hause? dann werde ich auch vielleicht wieder gesund und kräftig." „Gewiß, Sie sollen wieder ganz gesund werden und wenn es dann Frühling wird, dann wollen wir Blumen auf das Grab Ihrer Mama legen." „Wir wollen Blumen auf ihr Grab legen," — sagte Melitta leise träumerisch, doch plötzlich Wurde ihr Blick wieder irre. „Mama, Mama!" rief sie in herzzerreißen den Tönen, „bleibe bei mir, laß dich nicht in das kalte, tiefe Grab legen, wo sie die arme Helene hineingetragen, die so gerne leben wollte, nur einen Tag, nur einen einzigen des vollen reichen Lebens. Sieh' ich gebe dir auch all mein Geld, und will recht fleißig arbeiten, denn ich muß mir doch meine Zöpfe wiederkaufen und die blitzenden Steine und die Perlen. Weißt du, ich trug sie damals, ich war Leonore, und er — er — o, wie hieß er doch." „Mein Freund, die goldene Zeit ist wohl vorbei," flüsterte sie jetzt leise, ihre Wangen röteten sich in Fieberglut. Bergen öffnet ein Fenster und läßt die kalte Winterluft Hineinströmen. Anna muß frischer Wasser besorgen, er legt einen kühlenden Ver band um das heiße Köpfchen. „Bist du das, Mama?" fragt Melitta, und faßt seine Hand, läßt sie aber gleich wieder fallen. „Es ist nicht Mamas Hand," sagt sie traurig, „Mamas Hand war so kühl, so weich." Endlich legt sie den heißen Kopf müde in die Kissen zurück, als wollte sie einschlummern. Bergen sitzt noch eine Weile an ihrem Lager, ihren Schlaf beobachtend. Als derselbe immer ruhiger wird, erhebt er sich und bittet Anna, bei der Kranken zu bleiben; er wolle sofort seine Anordnungen treffen, damit Melitta noch am Abend nach seiner Wohnung geschafft werden könne. Noch einmal fällt sein Blick tief bewegt auf die Schlummernde. „Armes, armes Kind," murmelt er und streicht ihr die krausen Haare aus der erhitzten Stirn. Dann geht er leisen Schrittes zur Tür hinaus und eilt nach Hause, ein Zimmer für Melitta Herrichten zu lassen. Sieben Tage sind vergangen, in welchen Melitta in den heftigsten Fieberphantasien ge legen. Bergen hat Tag und Nacht an ihrem Lager gewacht, trotz der Bitten seiner Mutter und Schwestern, ihnen die Pflege zeitweise zu überlassen und sich einige Stunden der Ruhe zu gönnen. „Ich würde doch keine Ruhe haben," hatte er traurig erwidert, „so lange das teure Leben noch in Gefahr schwebt." Sein Antlitz sieht bleich und verfallen aus, und um die schönen ernsten Augen haben sich dunkle Schatten gelegt.
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