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Allgemeiner Anzeiger : 22.12.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-12-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190612224
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- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19061222
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- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19061222
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-12
- Tag 1906-12-22
-
Monat
1906-12
-
Jahr
1906
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 22.12.1906
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Pormlcbe Kunckscbau Deutschland. Das Kaiserpaar begab sich von Kiel, wo der Stapellauf des neuen Linienschiffes „Schleswig-Holstein" stattfand, nach Plön, um dort an der Geburtstagsfeier des Prinzen Joachim, des jüngsten Sohnes des Kaiser- paares, teilzunehmen. Von Plön aus begab sich das Kaiserpaar nach Potsdam zurück. * Der Herzog von Cumberland erklärt in seinem Antwortschreiben an die b r a u n s ch w e i g i s ch e R e g i e r u n g, daß er den Verzicht auf Hannover nicht aussprechen könne und daher der Regierung anheimstelle, die Rechtsfrage der Entscheidung des Reichsgerichts als Schiedsgericht zu unter breiten. *Das Preuß. S t a ats mini steriu m in am Montag unter dem Vorsitz seines Präsi denten, des Fürsten v. Bülow, zu einer Sitzung zusammengetreten. *Da die Neuwahlen zum Reichs tag bereits auf den 25. Januar 1907, den frühesten Termin, der für ihre Anberaumung möglich war, festgesetzt sind, so hat in allen deutschen Gauen bereits eine lebhafte Wahl bewegung eingesetzt. Wie verlautet, wird ein Zusammenschluß aller liberalen Parteien angestrebt. * Zum Beginn des B ah nb au e sKub ub- Kcetmanshoop sollen von der Regierung bereits die nötigen Anweisungen erteilt worden sein. Die Vorlage ist bisher erst in der Kom mission genehmigt. * Die Einfuhr lebender Schweine aus Dänemark, Schweden und Norwegen wird vom 20. Dezember ab vom preußischen Landwirtschaftsminister v. Arnim auf Grund des Viehseuchengesetzes ver boten, weil insbesondere der Rotlauf, die Schweineseuche und die Schweinepest in den ge nannten Ländern in einem für den inländischen Viehbestand bedrohlichen Umfange Henschen. * Der rheinischeStädtebund richtete eine Eingabe an die Staatsregierung, die Zollsätze für eingeführtes geschlachtetes Vieh zu ermäßigen und die Grenzen für lebendes Vieh unter Beobachtung der nötigen Vorsichtsmaßregeln zu öffnen. In der Tagung waren 60 Städte vertreten. ,*Die oldenburgische Regierung erklärte im Landtage, für Öffnung der Grenzen im Bundesrat nicht eintreten zu können. * Angesichts der gegenwärtigen Teuerung sind die anhaltischen Landesbehörden im Auftrage des Herzogs angewiesen worden, bei Besuchen des Herzogs von Anhalt innerhalb des Landesgebiets keinerlei Aufwendungen aus öffentlichen bezw. Gemeindemitteln mehr zuzu lassen. * Die Lübecker Bürgerschaft lehnte den Antrag der Freisinnigen aus Zahlung von Anwesenheitsgeldern an Abgeord nete ab. Osterreich-Ungarn. *Der österreichische Justiz mi ni st er legte im Abgeordneten Hause einen Gesetzentwurf zur Durchführung der Generalakte der internationalen Konferenz von Algeciras vor. — Der Handels mini st e r übermittelte den Text des Überein kommens zwischen dem Handelsministerium und der Kriegsverwaltung betreffend Aufteilung der gewerblichen Liefenmgen unter die beiden Reichs hälften. * Die Wahlreformkommission des österreichischen Herrenhauses betonte aus drücklich, daß die Wahlreformvorlage in der vom Abgeordnetenhause gebilligten Fassung für das Herrenhaus völlig unannehmbar sei. Die Regierung ist also mit ihren vielfachen Vermittelungsversuchen abgewiesen worden. * Das österreichische Eisenbah n Mini ster i u m hat sich entschlossen, zur Milderung der herrschenden F l e i s ch t eu eru n g eine Reihe von Notstanvsbegüustigungen auf staat lichen Hauptbahnlinien eiuzuführen. Zunächst wird für Transporte von Hornvieh, das zur Schlachtung bestimmt ist, nach Wien, Prag, Lemberg, Graz, Triest und einer Anzahl andrer größerer Plätze eine fünfzigprozentige Ermäßigung der Taxen der normalen Lokaltarife gewährt werden. *Die österreichischen Postbeamten be schlossen, am 21. d. in den p a s siv en Wid er- stand einzutreten, falls ihre Gehaltsforderungen nicht bewilligt werden. Frankreich. *Die weitere Durchführung des Tren nungsgesetzes verläuft nicht ohne auf regende Zwischenfälle. So kam es beim Aus züge des Bischofs von Angers aus seinem Palais zu heftigen Tumulten, bei denen mehrere Personen verwundet wurden. — Als in Paris der Erzbischof Kardinal Richard sein Palais verließ, geleitete ihn eine hundertköpfige Menschenmenge unter Sympathie kundgebungen. Der großartige Zug nach der neuen Wohnung des Erzbischofs verlief ohne Zwischenfall. * Die konservativenParteien sind entschlossen, an den Verhandlungen über die neue Vorlage zum Trennungsgesetz überhaupt nicht teilzunehmen. Sie ließen diesen Entschluß bereits der Regierung bekannt machen. *Die Deputiert enkammer nahm mehrere Anträge an, wonach die Soldaten des Jahrganges 1903, welche Landwirtschaft treibenden Familien angehören, in die Heimat entlasten werden sollen. Sodann wurde das gesamte Budget, welches einen Einnahme- Überschuß von 37 484 Frank enthält, mit 446 gegen 91 Stimmen angenommen. England. *Jm Unterhause wurde die Regierung wegen der deutsch-südwe st afrikani schen Grenzverletzungen befragt. Unterstaatssekretär Runciman erklärte, es sei von feiten der deutschen Negierung keiner dieser Fälle als Zeichen einer unfreundlichen Ge sinnung behandelt worden. Rustland. * Das Feldkriegsgericht zu Peters burg verurteilte die beiden des Attentats auf den Admiral Dubassow angeklagten Personen zum Tode durch den Strang; die Hinrichtung wurde sofort vollzogen. * Im Moskau wurde eine große Waffen- und Pulverfabrik entdeckt, die der revo lutionären Partei gehörte. Infolgedessen wurden 30 Mitglieder der Partei verhaftet. Balkanstaaten. *Die Mannschaften der Kriegs schiffe, unterstützt von mehreren hundert Soldaten, veranstalteten in Konstanti- nopel ernste Kundgebungen vor dem Marineministerium, um gegen die Zurückhaltung der Mannschaften über die gesetzliche Dienstzeit zu protestieren. Die Meuterer mißhandelten den Vize-Admiral Achmet, sowie mehrere Offiziere, die sie beruhigen wollten. Die Regierungs gebäude wurden beschädigt. Schließlich gelang es, die Kundgebungen der 500 Matrosen da durch zu beenden, daß man für die nächste Woche ihre Entlassung versprach. *Die griechische Regierung unter breitete der Kammer einen Gesetzentwurf, der den Offizieren des stehenden Heeres gestattet, mit ihrem derzeitigen Range in die kretische Gendarmerie oder Bürger wehr einzutreten, nachdem sie auf ihr Ansuchen durch königlichen Erlaß aus den Listen des griechischen Heeres gestrichen sind. * In der montenegrinischen Skupschtina haben 40 Slbgeordnete den Antrag eingebracht, daß Danilowgrad an Stelle von Cetinje zur Hauptstadt von Monte negro erklärt werden soll, da Cetinje nicht die notwendigen Vorbedingungen, um Hauptstadt zu bleiben, namentlich nicht genügenden Flächen raum zur Weiterentwickelung besitze und an Wassermangel leide. Der Antrag, dessen Durch führung die Aufnahme einer Anleihe von mehreren Millionen erforderlich machen würde,, soll bald auf die Tagesordnung gesetzt werden. Amcrtta. * Die brasilianische Kammer nahm einen Gesetzentwurf an, wodurch die Verfügung vom 6. Januar 1904, daS die Vorrechte der landwirtschaftlichen Bevölkerung, namentlich in- betreff der Löhne, einschränkt, aufgehoben wird. Afrika. * Die marokkanischen Regie rungstruppen sind in der Nähe von Tanger angelangt, wo sie von Raisuli und seinen bewaffneten Scharen erwartet werden. Raisuli hat dem Führer der Regierungstruppen, dem marokkanischen Kriegsminister, angeblich drei Tage Zeit gelassen, um sich zu überlegen, ob sie gemeinsam gegen die Fremden kämpfen und die Abfahrt der fremden Kriegsschiffe erzwingen wollen, oder aber ob sie sich gegenseitig befehden wollen. * Eine portugiesischeExpedition, die sich gegen den Häuptling Machenda (Ost afrika) wandte, wurde völlig aufgerieben und mußte die Flucht ergreifen. Die Leute Machembas durchziehen mordend und plündernd das Land. Infolge dieses Zwischenfalls ist das deutsch-ostafrikanische Gebiet — an dessen Grenze sich der Vorfall abspielte — ernstlich gefährdet. Asten. * Der Kaiser von China beschloß, sich in einer eigenhändigen Note an den Mikado zu wenden, um endgültigen Aufschluß über die AbsichtenJapans in der Mandschurei zu erhalten. Tur L,age in Ongarn veröffentlicht die Joss. Ztg.' eine Zuschrift aus Budapest, die sich scharf gegen die Lostrenuung von Österreich wendet. Sie lautet im wesentlichen: Nur dann kann in einem Lande von ge- gesunden Verhältnissen gesprochen werden, wenn die Regierung und die Volksvertretung die waltenden politischen Kräfte getreu ausdrücken, wenn sich kein Widerspruch auftut zwischen dem Schein der Macht und den sie überschattenden stärkeren Tatsachen. In Ungarn besteht augen blicklich ein Ministerium, das fünf Sechstel der Volksvertretung auf seiner Seite zu haben scheint und nur in den wenig zahlreichen Ver tretern der unzufriedenen slawischen und roma nischen Nattonalitäten ihre Gegner findet. Dieses Ministerium kanr zur Regierung, als nach dem Walten des halbabsolutistischen Regimentes des Frhrn. v. Fejervary am 8. April 1906 zwischen der Krone und der parlamentarischen Koalition der Friede geschloffen worden war. Der gewaltigen Mehrheit im Parlament, den großen Worten, die nicht sowohl aus dem Munde des Ministerpräsidenten Wekerle als in unermüdlichem Redeschwalle aus dem des Handelsministers Franz Kossuth zu fließen pflegen, entspricht aber jedoch nicht im ent ferntesten die tatsächliche Macht. Den besten Beweis liefert ein Vorgang, der außerhalb Ungarns nur wenig Beachtung ge funden hat. In dem Pakte vom 8. April 1906 war ausgemacht worden, daß weder die Mit glieder des Kabinetts Fejervary noch die des früheren Ministeriums Tisza unter Anklage ge setzt werden sollen. Die siegreiche Koalition aber lechzte nach einer Genugtuung wegen der Nicht berufung des Parlamentes und wegen de» Ein griffe in die dem Ministerium Fejervary feind selige Komitatsverwallung. Der Budgetaus schuß faßte sonach den Beschluß, von der An klage gegen Fejervary und seine Kollegen sei wohl abzusehen, man stellte jedoch ein vollstän diges Sündenregister der vorigen Regierung zu sammen und einigte sich dahin, diese lange und heftige staatsrechtliche Abhandlung zur „Brand markung" des Kabinetts Fejervary in allen Ge meinden des Landes anschlagen zu lassen. Die Regierung erklärte, sie habe gegen eine „Brand markung" Fejervarys nichts einzuwenden. Der Beschluß wurde also gefaßt und sollte vor das Abgeordnetenhaus kommen. Da nahm aber der alte General Frhr. v. Fejervary in der Ofner Burg Audienz bei Kaiser Franz Joseph, erklärte ihm sowie hieraus den Mitgliedern der Regierung, daß er im Falle des Versuches, seine Ehre anzutasten, im Oberhause auftreten und die näheren Umstände auseinandersetzett werde, unter denen er die Regierung des Landes der parlamentarischen Mehrheit übertragen habe; es werde sich daraus ergeben, daß die Herren dankbar gewesen seien, daß er ihnen Platz machte, und daß sie durch die ge troffenen Abmachungen wie durch die ganze Schwäche ihrer Position zur Zurückhaltung ge nötigt seien. Der Kaiser und König, der von Anfang an über den Feldzug gegen den ihm treu ergebenen Fejervary ungehalten war, trat seinem früheren Ministerpräsidenten bei und der Brandmarkungsbeschluß ist bisher platt zu Boden gefallen. Zuerst hieß es, die Regierung werde auf seine Abschwächung hinwirken, dann ließ man ihn sanft in Vergessenheit geraten, und wenn nicht besondere Ereignisse eintreten, wird er nicht wieder ausgefrischt werden. Das ungarische Volk und seine Führer waren seit jeher stark und unüberwindlich in der Verteidigung ihrer nationalen Rechte, wie in der Abwehr der Eingriffe der Wiener Zentral regierung in die innere Verwaltung des Landes. Darin liegt der Ruhm der parlamentarischen Geschichte Ungarns, die wie die Englands nach Jahrhunderten zählt. So oft aber über die Verteidigung der Volksrechte hinausgegangen und die Abschüttelung der königlichen Gewalt versucht wurde, war die Niederlage voll ständig." Beschränkt sich das ungarische Volk auf die Verteidigung seiner Machtstellung, so wird es unüberwindlich sein, wie bisher. Wenn es sich aber von seinen Führern zu einer völligen Zer reißung des Verhältnisses zu Österreich ver leiten läßt, so wird es in dem gesamten, durch einen solchen Gewaltakt bedrohten Europa und vor allem in dem noch immer starken Königtum einen unbesiegbaren Widerstand finden. Von unä ^n. Schweres Brandunglürk in Berlin. Eine schwere Brandkatastrophe, der vier Frauen zum Opfer fielen, hat sich in der Reinicken dorfer Straße zu Berlin abgespielt. Die 77 jährige Witwe Pauline Babö, geborene du Prö, war in ihrer im ersten Stock werk des Quergebäudes belegenen Wob- nung halbverkohlt als Leiche aufgefunden worden. Beim Offnen der Tür durch die Feuer wehr schoß eine gewaltige Stichflamme in die Höhe. Die beiden 18- und 23 jährigen Schwestern Minna und Ottilie Kordnau aus der dritten und die jungverheiratete 29 jährig« Frau Rosa Bölskow, geborene Koch aus der ersten Etage, die sämtlich auf die Korridore ge eilt . waren, wurden hierbei von Rauch und Flammen erfaßt und sofort getötet. Der Brand war durch die Explosion einer Petroleumlampe entstanden. t. Der Nummernruf in den preußischen Gefängnissen ist seit dem 1. April d. abge schafft worden. Die Gefangenen werden nicht mehr bei ihrer Rangiernummer, sondern bei ihrem Namen aufgerufen. Diese Neuerung hat sich nach übereinstimmenden Berichten nicht be währt. Hervorgegangen aus der Erwägung, dem mit Gefängnis Bestraften die Ehre seines Namens zu belasten, hat sich ergeben, daß es vielen Gefangenen peinlich ist, vor den Mik- gefangenen ihren Namen offenbart zu sehen. Dies trifft namentlich bei den Gefangenen zu, die vordem in der „Gesellschaft" eine Rolle spielten oder wegen eines geringfügigen Ver gehens sich hinter die schützenden Gefängnis- mauern zurückziehen mußten. Es heißt daher, daßderNummernaufruf inden preußischen Gefäng nissen wieder eingesührt werden wird. In den Zuchthäusern werden die Sträflinge nach wie vor bei ihrer Kleidernummer aufgerufen. Die abgehackte Hand. Nach der ,Frkf. Ztg/ legte der Breslauer Magistrat wegen der Bedeutung des Rechtsstreites sür alle Städte Preußens Berufung ein gegen das Urteil der fünften Zivilkammer, das den Klageanspruch des Arbeiters Biewald wegen seiner abgehackten Hand auf Grund des Tumultgesetzes als be rechtigt anerkannte, will aber, unabhängig vom Ausgang des Prozesses, die Zukunft Biewalds auf jeden Fall durch Angebot einer Stellung im städtischen Dienst sicherstellen auf Grund des meiuchlichen Mitgefühls mit dem Opfer des Breslauer Krawalls. O Der Meg ?um Zerren. 10! Novelle von F. Stöckert. (Fortsetzung.» Die Frau Kommerzienrättn saß müde und apathisch gegen alles, was um sie vorging, in ihrem Lehnstuhl am Ofen. Der Doktor, der soeben das Zimmer verlassen, hatte bedenklich das Haupt geschüttelt und Melitta so recht mit leidsvoll angesehen. Diese saß am Fenster und nähte eifrig mit den roten, vor Kälte zitternden Fingern, während die Gedanken rastlos durch ihr Hirn jagten. Es galt, wieder Geld herbei zuschaffen, heute noch; das Feuerungsmaterial war zu Ende, die Arbeit konnte sie bei allem Fleiß bis zum Abend nicht vollenden; das kurze Licht des Dezembertages begann schon langsam zu schwinden. Melitta mußte die Arbeit zusammenlegen. Auf der Straße und in den Läden wurde das GaS angezündet, Melitta aber warf keinen Blick hinaus, ihre Augen ruhten unsäglich kummervoll auf ihren beiden Haarzöpfen. „Es bleibt mir nichts weiter übrig," flüsterte sie, die arme Mama würde es kaum bemerken, und ich habe dann die Mühe nicht mehr, das Haar zu kämmen." Sie trat vor den Spiegel und ver suchte, die Zöpfe am Hinterkopf fest anzudrücken. „Es sieht nicht so schlecht aus," sagte sie dann mir einem leisen Seufzer, ihr Bild ohne den Haarschmuck bettachtend. Eine Geschichte fiel ihr ein von einem Mönch, der sich beide Augen ausgestochen, der sündigen Liebe zu entfliehen. Das war doch noch viel fürchterlicher. Sie wollte ja nur ihre Zöpfe opfern für ihr armes, krankes Mütterchen, es würde nicht einmal schmerzhaft sein, und konnte denn doch der Mama heute zum heftigen Abend noch eine kleine Freude bereiten. Sie wollte eine Flasche stärkenden Wein kaufen und auch eine Weihnachtsstolle, vielleicht auch einen ganz kleinen Christbaum mit einigen Lichtern. Ihre Blicke flogen hinüber zu der Mutter, sie sah heute so erschreckend bleich aus. „Es ist so kalt," sagte sie jetzt mit matter Stimme, „willst du nicht das Feuer etwas an fachen, Melitta?" Melitta lief nach der Küche hinaus und suchte die wenigen Stücke Holz und Kohlen zu sammen, und dann spielten wieder die roten, zitternden Lichter auf den weißen, schönen Händen der Blutter, die so leblos auf ihrem Schoße ruhten. Melitta faßte zärtlich eine dieser kalten Hände: „Wünschest du noch irgend etwas, Mamachen?" fragte sie, „ich muß noch aus gehen." „Nein, es ist ja nun warm, aber bleib nicht so lange, Kind, mir ist so bang, so unsäglich bang heute abend." „Nur ein halbes Stündchen, dann bin ich wieder bei dir," tröstete Melitta und rüstete sich zu dem schweren Gang; noch einen flüchtigen Kuß drückte sie auf die Lippen der Mutter und eilte dann zur Tür hinaus. Als sich dieselbe hinter ihr geschlossen, flog es wie heiße Angst über das blasse eingefallene Antlitz der Kranken, sie rief mit matter Stimme den Namen ihres Kindes, und streckte die Arme hilfeflehend aus. Melitta war jedoch schon die Treppe herunter geflogen, sie hörte den Ruf nicht mehr und nicht! den wimmernden Schrei, mit welchem sie wieder in die Kissen zurücksank. Melitta eilte durch mehrere Straßen und trat dann zögernd in einen hell erleuchteten Friseurladen. „Sie wollenJhreZöpfe verkaufen?" sragte erstaunt der junge, elegante Besitzer des Geschäfts, als Melitta ihr Anliegen vorgebracht. Dann prüfte er mit Kennerblicken die ihm ange- Lotene Ware. „Sechzig Mark sind sie wert," sagte er, „und da heute Heiligabend ist und Sie gewiß das Geld sehr nötig brauchen, will ich noch fünfzehn Mark zulegen." Melitta nickte zustimmend mit dem Kopf lind bat dann mit einer wirklich heldenhaften Miene, ihr das Haar recht schnell abzuschneiden, sie müsse eilen wieder nach Hause zu kommen zu ihrer kranken Mutter. „Welch langes, schönes Haar," sagte der Friseur bewundernd, „ich werde es Ihnen auch nicht zu sehr verkürzen, ein Lockenköpfchen sollen Sie noch behalten." Und dann ein Schnitt, ein Ruck, ein leiser, unterdrückter Schrei Melittas, und neben ihr auf dem Tisch, losgettennt sür immer von dem lieblichen Köpfchen, lagen die schönen, schweren Zöpfe, um vielleicht in kurzer Zeit das Haupt einer alten verblühten Schönen zu schmücken, die dann jedenfalls noch die Kühn heit hatte, sie für eigenes, auf ihrem Kopf ge wachsenes Haar zu erklären. Seufzend wandte Melitta ihr Antlitz hinweg und nahm das Geld in Empfang. Dann eilte sie wieder hinaus auf die Straße, ihre Ein käufe zu besorgen. Noch nicht eine halbe Stunde war vergangen, als sie, beladen mit einer Flasche Wein, einer Weihnachtsstolle und dem Chriall bäumchen wieder ihre Wohnung erreichte. Ubersl- waren schon die Kerzen an den Christbäumen angezündet, auch aus der Tür ihrer Zimmer nachbarn, einer mit einer reichen Kinderschar gesegneten Handwerkerfamilie, drang Heller Lichterglanz und lauter Kinderjubel. Nur in ihrem Stübchen war es noch dunkel, o, und so still. c Auf Melittas freundliches „Guten Abend, Mamachen," ward ihr keine Antwort, sie glaubte dieselbe eingeschlafen und zündete geräuschlos Licht an. Sie wollte das Bäumchen schnell zurecht machen, ihre Einkäufe und eine kleine Arbeit, die sie für ihre Mutter gemacht, dar unter legen, damit sie, wenn sie erwache, doch eine Weihnachtsfreude habe. , Als sie damit fertig war, blickte sie stolz und glücklich auf ihre Mutter, ob dieselbe noch nicht erwacht sei; diese aber lag noch immer starr und regungslos. Melitta trat jetzt zu ihr heran, sie faßte ihre Hände, sie waren todeskalt. „Mama, liebe, gute Mama!" rief sie in Tönen voll namenloser Angst, es blieb unheim lich still im Zimmer. Leise strich sie mit der Hand über das blasse Antlitz und brach dann mit einem lauten Wehruf zusammen. Die Mutter war gestorben, ein kaltes Totenantlitz war es, was ihre Hand berührte. Und die Lichter des kleinen Weihnachtsbaumes, sie brannten lustig weiter, und durch die dünne Wand, die das Zimmer von der Handwerker- familie trennte, da tönte der laute Jubel der Kinder, untermischt mit den ohrenzerreibenden Klängen einiger Trompeten und Trommeln.
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