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Allgemeiner Anzeiger : 05.12.1908
- Erscheinungsdatum
- 1908-12-05
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190812055
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19081205
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- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
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Jahr
1908
-
Monat
1908-12
- Tag 1908-12-05
-
Monat
1908-12
-
Jahr
1908
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 05.12.1908
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politische Aunälckau. Deutschland. "Kaiser Wilhelm ist von seinem Jnfluenzaanfall wieder völlig genesen. * Die Nachricht mehrerer Blätter, Kaiser Wilhelm werde im April künftigen Jahres eine Reise nach England machen, bestätigt sich nicht. Über die Reise des Monarchen sind noch keinerlei Bestimmungen getroffen. "Die gesamte Hochseeflotte ist von der Ubungsreise nach Skagen und der Nordsee unter Befehl des Prinzen Heinrich wohlbehalten im Kieler Hafen wieder eingetroffen. Die Schiffe und Torpedoboote hatten schwere Stürme auszustehen. * Gouverneur ».Schuckmann hat hier wiederholt erklärt, daß er im Februar nach S ü d w e st a fri k a zurückzukehren gedenke. "Die Frage der Entfernung des Bildes .Sedan" aus dem Sitzungssaale des Reichstages ist von der Ausschmückungs kommission bisher noch nicht erörtert worden. Es ist allerdings richtig, daß von einer Reihe von Abgeordneten die Beseitigung oder zum mindesten Abänderung dieses Bildes gewünscht worden ist. Eine politische Bedeutung wird der ganzen Angelegenheit in Abgeordnetenkreisen absolut nicht beigemessen, da die französische Fahne nicht, wie in den Pariser Blättern be hauptet wird, durch den Staub gezogen oder mit Füßen getreten wird, sondern lediglich zu Boden gesenkt ist in dem Moment, da der König von Preußen mit seinem Stabe vorbeizieht. Die Ausschmückungskommission des Reichstags wird sich jedenfalls mit diesem Bilde nach Weihnachten beschäftigen. Ein bestimmter Antrag auf Ent fernung desselben liegt bisher nicht vor. * Der Verband deutscher Post - und Tele- graphen-Untecbeamten hat jetzt die Genehmigung des Staatssekretärs Kraetke er halten. Damit ist die V e r e i n s fr ei h ei t der Postunterbeamten, die so oft den Gegenstand der Erörterung im Reichstage und in "der Presfe bildete, endgültig sichergestellt. Der Verband, der sofort mit 64 000 Mitgliedern ins Leben treten konnte, dürfte in kurzer Zeit eine Mitgliederzahl von 80 000 bis 90 000 er reichen. Der Organisation gehören sämtliche Unterbeamtenklasfen vom Ober-Postschaffner bis zum Postillion an. Nach einem amtlichen Bericht, der in dem ,Kolonialblatt' jetzt veröffentlicht wird, ist es dem Hauptmann Francke gelungen, mit ver schiedenen Ovambo- Häuptlingen schriftliche Verträge abzuschließen, auf Grund deren diese die Oberhoheit des deutschen Kaisers über ihr Gebiet anerkannt und ihr Volk unter den Schutz der deutschen Negierung ge stellt haben. Die Häuptlinge haben sich ferner schriftlich mit der Anwerbung von Arbeitern seitens des Gouvernements in Windhuk einver standen erklärt und die Versicherung gegeben, das Gouvernement in Deutsch-Südwest-Afrika in diesem Bestreben unterstützen zu wollen. * Der hessische Landtag tritt am 16. Dezember zu seiner Konstituierung zu sammen, womit die feierliche Eröffnung durch den Großherzog verbunden ist. In der Be völkerung ist man namentlich darauf gespannt, ob die Thronrede die Ankündigung einer neuen Wahlrechts Vorlage und eines neuen Gemeindesteuergesetzes enthalten wird. Österreich-Ungarn. "Die Feierlichkeiten aus Anlaß des Jubi läums Kaiser Franz Josephs haben am 2. d. ihren Höhepunkt erreicht. Ganz Wien prangte im Schmuck der Blumen und Fahnen. Die Illumination am Dienstag-Abend verlief nicht ohne schwere Unfälle. Verschiedene Per sonen wurden verletzt, während eine buchstäb lich lotgetreten wurde. . * Gegen revoltierende tschechischeVolks- massen inPrag mußten, um die Ruhe wie der herzustellen, Kavallerie und Infanterie einen förmlichen Angriff unternehmen, bei dem zahl reiche Personen schwer verwundet wurden. England. * Londoner Blätter berichten, England und Holland würden wahrscheinlich in Bäld durch engere Bande aneinander geschlossen werden als durch die jetzt bestehende Freund schaft. Es verlautet, daß Holland ein end gültiges Abkommen mit England abzuschließen wünsche, dessen Zweck derSchutzHollands sei. Schweden, Norwegen und Dänemark seien ebenfalls an der Unabhängigkeit Hollands inter essiert. König Eduard scheint also in aller Stille seinen Plan, den Bund der Westmächte (England, Frankreich, Spanien) zu verstärken, ausgeführt zu haben. Deutschland wird immer einsamer. Italien. * Der Papst ist an einem schweren In fluenza-Anfall erkrankt. Die Arzte ermahnten den Patienten, äußerst vorsichtig zu sein. Portugal. * Der deutsch-portugiesischeHan- delsvertrag ist in Oporto unterzeichnet worden. Balkanstaaten. "In der Türkei hat ein neues Ministerium die Regierung übernommen, von dem man hoffen darf, daß es mit den Großmächten einig ist in dem Bestreben, die Balkankrise möglichst schnell und auf fried liche Weise zu lösen. * Wie aus Belgrad gemeldet wird, ist die Kronpri nze npartei, die die A b - dankung KönigPeters erstrebt, bedroh lich gewachsen. Eingeweihte Kreise halten einen Thronwechsel in kurzer Zeit für unvermeidlich. * Der König von Bulgarien hielt an einige Abgeordnete der Sobranje, die ihm eine Adresse überreichten, eine Ansprache, indem er seiner Genugtuung über die friedliche Entwickelung der Dinge auf dem Balkan Ausdruck gibt. Amerika. * Der amerikanische Staatssekretär des Äußern und der japanische Botschafter haben im Staatsdepartement die Noten über das neue Abkommen, den Stillen Ozean be treffend, ausgetauscht. Es enthält fünf Artikel, die die Politik der beiden Länder in China und im Stillen Ozean betreffen. Das Staats departement ist erfreut über die Art, in der die Absichten der beiden Regierungen bezüglich Chinas und des Stillen Ozeans in Japan aus genommen wurden. * Die Revolutionäre auf Haiti haben abermals nach einem blutigen Ringen die Regierungstruppen geschlagen. Mehrere Minister Haben in der deutschen Botschaft Zu flucht genommen. Höchstwahrscheinlich werden die in haitianischen Gewässern anwesenden Kriegsschiffe Truppen landen müssen, um das Leben der Ausländer zu beschützen. Afrika. * Der frühere Sultan von Marokko, der entthronte Abd ul Aziz, ist in Tanger vollständig vereinsamt. Alle seine Anhänger sind zu Muley Hafid, dem neuen Sultan, übergegangen. "Der in Kapstadt seit einiger Zeit tagende südafrikanischeNational-Konvent ist im Begriff, eine erstaunliche Veränderung der afrikanischen Landkarte vorzunehmen. Die bisherigen Grenzen der vier selbständigen Kolonien Kap, Natal, Transvaal und Orange sollen fallen, und ihr ganzes Gebiet soll in sechs Provinzen mit je einem Landesparlament und einem gemeinsamen Bundesparlament ge teilt werden. Die neue Verfassung soll angeblich schon in den nächsten Tagen bekannt gegeben werden. Asien. * Sir Robert Hart, der Reorganisator der chinesischen Verwaltung, erklärte in einer Rede, in ein bis zwei Jahrhunderten würden die 400 Millionen Einwohner Chinas eine mili tärisch ebenso starke Nation sein, wie es die ge waltige Macht Deutschlands jetzt sei. Dann würde China dem Rest der Welt ge bieten, keine Kriege mehr zu führen. * Die vom Schah von Persien in Aussicht gestellte beratende Versamm lung ist in Teheran zusammengetreten. Sie ) vrsteht aus Prinzen, Adligen und Kaufleuten. Der persische Minister des Äußern versicherte in Erwiderung auf eine abermalige eng lisch - russische Note erneut die Absicht des Schahs, eine Verfassung zu gewähren, die dem Charakter und den Wünschen des Volkes angepaßt sei und den Lehrsätzen des Islam ent spräche. Zus äem Keickslage. Der Reichstag beschäftigte sich am Montag mit den Anträgen auf Abänderung der Gewerbeordnung und zwar zunächst mit der Frage der Arbeitsdauer der Fabrikarbeiterinnen. Die Kommission hatte sich dafür ausgesprochen, daß die Arbeit am Sonnabend für Arbeiterinnen mit eigenem Hausstand um 5 Uhr aufzuhören habe. Abg. Manz (frs. Vp.) beantragte, in dieser Beziehung die Regierungsvorlage wieder herzustellen, die den Schluß der Arbeitszeit erst auf sechs Uhr festsetzte und begründete dies damit, daß die Industrie diese starke Verkürzung der Arbeitszeit nicht ertragen könnte. Er sprach sein Bedauern darüber aus, daß die Bestrebungen, eine gleichmäßige Produktionszeit für Deutschland herbeizuführen, bis her vergeblich waren. Staatssekretär v. Bethmann- Hollweg trat dafür ein, von einer Beschlußfassung einstweilen überhaupt abzusehen, da die Verhältnisse noch nicht genügend geklärt seien. Die Blockparteien erklärten sich durchweg für den Antrag der Frei sinnigen, während die Sozialdemokraten Schmidt- Berlin und Stadthagen, und die Zentrumsabgg. Fleischer und Giesberts für Verschärfung bezw. Aufrechterhaltung der Kommisstonsbsschlüsse eintraten. Am 1. d. steht ans der Tagesordnung die Fort setzung der zweiten Lesung der Gewerbe ordnung und zwar zunächst des 8 137 — Arbeitszeit für Arbeiterinnen. Abg. Erzberger (Ztr.) bedauert, daß die Blockparteien jetzt an den Kommissionsbeschlüssen rütteln wollen. Wenn man sage, dem Zentrums antrage fehle die Bestimmtheit, so übersehe man, daß Bestimmungen, wie der Zentrumsantrag, in Ge setzen häufig auftreten. Abg. Molkenbuhr (soz.) führt Beschwerde, daß die sozialdemokratischen Anträge vom Abg. Schack als Neklameantrüge gekennzeichnet sind. Abg. Schack (wirtsch. Vgg.) hält es nach wie vor für bedauerlich, daß sich der Reichstag stunden lang mit Anträgen befassen müsse, die keinerlei Aus sicht auf Annahme haben. Nach kurzen weiteren Bemerkungen der Abgg. Stresemann (nat.-lib.), Pachnicke (frs. Vgg.), Frhr. Hehl zu Herrnsheim (nat.-lib.) und Fleischer (Zeutr.) schließt die Besprechung. Bei der Abstimmung über den Antrag Fleischer (Ztr.), nach deni die Beschäftigung am Sonnabend bis zu acht Stunden gestattet sein soll, soweit betriebstechnisch dadurch die Weiterarbeit andrer Arbeiter bedingt ist, bleibt zweifelhaft. Es findet Auszählung (Hammelsprung) statt. Der Antrag wird mit 129 gegen 127 Stimmen angenommen. Der Antrag Ablaß-Stresemann, der die voll der Kommission eingefügte und durch den Antrag Fleischer eben abgeänderte Bestimmung über den Sonnabend-6 Stunden-Arbeitstag wieder be seitigen will, wird angenommen. Die sozial demokratischen Anträge (9-stündige und von 1912 an 8-stündige Arbeitszeit, 12 Wochen Ruhezeit für Schwangere, Freilassung der Arbeitsstelle) werden abgelehnt. In der Gesamtäbstimmung wird 8 137 angenommen. ß 137 a bestimmt, daß Arbeiterinnen und jugend lichen Arbeitern Arbeit nach Hause nur an den Tagen gegeben werden darf, an denen sie im Betriebe nicht die ganze zulässige Arbeitszell hindurch be schäftigt waren und nur in dem Umfange, in dem Durchschmttsarbciter ihrer Art die Arbeit voraus sichtlich in, dem Betriebe während des Restes der gesetzlich zulässigen Arbeitszeit würden Herstellen können; für Sonn- und Festtage überhaupt nicht. Nach einem sozialdemokratischen Anträge soll solche Arbeit Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern grundsätzlich verboten sein. Nach der Begründung des Antrages durch Abg. Albrecht und kurzen Erwiderungen der Abgg. Stresemann (nat.-lib.), W a g n e r (kons.), Frhr. Heyl zu Herrnsheim (nat.-lib.) u. a. wird der sozialdemokratische Antrag abgelehnt. Ein Antrag des Abg. B ehrens(wirtsch. Vgg.), der die Fragen der Gewerbeaufsichtsbeamten außer au Arbeitgeber und Arbeiter auch au die Arbeiter ausschüsse gerichtet wissen will, wird angenommen. 8 138 a bestimmt, daß bei außergewöhnlicher Häufnng der Arbeit die Beschäftigung von Arbeite rinnen über 16 Jahren bis 9 Uhr abends an Wochentagen, außer Sonnabend, gestattet werden darf, wenn die Arbeitszeit 12 Stunden nicht über schreitet. Ein sozialdemokratischer Anttag will diese täg liche Arbeitszeit auf höchstens 14 Stunden bemessen. Nach den Kommissiousbeschlüsfen darf sich diese verlängerte Arbeitszeit auf nur 40 Tage erstrecken Abg. Stresemann (nat.-lib.) beantragt, diele Frist gemäß der Regierungsvorlage auf 60 Tage zu bemessen. Der Paragraph wird unter Ablehnung beider Anträge angenommen. Die Erörterung wendet sich nunmehr zum Be ginn der Vorlage. Hier lautet die Überschrift: „Be sondere Bestimmungen über Betriebe, in denen in der Regel mindestens zehn Arbeiter beschäftigt werden." Ein sozialdemokratischer Antrag will den Geltungsbereich dieser Bestimmungen erheblich er weitern, indem er sie auf alle Betriebe überträgt, für die in der Regel mindestens fünf Arbeiter be schäftigt sind. Der Antrag wird abgelehnt. Nach Erledigung einiger weiterer Paragraphen vertagt sich das Haus. Im chinesischen ttaiserpalasi. Aus Peking treffen jetzt genauere Nachrichten ein, die ein lebendiges Bild geben von der Auf regung und den tragischen Szenen, die sich vor und bei dem Tode des Kaisers und der Kaiserin- Witwe im Palaste abgespielt haben. Noch eine Stunde vor seinem Tode hielt der Kaiser eine Rede, er starb dann in höchster Erregung und unter furchtbaren Schmerzen. Der Leibarzt war kurz vorher entlassen worden, da man das Ende nicht so nahe glaubte. Als der Umschwung zum Schlimmen eintrat, rief man ihn zurück. Er gab sofort Befehl, dem Kaiser die traditio nellen gelben Staatsgewänder anzulegen, in denen jeder chinesische Kaiser sterben muß und die Wege vom Winterpalast zur verbotenen Stadt wurden mit Lehm bestreut. Zu gleicher Zeit traf man Vorbereitungen, die kranke Kaiserin-Witwe in das Sterbezimmer des Kaisers zu bringen. Die Kaiserin-Witwe war am 1. No vember erkrankt. Dem Ausbrnch des Leidens war ein bei ihr ungewohnter Ausbruch leiden schaftlichen Zornes vorausgegangen. Am 12. November unterrichtete man sie von dem hoffnungslosen Zustande des Kaisers. Die Nach richt erregte sie aufs höschste, und ein Schlag anfall war die unmittelbare Folge. Am nächsten Tage kehrte Prinz Tsching von dem Mausoleum der verstorbenen Kaiserin-Witwe, der ehemaligen Mitkaiserin Tsusis, zurück. Die Kaiserin-Witwe hatte ihn entsandt, um durch Opsergaben den Geist der Miikaiserin zu be schwichtigen, von dem sie glaubte, daß er sie riefe. Trotz furchtbarer Schmerzen und großer Schwäche berief sie am Abend des 14. den großen Rat zu sich und leitete mit übermensch licher Anstrengung, in die tradionellen Staats gewänder gehüllt, die Sitzung. Sie beauftragte die Räte, ihr nachts um zwei Uhr die Edikte zur Unterschrift vorzulegen, die die Nachfolger schaft Puyis unter der Regentschaft des Prinzen Tschung regelte. Mit größter Anstrengung ge lang es ihr, die Edikte zu unterzuschreiben, aber unmittelbar danach sank sie erschöpft zurück. „Ich kann es nicht länger ertragen," seufzte sie und verlor das Bewußtsein. Sowohl der Kaiser wie die Kaiserin-Witwe erwarteten den Tod in ihren Staatskleidern, umgeben von Hunderten von Hofbeamten und Würdenträgern. Es war eine barbarische Schaustellung des Todeskampfes, aber sie ist durch die chinesische Sitte vor geschrieben. Als die Regentschaftsedikte er schienen, war der Kaiser bereits tot und die Kaiserin-Witwe im Sterben. Dem Bekannt werden des Todes folgte eine wilde Panik im Palast. Die Witwe Tung-Tschis versuchte Selbstmord zu verüben, als sie hörte, daß sie nicht Kaiserin-Regentin würde. Im Palast spielten sich die wüstesten Szenen ab. In wilder Hast flohen die Eunuchen und schleppten alle Wertgegenstände mit, die sie erlangen konnten. W-Hi-Na-La war die einzige, die Geistesgegen wart bewahrte. Sie ließ sofort die Palasttore bewachen und gab die nötigen Befehle zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung. Die entflohenen Bedienten und Eunuchen kehrten bald zurück, und heute herrscht im Palast wieder Ruhe und Ordnung. Der junge Kaiser Puyi ist bereits in den Palast überführt, und man erzählt, daß er bitterlich weinend nach seiner alten Wärterin verlangt. A Nemesis. 1) Kriminalroman von E. Görbi tz.*) 1. In nicht zu großer Entfernung von der weltstädtischen Residenz dehnt sich ein immer grüner Tannenwald meilenweit über die Land schaft aus. Zwischen den hohen, dunklen Tannenbäumen, m deren Asten es unaufhörlich rauscht, wie fernes Brausen des Meeres, schimmert hier und da der silberweiße Stamm einer Birke hervor, deren hellgrüne Zweige wie flatternde Locken herab hängen und, durch den kleinsten Lufthauch an geregt, stets in kokett schwankende Bewegung gerate». Auf dem Moosteppich, der den Wald boden deckt, blühen im Frühjahr weiße Anemonen und köstlich duftende gelbe Schlüsselblumen, später plirpurrote Waldnelken und wilde Hecken rosen. Am Saume des Waldes erhebt sich ein prächtiger, schloßartiger Bau, gekrönt mü einer Menge großer und kleiner Türme, die maje stätisch und für den Befchauer imponierend in die blaue Lust aufstreben. Die metallenen Wetter fahnen auf diesen Tünnen drehen sich lustig im Morgenwinde und blitzen im Frühlingssonnen- schein so hell, als wollten sie mit den in der Ferne funkelnden Kirchturmknöpfen der Residenz im Glanze wetteifern. Am großen Mittelturm schimmert das weiße Zifferblatt einer Uhr. Starke Manern umziehen dies stolze Gebäude, dessen architektonisch wahrhast großartige Fassade *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. mit zahlreichen Fenstern versehen ist, auf deren Scheiben die Sonnenstrahlen blendende Lichtreflexe hervorzaubern. Dieser imponierende Bau glich einem mittel alterlichen Schlosse, der Wiege irgend eines alten Adelsgeschlechts, aber wer ihn dafür ge halten hätte, würde sich in einer argen Täuschung befunden haben, denn dieses in seinen Dimensionen prachtvolle Gebäude war ein modernes — Zuchthaus. In der Mitte der Nlauer befanden sich gewaltige, eisenbeschlagene Torwegflügel, die dicht geschloffen waren und keinen Einblick in das Innere des Gesängnis- hofes gestatteten. Hinter der Plauer, dieselbe etwas über ragend, war der Oberkörper eines gleichmäßig hm- mrd hergehenden Soldaten sichtbar. Das Bajonett seines über der Schulter getragenen, scharf geladenen Gewehrs blitzte drohend und ehrfurchtgebietend im Sonnenschein. Dieser wachehaltende Krieger konnte von seinem erhöhten Standpunkt auf der sich an die Innenseite der Mauer anlehnenden Terrasse gleichzeitig das Innere der Gefängnishöfe und die Gegend vor der Strafanstalt überblicken. Würde ein Sträfling den tollkühnen Ver such gemacht habeit, die Mauer an einer ent fernten Stelle zu überklettern, um ent fliehen zu wollen, so hätte der wachehal tende Soldat dem Flüchtling sogleich eine Kugel uachgeschickt und init seinem Schuß — selbst wenn derselbe nicht getroffen, — die Organe der Gesängnisbehörde zur Verfolgung des ausgebrochenen Sträfliitgs alarmiert. Die ringsum herrschende Sülle der Land schaft wurde plötzlich durch zehn Glockenschläge vom Mittelturm des Zuchthauses unterbrochen. Als der letzte Glockenton verklungen war, öffnete sich .eine neben dem Torweg befindliche kleine Pforte. Ein hochgewachsener junger Mann stürzte heraus. Die Kleidung, die derselbe trug, war zwar heil und anständig, machte aber keinen besonders vorteilhaften Eindruck und schien namentlich dem jungen Manne, der ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, nicht zu paffen. Vor der Pforte blieb er einen Augenblick stehen, sah mit funkelnden Augen wild um sich, streckte, wie von einem lebhaften Gefühle überwältigt, die Arme ausgebreitet zum Himmel empor und preßte dann die Hände vor die Augen. Daraus lief er wie ein in Todesangst! gehetzter Hirsch, dem Jäger und Meute auf den! Fersen sind, dem Walde zu. Unbedingt mußte der Soldat aus der Höhe der Mauer den Davoneilenden sehen, aber er schien doch keine Notiz von ihm zu nehmen, sondern schritt, ohne einen Schuß abzugeben, mit geschultertem Gewehr einförmig und ruhig auf der Terrasse hin und her, denn er wußte, daß es kein Flüchtling, sondern ein in Freiheit Gesetzter war. Als der junge Mann die ersten Bäume des Waldes erreicht hatte, warf er sich zu Boden. „Frei!" — schrie er auf, — „endlich wieder frei!" — — Er preßte das Gesicht in das frischgrüne Moos, das die dem Auge des ent lassenen Sträflings entströmenden Tränen auf- sog. Mcht allein sür ihn war der heutige Tag der Freiheit angebrochen. Genoffen des Elends und des Verbrechens waren ihm durch die kleine Mauerpsorte gefolgt, aber bei ihm hatte sich das entzückende Geiübl über das Ende der Strafzeit, der Drang nach Freiheit, am ungestümsten geäußert. Er war den Kollegen überstandener, wenn auch ver dienter, aber doch immer furchtbarer Leidens jahre vorangeeilt. Mehrere Männer, in Laster und Verbrechen ergraut, traten nach ihm aus der Gefängnis- Pforte hervor und schlugen, reilweise stumpf sinnig zu Boden blickend, teilweise srech scherzend und Schelmeulieder johlend, den Weg nach den Toren der Residenz, diesem großen Markt des Lasters, ein. Nur der letzte blieb vor der Psorle, welche sich hinter ihm schloß, stehen. Er war klein und untersetzt, von kräftiger Figur und in telligentem Gesichtsausdruck. Sein schon stark ergrauter Vollbart bewies, daß er bereits die Mittagshöhe des Lebens erreicht, und seine totenbleiche, wachsartige Gesichtsfarbe, daß er wohl einen großen Test dieses Lebens, abge schloffen von freier Lust, hinter finsteren Ge- fängnismauern verbracht hatte. Spähend ließ er seine durchdringenden Blicke umherschweifen, und als er den unter den ersten Waldbäumen liegenden jungen Mann be merkte, schritt er aus denselben zu. Er blieb neben dem Liegenden lautlos stehen ulid betrachtete ihn mit einein Blicke, wie Mephisto den Faust angeschaul haben mochie, als dieser mtt seinem Blut den höllischen Patt
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