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Redaktioneller Teil. K 1S8, 26. August 1916. Aus der Vergangenheit der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands. Von G. Jonck (früher Riga). (Fortsetzung zu Nr. IW u. 197.) IV. Solange Hartknoch lebte, hatte es in Rußland keine Zensur gegeben, erst in den letzten Lebensjahren der Kaiserin Katha rina II. wurde es für nötig gehalten, die periodische Presse zu überwachen. Anfangs wurden mit dieser Aufsicht in Livland ge bildete und gewissenhafte Landesbeamte betraut, aber seit dem Ausbruch der großen französischen Revolution suchte sich die Re gierung energisch gegen das Eindringen umstürzlerischer Ideen durch weitgehende Vorsichtsmaßregeln zu schützen. Alle aus dem Auslande ankommenden Büchersendungen wurden erst einer ein gehenden Besichtigung unterzogen. Die Formen dieser Bevor mundung des Publikums wurden immer krasser, und der unglück liche Kaiser Paul wandte in seinen letzten Lebensjahren >798— 1801 kaum glaubliche Maßregeln an, um jeden Einfluß der ge fürchteten französischen Revolution von seinen Ländern fernzu halten. Leider wurden seine Verfügungen durch überängstliche oder böswillige Beamte häufig in der denkbar schroffsten Form zur Anwendung gebracht. Jedes Buch, das für erlaubt gelten sollte, mutzte aus dem Titelblatt abgestempelt sein, und damit wurde er gerade in den Ostfeeprovinzen so streng genommen, daß jedes Versehen die so fortige Verschickung des Angeschuldigten nach Sibirien zur Folge haben konnte. Nicht etwa nur den Buchhändlern, auch jeder Pri vatperson drohte ein gleiches Schicksal. Im Jahre 1798 wurde allen sich damals an deutschen Universitäten aufhaltenden Stu denten die Rückkehr zur Heimat befohlen; bei ihrer Ankunft an der Grenze wurden ihre Sachen sehr scharf nach verbotenen Büchern durchsucht, solche fand man natürlich bei den flotten Musensöhnen nicht, aber auch die Stammbücher, die fast jeder Student milbrachte, vorsichtigerweise aber sorgsam versteckt hatte, konnten verderblich werden. Ein junger Herr von Mohrenschild kam in Reval an, man fand sein Stammbuch und darin als Ein tragung eines Freundes die Worte: »Rettung von Tyrannen- kettcn«; dafür wurde der unglückliche junge Mann als gemeiner Soldat nach Sibirien geschickt. Nach einigen Jahren wurde er vom Kaiser Alexander I. allerdings begnadigt, erkrankte aber und starb auf der Heimreise. Geradezu schrecklich war das Geschick des Pastors Seider in Randen, der erst im Jahre 1788 nach Livland gekommen war. Er hatte einen Lesezirkel für seine Nachbarn ins Leben gerufen und unter anderen Büchern den Roman »Die Macht der Lieber von Lafontaine in Umlauf gesetzt. Von diesem Werke war ein Band verlorengegangen, und Pastor Seider erließ im April 1800 im Dorpater Jntelligenzblatt ein Inserat behufs Wiedererlan gung. Dieses Inserat fiel dem damaligen Rigaschen Zensor Tu- mansky in die Hände, und dieser, ein gewissenloser, bildungsfeind licher, wüster Mensch, sandte sofort an den berüchtigten Petersbur ger General-Prokureur Oboljäninow einen Bericht, in dem er den Pastor Seider als den Inhaber einer heimlichen Bibliothek ver botener Bücher verdächtigt«. Natürlich erfolgte eine peinliche Untersuchung, die dem Dorpater Landrichter von Rennenkamps übertragen wurde. Ehe der aber noch seinen Auftrag erledigt hatte, erschien Tumansky persönlich in Randen und bezeichnet« einige der bei Seider gefundenen Bücher als verboten, darunter Kants Versuch zum ewigen Frieden, den erwähnten Lasontaine- schen Roman und einige erbauliche Schriften von Sonntag (dem späteren livländischen Generalsuperinlendenten). Seider wurde sofort in Begleitung eines Feldjägers nach Petersburg geschickt, dort auf die Festung gebracht, und nach einem kurzen Verhör er folgte das nachstehende Kaiserliche Urteil: »Da der Pastor Seider von Randen durch die Rigasche Zensur- Verwaltung bei Sr. Majestät wegen des Besitzes verbotener Bücher angeklagt ist, so hat Se. Majestät dem General-Prokureur be fohlen, den Seider samt seiner Bibliothek nach Petersburg ab zuführen. Nachdem sich aus dem Bücherverzeichnis ergeben hat, daß der Pastor Seider in der Tat zweideutige und verbotene Bü- ,118 'cher im Besitz gehabt, so ist derselbe als vor dem Gesetz schuldig befunden und auf Befehl Sr. Kaiser!. Majestät zu einer durch zwanzig Knutcnhiebc auszusllhrendcn Körperstrafe und zurBerg- werksarbeit in Nertschinsk verurteilt worden. Da nach Vor schrift der kirchlichen Gesetze geistliche Personen körperlich nicht gezüchtigt werden dürfen, so ist Seider zuvor durch den hier an wesenden Propst Reinbot der geistlichen Würde zu entkleiden.« Dieses wahnsinnige Urteil wurde tatsächlich zur Ausführung gebracht. Der unglückliche Seider wurde der geistlichen Würde entkleidet, dem Henker überantwortet und an den Schandpfahl gebunden. Nun hatte sich aber doch der Generalgouverneur Graf von der Pahlen des Unglücklichen erbarmt, und aus seine Veranlassung gab der die Exekution befehligende Offizier dem Henker einen Wink, und dieser richtete die Hiebe nicht auf den entblößten Rücken, sondern ausschließlich auf den Hosendund seines Opfers, so daß dessen Körper unverletzt blieb. Gras Pahlen hatte durch diese Milderung seine eigene Existenz aufs Spiel ge setzt, aber zum Glück fand sich kein Verräter. Halbtot wurde Seider ins Gefängnis zurllckgebracht und, trotz der Krankheit, die ihn ergriffen hatte, in einer elenden Kibitka von Petersburg nach Nertschinsk (ca. 6700 Kilom.) geführt. Dort blieb er bis zum Tode Kaiser Pauls. Sofort nach der Thronbesteigung Alexan ders I. wurde er begnadigt und durch folgenden Befehl für un schuldig erklärt: »Der frühere Pastor in Randen im Tolpatschen Kreise, Seider, der auf unglückliche Weise der geistlichen Würde entkleidet und unschuldig körperlich bestraft worden, ist von jedem gegen ihn erhobenen Vorwurf freizusprechen. Allergnädigst befehlen wir, daß derselbe in Gemäßheit von Kap. XIX Z 21 des protestan tischen Kirchengesetzes von neuem zu weihen und in «ine vakante Psarrstelle einzurücken ist. Wir befehlen dem Reichs-Schatzmeister außerdem, bis zur Wiederanstellung des Seider demselben die Hälfte des in Randen bezogenen Gehalts mit 715 Rubeln jähr lich auszuzahlen.« Der Eindruck, den dieser entsetzliche Vorgang in Livland und Petersburg machte, war ungeheuer. Seider selbst blieb in Peters burg als Prediger an der dortigen estnischen Gemeinde. Im Jahre 1811 berief ihn di« Kaiserin nach Gatschina an die deutsche Gemeinde und gleichzeitig als Lehrer an das Findelhaus. Nach dem oben mitgeteilten Beispiel wird man es selbstver ständlich finden, daß der edle Tumansky auch die Buchhändler nach Kräften gequält und gepeinigt hat. Am schlimmsten erging es dem Sohne Hartknochs, der das väterliche Geschäft weiter- fllhrte. Durch Nachlässigkeit der Zensur, die 3Z lrei ihr zur Durch sicht liegende Bücherballen fünf Monate lang zurückgehalten hatte, war Hartknoch in schwere geschäftliche Verlegenheiten ge raten. Er reiste nach Petersburg, um dem Chef der Geheimpolizei Fürsten Kurakin e.ine direkt an den Kaiser gerichtete Beschwerde zu überreichen. Obgleich ihm Kurakin erklärte, daß der Kaiser gegen alles, was auf Literatur Bezug habe, zu aufgebracht sei, als daß auf Abhilfe gerechnet werden könne, und obgleich der Präsident des Justiz-Kollegiums den drohenden Ausspruch tat: »Es wäre besser, daß hundert gute Bücher verbrannt würden, als daß eines durchschlüpfe, in dem nur e i n Ausdruck vorkomme, der eine revolutionäre Deutung zulasse«, ließ er sich doch nicht abschrecken, noch weitere Schritte in seiner gerechten Sache zu tun. Erst nachdem er verhaftet und nach Gatschina geschleppt worden war, wurde er von der Aussichtslosigkeit seiner Ange legenheit überzeugt und mit folgender kaiserlichen Resolution nach Hause entlassen: »Man müsse sich dem Gesetze unterwerfen, ohne zu räso nieren. Er könne der Mild« Sr. Majestät nicht genug danken, daß man ihn nicht dafür zur Verantwortung ziehe, daß er schon vor Einführung der jetzigen Zensur Bücher habe kommen lassen, die seit der Revolution in Frankreich gedruckt wären, und daß er gar kein Recht habe, sich über irgend etwas zu beschweren, das ihm widerfahre.« Daß Hartknoch so glimpflich davongekommen war, ließ den rachsüchtigen Tumansky nicht ruhen. Zehn Tage nach seiner Rückkehr aus Gatschina wurde er aus Grund einer von jenem ein gereichten Denunziation verhaftet, in Begleitung eines Feld jägers nach Petersburg geschickt und daselbst an die Hauptwache