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völlig fern gelegen hätten, nnd daß er dem Zufall nur sehr dankbar sein könne, der ihm Den Rest des Satzes verschluckte er rasch in dem unbe stimmten Gefühl, daß er sich vor diesen klaren, hellbraunen Augen, in denen es schon schalkhaft auszuckte, mit einer banalen Kompliment-Phrase nicht bloßstellen dürfe. „Ich hätte mir übrigens denken können," lenkte er ab, „daß es an freien Plätzen heute nicht fehlen würde, denn ein paar Stunden vor dem heiligen Abend gibt es nicht allzu viele Reise lustige, wenigstens bei uns in Deutschland nicht." „Das ist wohl wahr," bestätigte die junge Dame, in deren Sprache ein süddeutscher Anklang nicht zu verkennen war. „Und wenn alles geklappt hätte, süß' ich auch heute um diese Zeit nicht mehr auf der Eisenbahn." „Ein Glück, daß nicht alles geklappt hat," entfuhr es Tho mas zu seinem geheimen Aerger, denn er haßte sonst jede Art galanter Redensarten. „Es war doch keine ernsthafte Unan nehmlichkeit?" „Ach, das nicht gerade — bloß daß das Schiff, mit dem ich gestern in Stettin ankam, unterwegs zwölf Stunden im Nebel liegen bleiben mußte. Dadurch hab' ich einen ganzen Reise tag verloren." „Sie kommen vom Ausland?" „Ja, aus Finnland. — Ich war fast ein volles Jahr dort." Es ergab sich, daß Thomas schon einmal als Tourist in Helstngfors gewesen war und dort noch Beziehungen hatte. Dies gab ihm Veranlassung, nun auch seinen eigenen Namen zu nen nen und sich als Fabrikbesitzer vorzustellen, der in Gemeinschaft mit einem Schwager ein großes industrielles Werk im Osten Berlins leitete. Sein Gegenüber erwiderte die Vorstellung nicht, aber er hatte inzwischen schon auf dem Umschlag des Romanbandes, den sie auf das Klapptischchen neben sich gelegt hatte, den in großen energischen Zügen querüber geschriebenen Namen „Anna Diebold" gelesen, und erfuhr im Verlaufe des Gesprächs, daß sie bei den Kindern des englischen Konsuls in Helstngfors Er zieherin sei und einen dreiwöchigen Urlaub dazu benutzte, ihre Angehörigen daheim in einem kleinen Tauuusstädtchen zu be suchen. „Ein mühevoller Beruf," bemerkte er teilnehmend. Aber davon wollte sie nichts hören. „Ganz und gar nicht," erklärte sie heiter. „Das denkt man sich nur so. Ich habe mir ihn freiwillig gewählt, ohne darauf angewiesen zu sein, und muß sagen, ich bin mit ganzer Seele dabei." „Wirklich? — Dann haben Sie ja eigentlich schon fast alles, tvas dazu gehört, glücklich zu sein." „Ich weiß nicht, ob für andere nicht mehr dazu gehört;! aber ich müßte lügen, trenn ich sagen wollte, daß ich mich dabei nicht vollkommen zufrieden fühlte." „Zufrieden. — Ein schönes Wort für den, der auch den dazu gehörigen Begriff aus eigener Erfahrung kennt. — Wenn Sie es nicht unschön finden, möchte ich Ihnen das Bekenntnis machen, daß ich Sie beneide." „Das sollten Sie nicht," meinte das junge Mädchen ernst haft, und der Blick, mit den: sie ihn dabei ansah, trug einen for schenden Ausdruck. „Zufriedenheit allein ist auch nicht immer Glück. Ohne Zufriedenheit gäbe es ja kein Streben und keinen Fortschritt in der Welt, nicht wahr?" In dieser Weise ging das Gespräch eine Weile hin und her, kam dann vom allgemeinen mehr aufs Persönliche und ließ allmählich die beiden Plaudernden vergessen, wo sie sich be fanden. Erst als der Zug Nordhausen schon passiert hatte, glaubte Thomas an seiner Gefährtin eine leise Abspannung wahrzu nehmen, und beeilte sich, um ihr Gelegenheit zur ungestörten Ruhe zu geben, sich nach dem Speisewagen zurückzuziehen, 'wo er bei einer Tasse Kaffee und ein Paar selbstgedrehten Zigaretten seinen Gedanken nachhängen konnte. Er fühlte sich seltsam angeregt. In seiner inneren Zer rissenheit, und in jener Verfassung chronischen inneren Unbe hagens, wie sie alleinstehende Junggesellen bei mangelndem Ta lent zu egoistischem Lebensgenuß nahe den Vierzigen anzukom- men pflegt, fand er sich von der merkwürdigen Frische und Ge sundheit einer so unverbildeten MädchennaUir, wie es diejenige seiner neuen Bekannten seinem ganzen Eindruck nach war, in einer ihm ungewohnten Weise gefesselt und angezogen. — Im wohldurchwärmten Speisewagen, wo sich die beiden Reisenden eine kleine Abendmahlzeit hatten servieren lassen, war es fast leer. Nur im Raucher-Abteil debattierten ein paar Reiseonkels über die neuesten Nachrichten vom ostasiatischen Kriegsschauplatz. i Von den Weihnachtsglocken draußen im Lande ließ das s Nattern des Eilzuges die wenigen Passagiere nichts hören. Aber in den Städten und Dörfern, die er durchsaufte, schienen die Fenster heute zahlreicher nnd Heller erleuchtet als sonst, und in jedem Bahnwärterhäuschen an der Strecke konnte man sich ein- bilden, den Lichterglanz eines kleinen Weihnachtsbaumes zu sehen. Zum erstenmale seit langem empfand Thomas nm diese Stunde wieder etwas wie Weihnachtsstimmung, wie er sie lange, lange nicht mehr gefühlt hatte. Und während er durch die halb aufgetauten Scheiben in das gestaltenlose, fliehende Dunkel draußen starrte, zog ihm ein altes, vergessenes Liebliugslied durch die Seele, das Brahmssche Lied auf die Worte Klaus Groths: „O müßt' ich doch den Weg zurück, Den lieben Weg ins Kinderland, Ach, warum sucht' ich doch das Glück Und ließ der Mutter Hand!" — Die Augen begannen ihm plötzlich heiß und feucht zu wer den, aber er bezlvang die aufsteigende Bewegumz gewaltsam, und es gelang ihm, einen heiteren Ton anznjchlagen, als er das Schweigen endlich mit den Worten unterbrach: „Nun hat uns einmal, der Weihnachtsmann einander zur Gesellschaft für diesen Abend beschert, liebes Fräulein — nun lassen Sie uns auch etwas Weihnachtliches tun und ein Glas zur Feier des Abends zusammen leeren! — Ich hoffe, Sie schlagen mir diese kleine Freude nicht ab!" Und da sie den zuerst vorgeschlagenen Champagner dan kend ablehnte, bestellte er Burgunderpnn sch, und es er^ab sich, daß der fürsorgliche Speisewagen-Kellner ausnahmsweise sogar frische Berliner Pfannkuchen in seiner Vorratskammer hatte. Der Punsch kam sehr bald und dampfte vorschriftsmäßig in den gehenkelten Gläsern, nicht ohne bei den Stößen des Wa gens allerhand gefährliche UeberschwaPP-Versuche zu machen. „Lassen Sie uns anstoßen," bat Thomas, „und uns etwas, sehr Schönes wünschen — also?" „Auf gute Reise und gute Erholung für Sie," sagte Anna, als die Gläser und Blicke sich trafen, „und daß Sie nächstes Jahr ein schöneres Weihnachtsfest haben möchten, als das Heu- tige —" „Noch yn schöneres?" fragte Thomas beinahe mutwillig. „Nun, dann wünsche ich — nein, ich will nicht zu unbescheiden sein. Aber wenigstens auf ein Wiedersehen auf dem „Fest land" lassen Sie uns noch einmal anstoßeu, das heißt — wenn Sie wollen, natürlich!" „Aber gern!" erwiderte sie ohne Ziererei, und es mußte Wohl das blutrote, heiße Getränk sein, das ihr Gesicht in diesem Augenblick höher färbte, ebenso wie die Punschgeister bei ihrem Gegegenüber ganz plötzlich eine gesteigerte Lebhaftigkeit der Unterhaltung hervorgerufen zu haben schienen . . . Kurz ehe der Zng um halb elf Uhr in die Riesenhalle des Frankfurter Zentralbahnhofs einlief, hatte Thomas Meren berg sich von seiner Fahrtgenossin die Erlaubnis ausgewirkt, sich am andern Mittag am Wohnort ihrer Angehörigen persön lich erkundigen zu dürfen, wie ihr die gemeinsame Weihnachts- reije bekommen sei, und die Verabschiedung in Gegenwart des abholenden Bruders, eines lang aufgeschossenen Sekundaners, trug von beiden Seiten einen sehr hei-zlichen Charakter. Gegen Abend des ersten Feiertags ging bei Herrn Herrmann Grobeck, Mitinhaber der Velvetfabrik Merenberg u Grobeck in Berlin, Bayreutherstraße 88, die folgende De pesche ein: „Bleibe vorläufig unbestimmte Zeit Frankfurt, Adresse Frankfurter Hof. Brief bald. Thomas." „Nanu?!" staunte der Herr des Hauses, der gerade seinem Aeltesten das neue Markenalbum einrichten half, und reichte das Telegramm mit anzüglicher Miene seiner Frau über den Tisch. Diese las es zweimal aufmerksam durch, gab es dann zu rück und sagte in sehr bestimmtem Ton: „Hermann, mir schwant etwas." — „„Ach Lotte, wenn Dir schon was schwant! Du mit Deinen: ewigen Optimismus! Der gute Thomas ist nun mal ein lediger Junggeselle —" „Braucht's aber nicht ewig zu bleiben! Und uns Du denkst, das ist nicht, dafür kenn' ich ibn, denn ich bin seine Schwester." „Na, weißte," bemerkte Herr Grobeck gedehnt nnd verzog ketzerisch Len Mund. Doch blieb es völlig Lahiri gestellt, welchen Gedanken er verfolgte, La ein ganz plötzlich ausbrechender Kriegslärm im anstoßenden Kinderzimmer eine gemeinsame elterliche Intervention auf das dringendste zu erfordern schien.