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Das Sonntagskind. Eine Erzählung aus dein schlesischen Gebirge von Karl Pauli. Das Hochgebirge schimmerte im Glanze der untergehen den Sonne, ein feiner Schleier lag über den dunkler wer denden Tälern, während die Kuppeln der Berge in ein zartes Violett getaucht erschienen. Auf einem steilen Pfade, der vom Kamm herab sich seit wärts auf Agnethendörf hinzog, schritt ein junger Mensch eilig dahin. Der Bursche mochte einige zwanzig Jahre zählen. Er trug eine kurze Jacke von blauem Tuch, lange, schwarze Bein kleider und eine Mühe ans gepreßtem Satin, die aussah, als ob sie gesteppt sei. Der junge Mensch zählte, nach seinem An zug zu schließen, offenbar zu den Besferbegüterten der länd lichen Bevölkerung. Trotzdem fehlte das obligate Bündel aus- roter Baumwolle, ein Taschentuch, in dem irgend etwas ein geschlagen, nicht, er trug dasselbe in der Hand und schlenkerte es lustig hiu und her. Der junge Mensch schien schon einen tüchtigen Marsch hinter sich zu «haben, denn seine Kleidung war bestaubt und sein Gesicht erhitzt: dennoch merkte man sei nem Gange keine Müdigkeit an, im Gegenteil, bei jedeni Schritt vorwärts schien sich sein Gang mehr zu beflügeln: es war, als triebe ihn die Sehnsucht zu immer schnellerem Laufe. Jetzt hatte er den Gipfel eines mäßigen Hügels erreicht, rasch schwang er sich auf den großen Stein, der die Spitze desselben krönte, und ließ die blitzenden Augen über die Gegend schweifen. . Da sah er ja, was er sehen wollte, dort lag es ja, das Ziel seiner Wanderung, jenes trauliche Häuschen unter den blü henden LindenbänmeN am Bergabhange'. Eine Weile labte er seine Augen an dem lieblichen Bilde, dann sprang er herab von dem Stein, um mit neuen Kräften seine Wanderung fortzusetzen. Dabei warf er die Mütze in die Luft und pfiff,ein lustiges Lied. Er hatte Wohl Ursache, glücklich zu sein, ging doch heute sein liebster Wunsch in Er füllung — der Wunsch, der sein ganzes Leben zu einen! glück lichen gestalten sollte. Zwar, bis jetzt hatte er über anderes anch nicht zu klagen, er wußte weuig Wünsche, die ihm ver sagt geblieben wären, aber das gehörte sich auch so, dafür war er doch ein Sonntagskind. Ja, er war eben ein Sonntags kind, und denen ist das Glück ganz besonders hold, und er hatte es gespürt, das Glück hatte an seiner Wiege gestanden und war von da ab nicht von seiner Seite gewichen. Als Sohn wohlhabender, ja reicher Eltern geboren, waren Sorgen um Zukunft und Leben für ihn unbekannte Begriffe, als einziger Sohn wurde ihm selten ein Wunsch versagt, das Glück blieb ihm immer hold, ja selbst als er die Dummheit beging, sich als reicher Bauernsohn in eine arme Dienstmagd zu verlieben, verließ es ihn nicht, sondern bestimmte das Herz der Eltern, die Wahl des Sohnes zu seguen. Mehr kounte kein vernünf tiger Mensch verlangen, und Rudolf verlangte auch nicht mehr, er hätte sich gern gefügt, wenn sie ihn zum Militär genom men, er wäre gern Soldat geworden, wenn er auch seine Anna noch lieber geheiratet hätte, denn ums Dienen kam er nicht herum, das sah er ein, warum sich also lange sperren: soviel Glück, anch noch da los zn kommen, tränte er sich doch nicht zu-: aber er hatte es, er zog bei der Auslosung eine so hohe Num mer, daß gar kein Gedanke daran war, daß er genommen wer den konnte. Und richtig, er kani los; er war frei, er konnte seine Anna heiraten. „In sechs Wochen ist Hnrt (Hochzeit)!" schrie der jnnge Mann plötzlich in einem Ansbruch der Freude und schwenkte den Hut. „Hurra! Hurra! Hurra!" dann eilte er schneller vorwärts, seinem Ziele, dem Hause der Mutter seiner Brant, der er die freudige Nachricht von seiner Befreiung vom Dienst bringen wollte, zn, denn erst gestern war er zur Gestellung gewesen. Aber plötzlich blieb er mitten in seinem raschen Lauf wie angewurzelt stehen und starrte wie zn Tode erschrocken auf einen Punkt des Weges, wo sich der Pfad hinter der Felsen spitze hervor am Abgrund hinzog. Dort ging ein Paar, junge Leute, wie es schien: ein Mann in städtischer Kleidung und ein junges Bauernmädchen, in inniger Umarmung sich fest umschlungen haltend, langsam, ganz langsam den Pfad entlang. Ja, sah er denn recht? Trügten ihn seine Augen oder war das ein Trugbild der Hölle? Das war ja Anna, seine Anna, die er über alles liebte, der er seine Seligkeit anvertraut hätte, an die er geglaubt, wie an das Evangelium. Und so mußte er sie finden! Und wie schamlos mit dem Schuft da — er wußte nicht, wer er war, er hatte ihn nie gesehen: aber ein Schuft war es, das stand fest. Wie schamlos sie mit ihm unter Gottes freiem Himmel einher schritt, unter demselben Himmel, bei dem sie ihm unzählige Male ewige Liebe und Treue geschworen. Ihm schwindelte, er griff mit den Händen in die Luft, als fuche er eine Stütze, um sich zu halten. Die beiden gingen, ihm den Rücken zuwendend, langsam vor ihm her. Er ballte' die Fäuste, wie er sah, wie sie sich zärtlich an ihn schmiegte. Der Fremde hatte den Arm um Annas Nacken geschlungen und diese den ihren um seine Hüf ten gelegt. So schritten sie dahin, in stilles Glück versunken, langsam, ganz langsam. „O diese Weiber!" Der junge Bursche schüttelte die Faust nach dem verliebten Paare. Und noch dazu mit einem aus der Stadt hatte sie sich eingelassen, einem, der sie doch nie heiraten konnte! Nein, wie ein Mädchen schlecht sein konnte, so schlecht! Wenn's noch ein junger Bursche aus ihrem Stande gewesen wäre, aber so ein Kerl! Mehr noch als die gekränkte Liebe schmerzte ihn die Wahl des Mädchens.- „Das geht nicht! Das duld' ich nicht!" rief er wie in Extase, „dem Kerle werd' ich zeigen, was es heißt, anderen die Braut wegnehmen und unfere Mädel hier zu Schlechtig keiten anhalten!" Er fetzte sich in Trab und rannte, was er konnte, hinter dem Paare her, die etwa einen Vorsprung von einer Viertel wegstunde haben mochten. Da sie sehr langsam gingen, holte er sie schnell ein. Als er aber schon ganz nahe war, änderte er plötzlich seine Absicht, sie cinzuholen, sondern lief um einen Hügel, der sich ans dem Kamm erhob, herum, um ihnen den Weg abzuschneiden. Seine Kriegslist gelang vortrefflich: gerade als er um das Felsenstück herumbog, das deu Hügel nach der anderen Seite abschloß, trat ihm das Paar entgegen. Wütend stürzte er auf Anna los. Daß sie sich noch, immer fest umschlungen hielten und sich auch nicht losließen, als er vor ihnen stand, machte ihn fast rasend. „Läßt den Lump los! Läßt deu Lump los!" schrie er und riß sie herum, daß sie fast den Atem verlor. Dann fuhr er auf den jungen Menschen los, ohne zu bemerken, wie der selbe schwankte, als er sich plötzlich ohne Stütze sah, noch daß er den Arm in einer Schlinge trug, und Blutspuren auf sei nem Gesicht zu seheu waren. „Und Du!? Tu!? Dir werd' ich's lehren, anderen die Mädel wegnehmen! Du, Du miserabligter Stadtmensch Du! Wart' ock! Wart' ock! Du sollst's erleben!" Er hatte ihn schon bei den ersten Worten bei der Kehle gepackt nnd zurückgedrückt, und da der andere dem Angriff auch nicht den mindesten Widerstand entgegensetzte, waren beide ziemlich rasch rückwärts gelaufen. „Rudolf, die Schlucht!" Ein Schrei, verzweiflungsvoll und warnend zugleich, ertönte plötzlich hinter den Ringenden. Der junge Mann fuhr zusammen, blieb instinktiv stehen und ließ den Gegner los. Es war die höchste Zeit: in der Wnt hatte er nicht gesehen, wie er den Fremden nach rückwärts zu gegen einen tiefen Abhang gedrängt hatte, einen Schritt wei ter — und beide stürzten in die grausige Tiefe. Der Fremde, der sich plötzlich losgelassen sah, taumelte einen Augenblick, strauchelte dann und stürzte mit ausgebrei teten Armen den Abhang hinab. Der junge Bauer starrte ihm erschreckt nach, er hatte im letzten Moment die Blutspuren auf dem Gesicht des andere,! bemerkt. „Blut? Blut?" murmelte er, „ich hab' doch nie zuge schlagen!" Tie Stimme Annas weckte ihn ans seiner Betäubung. „Was stehste denn hier?" schrie das Mädchen in Todes angst. „Gleich gehst De runter und holst'en rauf!" „Soll ich'u Dir wiederschaffen?" antwortete der junge Bursche finster, „der liegt gutt da unten, und wenn er noch nie hin is, dann möcht' ich fast —" „Rudolf, was denkst De denn? Bist De tälsch? Ich kenn den Menschen gar nie, Vor einer Stunde hab' ich'n gefunden, vom Moosstein is er runtergefallen, ich wollt'n ock ins nächste