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ssber den Rsichscanzler Fürsten v. Bülow sckreibt Frhr. v. Berger in der ,N. Fr. Presti: „Ton jedem Menschen, der in der großen Öffentlichkeit steht, entwickelt sich in den Köpfen der Zeitgenossen ein Bild seiner inneren Per sönlichkeit, das von naiven Leuten für ein ge treues, das Wesen des Menschen erschöpfendes Charakterporträt gehalten wird. Bismarck war mittels des Rundbogens der kahlen Schädel kuppel, der berühmten drei Haare, der Säcke unter den Augen, der dicken Brauen und des struppigen Schnurrbartes von jedem Geübten in einem Nu zum Sprechen ähnlich zu treffen. Das Charakteristische der Erscheinung Bülows beruht auf dem gescheitelten, an den Schläfen glatt anliegenden Haar, den Lächelgrübchen in den vollen Wangen und der weichen Spaltung des rundlichen Kinns. Sieht Fürst Bülow wirklich so aus? Gewiß ist er in seinen Karikaturen auf den ersten Blick zu er- kennen, wenn auch die Natur seinen Kopf nicht, wie den Bismarcks, in monumentalen Zügen, welche die Karikatur nur zu unterstreichen brauchte, modelliert hat. Aber wer dem Reichs kanzler jemals in angeregter Unterhaltung über nicht ganz gleichgültige Gegenstände gegenüber gesessen hat, der mußte gewahren, daß Geisi und Temperament in diesem für gewöhn lich so höflichen und verbindlichen Antlitz in gar eigenartiger Weise spielte und die Feinheiten des Ausdrucks darin hervorlockte, welche mit ein paar talentvollen Strichen nicht zu erhaschen sind; wenn ihn der Gegenstand innerlich berührt, dann erlöschen die freundlichen Grübchen, dann blinkt etwas Stählernes und Durchdringendes in den Augen, das Gesicht, das sonst nur der Außenwelt zuzulächeln scheint, bekommt einen lief ernsten, nach innen gekehrten Ausdruck, und auch das sonst auf einschmeichelndes Salonge plauder gestimmte Sprechorgan hat auf einmal einen anderen Klang. Oft hörte man von ihm sagen, ihm fehle die gewaltige Bismarck-Energie, die eiierne Hand. Fehlt sie ihm wirklich? Ich habe die feste Überzeugung, daß er, wenn Not wendigkeit und Pflicht es von ihm heischte, vor nichts zurückbeben würde. Ich halte ihn für völlig furchtlos, wenn er dies auch weniger durch eine Heldengebärde als dadurch an den Tag legt, daß er auch in außergewöhnlichen Lagen, die höchst gesunde Wangen erblassen und feste Nerven schlottern machen könnten, so ist wie immer. Oft wurden seine glatten und einnehmenden Eigenschaften gerühmt, um ihm die starke Persönlichkeit absprechen zu können. Naturen, deren Grundzug selbstlose Sachlichkeit ist, laufen häufig Gefahr, so beurteilt zu werden. Wenn Fürst Bülow jemals heftige Leidenschaften gehabt haben sollte, so hat er sich dazu erzogen, sie als Beweggründe seines Handelns unwirksam zu machen. Erworbene Gelassenheit, diese kostbarste Eigenschaft für jeoen praktisch Wirkenden, ist die Grundfarbe seines Temperaments. Bülows Vaterlandslisbe und Königstreue ist schon etwas, was man nicht alle Tage und nicht unter jedem besternten Frack oder Uniformrock vorfindei. Diese Ge sinnungen sind bei ihm Wesenskern und Mark, tir gehört mit Haut und Haar, mit jedem Puls schlag und Gedanken dem Kaiser, dem deutschen Volk und dem Reich. Die Empfindung, daß Fürst Bülow so ist, ist die Grundlage des Ver trauens, das er in breiten, von Parteileiden- schasren nicht erregten Schichten des Volkes ge nießt und das er ins Privatleben mit sich nimmt. Für sehr viele gute Deutsche — ich weiß das aus zahllosen Äußerungen, die ich selbst gehört habe — war der Gedanke, daß Fürst Bülow Reichskanzler ist, eine Quelle der Beruhigung; und wenn er es nicht mehr ist, wird es der Gedanke sein, daß in Rom, in Floitbek oder in Norderney ein solcher Mann weilt, den man holen kann, wenn man seiner besarf. Fürst Bülow gehört zu jenen Persön lichkeiten, deren Wert stärker empfunden wird, wenn sie fehlen, als wenn man sie besitzt. polltilcbs Deutschland. *Nach der ,T. R/ hat Kais er Wilhelm dem Fürsten Bülow bei der Unterredung über die Finanzreform erklärt, er lege auf die Fort dauer der persönlichen Beziehungen auch nach dem Rücktritt des Kanzlers den größten Wert. Auch sei Fürst Bülow beauftragt worden, einen Nachfolger vorzuschlagen. Dieser sei angeblich schon gefunden, doch werde sein Name noch verschwiegen. Es soll sich um eine Persönlichkeit handeln, die sich bei allen Parteien größter Beliebtheit erfreut. * Die Meldung, Fürst Bülow werde dem Kaiser in diesen Tagen einen Vortrag halten, entspricht nach halbamtlichen Erklärungen nicht den Tatsachen. Fürst Bülow wird dem Monarchen erst nach der dritten Lesung der Finanzreform Vortrag halten. Es ist auch nicht richtig, daß die Finanzminister der Bundes staaten dieser Tage zu einer Konferenz in Berlin zusammentreten. Wohl ab?r wohnen die meisten von ihnen den Schlnßverhandlnngen über die Finanzreform im Reichstag bei, zugleich, um jederzeit zu Besprechungen der verbündeten Ne gierungen zusammentreten zu können. * Der Reichskanzler Fürst v. Bülow hat dem Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding das ihm aus Anlaß seines 50 jährigen Amtsjubiläums vom Kaiser ver liehene Großkreuz des Roten Adlerordens über reicht. *Der Zentralausschuß der freisinnigen Volkspartei hat beschlossen, dem Gedanken einer wcitergehenden Einigung der drei links liberalen Parteien näherzutreten. Frankreich. * Kaiser FranzIoseph hat dem Präsi denten FalliöresdenStephansorden verliehen. Die Auszeichnung wurde dem französischen Staatschef von dem österreichisch ungarischen Botschafter unter Worten des Dankes für Frankreichs freundliche Haltung während der Balkankrise überreicht. England. * Wie verlautet, werden England und Frankreich zur Bekämpfung der Unruhen in Vorder- und Hinter-Indien ge meinsam Maßregeln treffen. Die diesbezüglichen Beratungen sollen in den nächsten Tagen in London beginnen. Spanien. * König Alfons, der vor einigen Tagen in Biarritz wegen eines Ohrenpolypen operiert wurde, befindet sich auf dem Wege zur Genesung. Balkanstaaten. * Mohammed V. hat in Konstantinopel eine Flottenschau abgehalten, an der neben den Ministern, den Senatoren und Deputierten auch der Khedive von Ägypten teilnahm. * Die türkische Deputierten kammer hat einen Antrag angenommen, zur Erinnerung an die Einführung der Verfassung den 23. I u li als nationalen Feiertag zu feiern. * Obwohl die Schutzmächte Kretas gleich mäßig um die Erhaltung des Friedens zwischen der Türkei und Griechenland bemüht sind, setzt man türkischcrseits mit großem Eifer die Rüstungen fort. Daß solche Maßnahmen nicht zur Beruhigung in Griechenland beitragen, ist begreiflich, und die Regierung in Athen hat infolgedessen die Mobilmachung aller Grenz- tcuppen angeordnet. Falls die Mächte nicht mit allem Nachdruck Einspruch erheben, kann der Ausbruch des Krieges nur eine Frage der Zeit sein. Amerika. * Im Washingtoner Senat wurde ein Antrag angenommen, der eine Verfassungsände rung zur Einführung einer Einkommen steuer vorsieht. Aste». * England, Österreich - Ungarn und die Ver. Staaten haben zur Kenntnis der chinesischen Regierung gebracht, daß sie das russisch-chinesische i Abkommen, wonach Rußland in der russi schen Eisenbahnzone in der Man dschurei besondere Vorrechte genießt, nicht an erkennen, da Bestimmungen, die das Ansiede- lungsrscht internationaler Niederlassungen in China berühren, sich auf einen Vertrag aller Mächte stützen müßten. ZUS cLsm Reichstage. Der Reichstag verwies am Montag die Vorlage wegen A n d c r u n g des S ch a n k g e f ä ß g c s etzes, die ursprüglich ohne Ausschußberatung erledigt werben sollte, auf Anregung von verschiedenen Fraktionen doch noch an eine Kommission, und setzte dann die zweite Lesung der Vorlage, zur Reichs finanzreform fort bei der Vorlage die das Erb recht des Staates vorsieht. Die Kommission beantragte Ablehnung des gesamten Entwurfs. Dis Abgg. Junk (nat.-lib.), Dove und Ablaß (frs. Vgg.) und Ulrich (soz.) traten für die Vor lage ein trotz Bedenken gegen einzelne Bestimmungen derselben. Dagegen lehnten Konservative und Zentrum sowie die Wirtschaftliche Vereinigung die Vorlage als den Anfang eines gefährlichen Weges ab. Damit schloß die Erörterung. 8 1 wurde mit 181 gegen 136 Stimmen bei einer Enthaltung ab gelehnt. Darauf fiel auch der Nest des Gesetzes. Es folgte die zweite Lesung des Weinsteuer- gesetzes. Während die Kommission die Vorlage abgelehnt hatte, begründete Abg. Graf Kanitz (kons.) einen Antrag, der von der Voraussetzung ausgeht, daß neben der Mehrbelastung von Bier und Branntwein schon aus sozialen Erwägungen sich eine Besteuerung des Weines empfiehlt. Als Schatzselretär Sydow gegen diese allgemeine Weinsteucr Einspruch erhob, beantragte Abg. Graf Kanitz fkons.) im Falle der Ablehnung seines ersten Antrages, die Regierungsvorlage wieder her zustellen, sich also auf eine Flaschcnweinstener zu beschränken. Nach länger Debatte, in der die Abgg. Nösickc fkons.), Gröber fZentr.) und die Linke sich im Interesse der Winzer gegen jede Weinsteuer ausgesprochen, wurden die Anträge Kanitz und die ganze Vorlage abgelehnt; hingegen wurde die Erhöhung der Steuern und des Zolles auf Schaumwein angenommen. Am 6. d. steht zunächst auf der Tagesordnung die zweite Lesung der Vorlage über die zoll- widrige Verwendung von Ger sie. Die Vorlage in der Fassung der Kommissions- bcschlüsse verbietet, Malz aus Gerste, die nach einem niedrigeren als dem für Malzgccste bestehenden Zoll satz verzollt worden ist, zu Vrauzwecken zu ver wenden. Die aus dem Auslande eingehende Gerste, aus die der Zollsatz von 1,80 Mk. für einen Doppel zentner zur Anwendung kommt, ist kenntlich zu machen, wenn nicht der Nachweis erbracht wird, daß sie zur Bereitung von Malz ungeeignet ist. Abg. Südekum (soz.) beantragt, die Vorlage von der Tagesordnung abzusetzen. Der Antrag wird abgclehnt. Abg. Stolle (soz.) ist gegen die Vorlage. Die Behörden seien den Behauptungen über Zoll- defraudationen nachgegangen, haben aber Mißbräuche nicht gefunden. Abg. Hausmann (nat.-lib.) befürwortet die Vorlage. Die Einfuhr von Braugerste ist schon um die Hälfte zurückgegangen. Entsprechend hat die Gerste mit nur 1,30 Mk. Zoll in der Einfuhr zu genommen. Wird nicht ein Niegel vorgeschoben, so wird Gerste zu 4 Alk. Zoll bald nicht mehr ein geführt. Abg. Hufnagel (kons.) verweist auf den gleichen Tatbestand. Die Einfuhrsleigsrung der niedrig zu verzollenden Gerste, sowie der Einfuhr rückgang der hochverzollten Gerste läßt nur den einen Schluß zu, daß 1,30 Mk. - Gerste. zu Malz zwecken verwendet wird. Färbung der billig cin- gcführten Gerste ist unerläßlich. Der reelle Handel wird durch die Vorlage in keiner Weise getroffen. Abg. Carstens (frs. Vp.): Die Vorlage führt in ß 1 zu einer ungeheuren Verschleuderung von Reichsgctdern. Die Agrarier machen jetzt die Gesetze allein; sie stört kein Unannehmbar des Bundesrats. Der Entwurf schädigt die Reichskasse und nützt nur einer keinen Gruppe von Grundbesitzern. Direktor im Reichsschatzamt K ü h n: Der Ent wurf hat keinen agrarischen Charakter. Er soll nur eine Lücke im Zolltarif ausfüllen. Man sollte sich doch srcuen, endlich eine Begriffsbestimmung für Braugerste zu bekommen. In der Fassung der Kom missionsbeschlüsse ist die Vorlage für den Bundesrat aber nach wie vor unannehmbar. Abg. Vog t-Hall (wirtsch. Vgg.): Die als Futtcr- gerste eingeführte Gerste muß so gekennzeichnet werden, daß sic als Braugerste nicht mehr verwendet werden kann. Hoffentlich kommen wir bis zur dritten Le sung zu einer Verständigung mit der Negierung. Abg. Gothein (frs. Vgg.): Änderungen am i Zolltarif muß das Ausland als Verstoß gegen Treu ! ! und Glauben empfinden. Die verbündeten Regie rungen sind auch hier umgefallen. Ihrem Unan nehmbar glauben wir nicht. Direktor Kühn: Wir haben die Vorlage schon im Mürz 1908 angekündigt und halten jetzt dieses Versvrcchen. Wenn der Vorredner an unlerm Un annehmbar zweifelt, so würde ich den verbündeten Regierungen zu nahe treten, wollte ich sie gegen diesen Anwurf noch erst verteidigen. Abg. Speck (Zentr.) begrüßt die Vorlage, die der gerstebauenden, aber auch der gerstekonsumierenden Landwirtschaft nützlich sein müsse. Nunmehr betanrageir Konservative und Zentrum Schluß der Besprechung. Abg. Semler (nat.-lib.) bedauert den Schluß antrag, der ihm die Begründung eines Abänderungs antrages unmöglich mache. Der Schlußantrag wird mit 184 gegen 149 Stimmen bei 6 Enthaltungen angenommen. 8 1 wird mit 255 gegen 85 Stimmen bei 1 Ent haltung angenommen, ebenso nach kurzer Erörterung der Rest der Vorlage. Die zweite Lesung der Neichssinanzreform wird fortgesetzt. Die Elektrizitäts- und Gas steuer wird gemäß dem Kommissionsantrag abge lehnt. Bei der Inseratensteuer bitten die Abgg. Dietz (soz.) und Wiemer (frs. Vp.), dem Kam- missionsantrag auf Ablehnung beizutreten. Abg. Kreth (kons.) bedauert, daß die Vorlage sang- und klanglos verschwinden soll. Der Regie rungsentwurf war ja unzulänglich, aber man hätte ihn annehmbar machen können. Am wenigsten wird man es verstehen, daß eine Plakatsteuer nicht ange nommen ist. Die Vorlage wird abgelehnt. Abg. Graf Westarp (kons.) beantragt, die nun folgende Novelle zum Reichs st cmpelgcsetz von der Tagesordnung abzusetzen, da neue Anträge in Vorbereitung seien. Abg. Singer (soz.): Die neue Mehrheit ist sich nur mit der Negierung noch nicht einig. Man will Zeit sür den Ersatz der Kotierungsstcuer finden. Die Mehrheit macht den Reichstag immer mehr zur Schacherbude. Präsident Graf Stolberg ruft den Redner zur Ordnung. Gegen die Stimmen der Linken beschließt das Haus die Absetzung der Vorlage. Abg. Singer (soz.) beantragt nunmehr Ver tagung. Der Mehrheit müsse noch mehr Zeit ge geben werden. Das Haus lehnt den Antrag gegen die Stimmen der Sozialdemokraten ab. Letzter Gegenstand ist die zweite Lesung der Z ü n d w a r c n st c u e r. Abg. Osann (nat.-lib.) befürchtet von den KommifsionSbcschlüssen einen Konsumrückgang. Die Steuer ist zu hoch; ein Pfennig pro Schachtel genügt. Zudem muß der Zoll von 20 auf 30 Mk. hinaufgefetzt werden, um die Inland-Produktion zu stärken. Eine Abwälzung auf den Verbraucher muß ermöglicht werden. Abg. Baren hör st (sreikons.) steht der Vorlage sympathisch gegenüber. Eine Steuer nach dem Muster des Auslandes ist hier am Platze, zumal jetzt mit den Zündhölzern vielfach verschwenderisch um- gegangcn wird. Abg. Mommsen (frs. Vgg.) fragt, ww die verbündeten Negierungen zur Steuer stehen, das die Ärmsten der Armen schwer belasten und viele Arbeiter brotlos machen würde. Dem Anträge Nösickc, nach dem den Straßcnhändlern ein angemessener Vorrat von d er Nachsteuer freigelassen werden soll, können wir eine Bedeutung nicht zufprcchen. Ministerialdirektor Kühn stellt die Zustimmung des Bundesrats in Aussicht und teilt mit, daß durch Fahrlässigkeit im Umgänge mit Streichhölzern im Jahre 1906 6,3 und im Jahre 1907 6,4 Millionen Schaden verursacht worden ist. Abg. Schwartz- Lübeck (soz.) bezeichnet es als volksfeindlich, einen so notwendigen Gebrauchs gegenstand zu besteuern. Abg. Sir (Zentr.) stimmt den Kommissions beschlüssen zu. Abg. Müller- Meiningen (frs. Vp.): Die Vor lage ist offenbar in der Wilhelmüraße fabriziert. Wo bleiben die Motive? Die Bekämpfung der Brandstiftungen durch eine Zündholzsteuer ist das Originellste, was uns je geboten ist. Warum ver bieten Sie nicht auch das Rauchen? Abg. Molkenbuhr (soz.) greift das Zentrum an, das mit seiner Zustimmung zur Vorlage viele Arbeiter brotlos mache. Die Erörterung schließt. Ein Antrag Molken buhr auf Entschädigung der infolge der Vorlage arbeitslos werdenden Arbeiter wird mit 194 gegen 142 Stimmen bei 3 Enthaltungen abgelehnt. 8 1 der Vorlage wird mit 179 gegen 165 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen. Der Rest der Vorlage gelangt mit den vom Berichterstatter Abg. Nösickc i (kons.) beantragten Abänderungen zur Annahme. ! Das Haus vertagt sich. O Oer Oberkof. 2) Roman von C. Wild. f^ort'etznna.) Eva, die in einer Zeitung la? und nur zu weilen einen Schluck Kaffee nahm, hob kaum den Kopf. „Ein Besuch sür Papa," meinte sie lakonisch, „wiM du den Herrn empfangen?" „Gewiß, versetzte Mina" rasch vor den Spiegel tretend, um ihr rotbraunes Haar, auf dessen Farbe sie nicht wenig stolz war. ein wenig zu ordnen. Sie trug mit Vorliebe eine etwas phan tastische Frisur, liebte überhaupt lebhafte Farben und machte all» Extravagrnzen der Mode mit. Da sie schlank und nicht groß war, sah man es ihr nicht an, daß sie das dreißigste Jahr schon überschritten hatte, auch vermied sie mit ängstlicher Sorgfalt jede Ansvieluna aus ihr Alter, und Eva wurde von ihr in Gegenwart andrer immer noch als Kind behandelt — war sie ja leider die jüngste und Mina die älteste. „Benimm dich anständig/ ermahnte die ältere Schwester, als Eva sich beguem in ihrem Stuble zurücklehnte, „ich höre Schritte — man kommt." Sie flüchtete vom Spiegel zu dem Tische zurück, doch hatte sie kaum Zeit dazu — denn lautes Pochen ertönte und auf Minas „herein" trat ein auffallend hübscher, junger Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren in das Zimmer. Ober Minas etwas blasses Gesicht flog ein Helles Rot. „Herr Tremmingen/* tief sie, „welche Über raschung, wie kommen Sie in unsre Gegend?" Sie ging ihm entgegen und bot ihm die Hand, die er jedoch nicht, wie sie erwartet haben mochte, küßte, sondern nach einem leichten Drucke sofort sreiaab. „Ich bin doch Ihr Nachbar, Fräulein Hold- baus." lächelte Ernst Tremmingen, „seit vier Wocben habe ich die Verwaltung des Gutes Hochberg übernommen." Mina errötete vor Vergnügen; für sie stand es fest, Ernst Tremmingen war nm ihrethalben nach dem Oberhofe gekommen. Vor einem halben Jahre war sie in der Stadt öfter mit Tremmingen zusammen ge kommen; der junge hübsche Ökonom haste ihr ausnehmend gut gefallen, aber er hatte damals noch kein eigenes Heim besessen, und Mina war in dieiem Punkte sehr vorsichtig — ohne Garantie für eine sichere Zukunft heiratete sie nickt. Sie lud den Besuch ein, Platz zu nehmen, und bot ihm ein Taffe Kaffee an. Erst jetzt fiel es ihr ein, sich nach Eva um- zuseben. Das junge Mädchen war ausge standen und stand etwas linkisch neben dem Tiscke. Mina bemerke mit Mißvergnügen, daß in dem enganliegenden Trauerkleide die knospen den, jugendlichen Formen anmutig hervortraten, und daß die dunkle Farbe dem weniger hübschen, als interessanten Gesichtchen einen eigenen Reiz verlieb. „Herr Ernst Tremmingen — meine Schwester Loa," sagte sie kurz — Tremmingen richtete einige Worte an das junge Mädchen, die nicht eben sehr freundlich erwidert wurden. Im allgemeinen haste Eva eine gewisse Ab neigung gegen die sogenannten „schönen Männer", auch batte sie eigentlick nie viel Gelegenheit gehabt, mit Herren zu verkehren. Man lebte ziemlich abgeschlossen aus dem Oberhose, und in die Stadt war Eva nur höchst selten gekommen. Tremmingen richtete seine lebhaften schwarzen Augen einige Augenblicke forschend auf Eva. Sie gefiel ibm trotz ihrer Herbheit, und viel leicht um so mehr, da sie gar keine Spur von Koketterie an fick haste Mina bemäcktigte fick rasch des Gesprächs; im Lause desselben erfuhr sie, daß Tremmingen > eigentlich aekommen war, mit Herrn Holdhaus eine geschäftliche Rücksprache zu halten. „Natürlich, einen Vorwand muß er doch haben, um hierher zu kommen," dachte Mina bei sich. Sie war äußerst angeregt und leb haft — mit großer Befriedigung vernahm sie, daß Tremmingen Gut Hochberg für zebn Jabre gepachtet habe. Der Besitzer des Gutes war kränklich und mußte den größten Teil des Jahres im Süden verbringen — möglich auch, daß er sich später dazu entschloß, den Besitz zu verkaufen. „Sie würden Gut Hochberg kaufen?" fragte Mina. Tremmingen lackte. „Je nachdem," sagte er, „ich bin nicht reich genug, um das Gut sofort ganz ausznzahlen — aber da ließen fick wohl Mittel finden — doch jetzt steh! mein Ehrgeiz noch gar nicht dahin; ein Junggeselle wie ich bindet sich nicht gern fest an eine Scholle." Das Gespräch stockte für eine Weile: denn Mina wußte nicht gleich die richtige Antwort zu finden. Dabei bemerke sie zu ihrem Berdrusse, daß Tremmingen Eva verstohlen ansah: ein Gefühl wie Haß stieg gegen die jüngere Schwester in ihr empor. Sich mühsam beherrschend, brachte sie die Rede auf die Nachbarn. Da gab es eine gräfliche Familie, die mit den Bürgerlichen absolut keinen Umaang Pflog; ein verschuldeter Baron existierte auch, der wohl sehr leutselig war, aber meist überall Anleihen machte. Dann kam die Familie des Ober försters Bonus, mit dessen Töchtern Eva ver kehrte. Die älteste Tochter Johanna war ein blasses, unschönes Mädchen, die jüngere noch ein Kind. — Rivalinnen gab es also kür Mina nicht — außer Eva — und Mina schwor sich zu, eher müsse das Mädchen aus dem Hause, als daß sie ihr hindernd in den Weg trete. Tremmingen empfahl sich, er wollte am nächsten Tage wiederkommen, denn er hatte es eilig, sein Geschäft mit Herrn Holdhaus ins reine zu bringen. Nach seinem Weggange erhielt Eva eine Menge Vorwürfe über ihr ungebührliches Be tragen, denen auch eine strenge Warnung für die Zukunft beigemengt war. Tremmingen sei ein Allerweltshoftnacher, hieß es, und Eva möge sich hüten zu glauben, daß sie irgend welchen Eindruck auf ihn gemacht