Suche löschen...
Allgemeiner Anzeiger : 30.06.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-06-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- Stadtbibliothek Bautzen
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id181900449X-190606303
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id181900449X-19060630
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-181900449X-19060630
- Sammlungen
- Zeitungen
- LDP: Bestände der Stadtbibliothek Bautzen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Allgemeiner Anzeiger
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-06
- Tag 1906-06-30
-
Monat
1906-06
-
Jahr
1906
- Titel
- Allgemeiner Anzeiger : 30.06.1906
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Politische Kunälckau. Deutschland. * Kaiser Wilhelm sandte der Werft in Wilhelmshaven aus Anlaß ihres fünfzigjährigen Bestehens ein Glückwunschtelegramm. *Der Kaiser lud Alice Longworth, die Tochter des Präsidenten Roosevelt, und ihren Gemahl, die zur Teilnahme an der Kaiser- Regatta in Kiel wellen, zum Fünf-Uhr-Tee an Bord der Segeljacht „Meteor" und abends zum Tanz in der Billa des Prinzen Adalbert. *Die handelspolitischen Bezie hungen zwischen Deutschland und Spanien werden am 1. Juli eine Änderung erfahren. Es ist zweifelhaft, ob die zurzeit schwebenden Verhandlungen, die ein Provisorium zwischen beiden Staaten schaffen sollen, zu einem Resultat führen. Wenn dies nicht erreicht wer den sollte, wird Spanien seinen erhöhten Zoll-, Deutschland seinen Generaltarif in Kraft setzen. Dieses Ergebnis würde aber nicht hindern, daß die Bemühungen, ein Provisorium zu schaffen, fortgesetzt werden. * Für den Herbst wird eine neueFlotten- vorlage angekündigt. *-Aus Anlaß des gegen zwei Kolonial beamte eingeleiteten Strafverfahrens haben nach der ,F. P/ in den Räumen der Kolomalabteilung Durchsuchungen statt gefunden. Ebenso sind in den Privatwohnungen verschiedener Beamten polizeiliche Haussuchungen abgehalten worden. * Die deutschen Truppen in Ostafrika haben den Aufständischen in einem Ge fecht am 11. d. große Verluste beigebracht und sie gänzlich zersprengt. Osterreich-Ungarn. *Bei seiner Abreise aus Böhmen forderte Kaiser Franz Joseph die Deutschen und Tschechen dringend zu nationaler Ver ständigung auf. „Die Ausgleichung der naüonalen Gegensätze," sagte der Monarch, „würde nicht nur dem Königreich Böhmen die fernere Blüte sichern, sie würde auch dem ganzen Staat erhöhte Kraft verleihen, und um so mehr in einem Augenblicke, in welchem das öffentliche Leben durch den auf neuer politischer Rechts grundlage zu vollziehenden Zusammenschluß aller Elemente eine innere Festigung erhalten soll. Eine solche Verständigung würde aber auch den schwerwiegenden ökonomischen Interessen einen festen Halt gewähren und so die Völker be fähigen, mit größerer Zuversicht der Zukunft entgegenzusehen." * Die Drohung mit dem General st reik zur Abwehr politischer Verwaltung, bei der die österreichische Sozialdemokratie es bisher hat be wenden lassen, scheint inUngarn schneller zur Tat reifen zu wollen. Die gegenwärtige Regie rung des Herrn Wekerle geht gegen die Organi sationen der Landarbeiter mit großer Schärfe vor, um die Gutsbesitzer vor den Gefahren eines Ausstandes gerade in der herannahenden Ernte zeit zu bewahren. Aus diesem Anlaß ist plötz lich ein örtlicher Konflikt entstanden, den aber die Arbeiterpartei zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Ministerium machen will. In Debreczin wurde der Arbeiterpartei vom Bürgermeister die Ab haltung einer Streikversammlung ver boten und der Minister des Innern be stätigte auf eine Beschwerde hin das Verbot. Nunmehr drohen die Arbeiterführer den General streik für ganz Ungarn eintreten zu lassen, wenn die ministerielle Verfügung nicht geändert werde. Frankreich. * Der Dreyfusprozeß-Verhand lung in Paris am Montag wohnten zahlreiche Zuhörer bei, unter ihnen Frau Dreyfus, Mathieu Dreyfus (der Bruder des Haupt mann Dreyfus), Oberst Picquart und Frau Zola. England. *Der Erzbischof von Canterbury hat an die Vertreter der deutschen Presse, die zurzeit in England weilen, ein Schreiben gerichtet, worin er sagt, jeder Schritt, der zur Förderung des Einvernehmens zwischen England und Deutschland gemacht werde, sei seiner Unterstützung sicher. Schweiz. *Da Deutschland der Schweiz in dem deutsch-schweizerischen Handels verträge für den Fall ihres Beitritts zur BrüsselerZuckerkonventionvon 1902 eine Zollermäßigung von 10 Mk. für den Doppelzentner für Zuckerwaren und Schokoladen zugestanden hat, beantragt der Bundesrat den Beitritt der Schweiz zur Konvention zum 1. September d. Italien. *Der Polizeidirektor von Ancona wurde von der Regierung zu seiner wirksamen Jagd auf Anarchisten, die den Besuch des Königs in Ancona zu einem Attentat benutzen wollten, von dem Direktor aber sämtlich hinter Schloß und Riegel gebracht wurden, beglückwünscht. Die Bomben, die in dem hart an der Bahn ge legenen Castel Ferretti entdeckt wurden, sind den vor einiger Zeit in Ancona gefundenen nicht gleich, sie hätten aber genügt, das Bahngleis zu sprengen, wenn es den Attentätern gelungen wäre, sie zu legen. Die Bevölkerung von Ancona zeigte sich, als sie von diesem neuen Anschlag erfuhr, überaus erbittert. Spanien. * Der Mini st errat bevollmächtigte den Finanzminister, Schatzobligationen in Höhe von 200 Millionen Pesetas auszugeben, um die Schuldverschreibungen der schwebenden über seeischen Schuld zurückzuziehen, die sich gegenwärtig bei der Bank von Spanien be finden. Rustland. * Eine ganze Sitzung der Duma wurde mit sehr lebhaften Erörterungen über die Hilfs- tätigkett für die notleidenden russischen Gouvernements ausgefüllt. Der Minister des Innern Stolypin suchte die seitherigen Maßnahmen der Negierung zu rechtfertigen, während die Redner der Opposition behaupteten, daß der größte Teil der angeblich für die hungernde Bevölkerung aufgewendeten Gelder in die Taschen von unehrlichen Beamten geflossen. Aladjin, der die Regierung in überaus hefüger Weise angriff, schloß seine Ausführungen unter dröhnendem Beifall des ganzen Hauses mit den Worten: „Wenn die Minister noch einen Funken Ehrgefühl im Leibe hätten, müßten sie längst ihren Abschied genommen haben." (Die Herren aber lächelten nur, wie gewöhnlich, und ver ließen geschlossen den Sitzungssaal!!) *Daß es einzelnen Mitgliedern der Re gierung nicht an gutem Willen fehlt, den traurigen Zuständen im Lande nach Möglichkeit Einhalt zu tun, beweist ejn Erlaß des Justiz- mi nisters an die Staatsanwälte, worin diesen zur Pflicht gemacht wird, gemäß Artikel 10 des Kriminalstrafgesetzes darauf zu achten, daß niemand ohne Anordnung der dazu be vollmächtigten Behörden und Amtspersonen in Haft gehalten und daß jeder, der unrechtmäßig seiner Freiheit beraubt worden ist, unverzüglich aus der Haft entlassen werde. Inwieweit freilich die Verwaltung diesen Befehl des Justizministers respektieren wird, ist eine andre Sache. Balkanstaaten. *Die serbischen Neuwahlen fielen zu ungunsten der gegen Österreich feindlich ge sinnten unabhängigen Radikalen aus; das Kabinett Pasitsch bleibt im Amte. Das Kabinett muß sich nun bemühen, die Beziehungen zu Österreich baldmöglichst zu bessern und einen Handelsvertrag zustande zu bringen; denn mit Hilfe dieser beiden Programmpunkte kam in der neugewählten Kammer die Regierungs mehrheit zustande. Amerika. * Das Repräsentantenhaus in Washington hat das Nahrungs mittelgesetz mit 240 gegen 117 Stimmen angenommen. Asten. * Zur FinanzlageJapans wird von amtlicher Seite erklärt, daß das Budget keinen Fehlbettag ergeben werde. *Der Vizekönig von Tschili, Juan schikai, wird wahrscheinlich zum chinesischen Generalgouverneur der Mandschurei er nannt werden. Der Naiserbesuch in Norwegen. Der zum 8. Juli angekündigte Besuch des deutschen Kaisers beim Könige Haakon von Norwegen in Drontheim wird mannigfache Be sprechungen im Auslande Hervorrufen, zumal derselbe in gewisser Hinsicht aus dem sonst strenge innegehaltenen Rahmen der höfischen Etikette herausfällt. Sonst ist es üblich, daß Monarchen nach ihrer Thronbesteigung oder Krönung bei befreundeten Höfen zuerst ihre Antrittsbesuche machen und erst nachher Gegen besuchs empfangen. Wenn die impulsive Natur des deutschen Kaisers hierin jetzt eine Änderung beliebt, so braucht man dafür nicht nach tief liegenden politischen Gründen zu suchen. Der Kaiser befindet sich um die angegebene Zeit auf seiner Nordlandsreise, die er zu seiner Erholung fast alljährlich in der heißen Jahreszeit unter nimmt, in den Gewässern von Drontheim, und er benutzt diese Gelegenheit, um nicht nur einen privaten, sondern einen offiziellen Besuch am norwegischen Hofe zu machen. In Dänemark wie in England, deren Königsfamilien beide ver wandtschaftlich gleich nahe der norwegischen stehen, wird diese Aufmerksamkeit gewiß wohl tuend empfunden werden. Auch in Stockholm wird man dieselbe nicht falsch auffassen und mißdeuten können. Der Kaiser hat ja aus Zartgefühl gegen Schweden im vorigen Sommer, als die Losreißung Norwegens von Schweden stattfand, auf seine gewohnte Nordlandsreise verzichtet. Das ist damals als eine Unfreund lichkeit gegen Norwegen empfunden worden. Nachdem nunmehr der damalige illegitime Zu stand in Christiania durch einen legitimen ersetzt worden ist, hat der Kaiser vermuttich das Be dürfnis gefühlt, durch eine besondere Aufmerk samkeit zu zeigen, daß diese seine vorjährige Haltung nicht diese Deutung verdient, sondern dtrß sie der Ausfluß der neutralen Haltung Deutschlands in diesem Völkerstteite war. König Oskar von Schweden ist auch durch seine Krank heit augenblicklich verhindert, schwierigere Repräsentationspflichten zu erfüllen. Das freund schaftliche Verhältnis Deutschlands zu Schweden ist ja erst in dem neulich abgeschlossenen Handels vertrags zwischen beiden Ländern bekräftigt worden. Mißtrauisch wird man höchstens die neue deutsche Kaiserfahrt nach Norden in Peters burg betrachten, wo man Ausdehnungsgelüste nach Norden hin zu haben scheint, dieselben durch die militärischen Manöver bei den Alands- inseln maskiert und dadurch das Mißtrauen der Skandinavier weckt. Indessen braucht uns die allgemeine Ansicht nicht zu beunruhigen. Die Fahrt nach Drontheim, nach Germamens uralter Stadt, wird auch, ohne politischen Hintergrund zu haben, zur Zusammenschließung der Völker germanischen Stammes beitragen — und damit gut. — Von stak unä fern. Durch den Altenbekener Tunnel ist wieder der erste Eisenbahnzug nach elfmonatiger Sperrung, ein sogen. Revisionszug, durchgefahren; die Kasseler Eisenbahndirektion macht bekannt, daß die völlige Wiederinbetriebsetzung am 1. Juli morgens erfolgt. Schwere Gewitter in Siiddeutschland. über dem Rothenburger Bezirk, insbesondere über die Orte Tauberzell (in der Nähe von Würzburg) und Tauberscheckenbach und Thüngers heim ist ein Wölkenbruch niedergegangen. Die Waffermaffen richteten schwere Verwüstungen in den Wiesen, Feldern und Weinbergen an. Die Feldfrüchte wurden mit dem Erdreich fort geschwemmt, Häuser und Scheunen zerstört. Die Gebiete der Loisach und der oberen Isar, Gar misch, Partenkirchen und Mittenwald sind über schwemmt. München ist noch hochwafferfrei. In Franken sind vielfach Blitzschäden, auch Be täubungen und Todesfälle vorgekommen. Der durch de» Bergrutsch bei Mühl heim angerichtete Schaden ist von der Ministerialkommission, die übrigens aus acht Vertretern sämtlicher Ministerien bestand, auf rund 160 000 Mk. geschätzt worden, wovon der Staat, die Provinz, der Kreis und die Ge schädigten je ein Viertel tragen sollen. Professor Dr. Beyschlag von der geologischen Landes- anstält veranstaltet Untersuchungen über den Untergrund des Berges, um Quellen daraus abzuleiten. Ein S5jähriger. In Lauban starb Prälat Anter, Erzpriester und fürstbischöflicher Kom- missarius, 95 Jahre alt. Bei seinem 60jährigen Amtsjubiläum vor 12 Jahren hatte die Stadt Lauban den Verstorbenen zu ihrem Ehrenbürger ernannt. Zwei Menschen als Wild angeschossen. Ein Student aus Hannover machte mit der Tochter eines Bürgers aus dem benachbarten Linden einen Spaziergang nach dem Walde zwischen Devese und Glendorf. Sie setzten sich am Rande des Waldes nieder, um das mitge brachte Abendbrot zu verzehren. Plötzlich krachte ein Schuß und beide Personen stürzten schwer verletzt zu Boden. Der Jagdaufseher, der im Walde auf Rehböcke jagte, hatte die Personen für Wild gehalten und auf sie geschossen. Nach längerer Zeit, als Dorfbewohner herbeigeholt waren, gelang es, die Schwerverletzten in ein Krankenhaus zu befördern. An dem Aus kommen des Studenten wird gezweifelt; die Verletzungen des Mädchens sind schwer, doch wird es am Leben erhalten werden können. Einen gräßlichen Selbstmord beging w Bad Oynhausen ein dort zur Kur weilender Eisenbahnassistent aus Berlin, der sich vor die Maschine eines Eilgüterzuges warf, nachdem er den den Bahnkörper von der Straße abttennenden Staketenzaun überklettert hatte. Der Unglückliche wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, seine Verwandten waren Zeugen des gräßlichen Selbstmordes. Der Mann hatte aus Ver zweiflung über seinen Zustand, — er glaubte, demnächst sein Augenlicht zu verlieren, — B diesem Auswege gegriffen. Vor de» Zug geworfen. Ein Patient im Sanatorium für Nerventtanke „Hohemark' bei Homburg v. d. Höhe, namens Fritz Schön berg aus Berlin, ließ sich bei einem Spaziergang mit seiner Wärterin, ehe diese es verhindern konnte, von der Kleinbahn Oberursel—Hohemark überfahren. Schönberg war sofort tot. Verhaftete Bankräuber. Drei russische Diebe brachen vom Kellergeschoß aus in den Kassenraum der Bank Wloscianski in Posen ein, sie wurden jedoch dabei gestört, und es gelang ihnen, zu entfliehen. Die Verbrecher wurden später von der Kriminalpolizei auf dem Zentcal- bahnhof verhaftet, als sie im Begriff standen, weiterzureisen. In einem großen Heuhaufen erstickt ist der Mauer Franz Bielan in Nicolai (Schlef), der sich auf das Heu zum Schlafen gelegt hatte. Sein Kollege war infolge des Heuduftes in eine tiefe Ohnmacht gefallen, doch waren bei letzterem die Wiederbelebungsversuche von Erfolg begleitet. .j Das bisherige Besitztum des Raub mörderehepaares Schellhaas in München, dessen Begnadigung zu lebenslänglichem Zucht haus nunmehr erfolgt ist, ist dieser Tage iw Wege der öffentlichen Versteigerung verkauft worden. Es handelte sich um die in Pasing bei München gelegene Villa, die bekanntlich während der Untersuchung und der schwurgeriA- lichen Verhandlung des Mordprozesses CramM- Schellhaas insofern eine große Nolle spielte, als vermutet ivurde, daß die Leiche des verschwundenen Rentiers Cramm auf jenem Grundstück von den Tätern vergraben worden sei. Die Villa nebst Garten ist angeblich im Auftrage der Crammsche" Erben bei einer Hypothekenbelastung von 17 009 Mark einem auswärts wohnenden Rechtsanwalt zum Preise von 19 300 Mk. zugeschlagen worden. Ein ferner den Schellhaasschen Ehe leuten gehörig gewesener Baugnmd wurde von einem adligen Herrn für 4000 Mk. erworben. Im Irrsinn. Der Schuhmachermeistec Zinsinger in München erschoß seinen 14jährigen Jungen, unternahm einen Mordversuch an seiner Ehefrau und einem andren Knaben, der mißlang, und verübte hierauf Selbstmord. HL Vie Msge äerGereGtigkeit. 13! Roman von Maximilian Brytt. MorljeSung.) Hausho-'er schien nicht mehr wissen zu wollen. Er hatte sich, noch während sie sprach, erhoben und verabschiedete sich in warmem Ton. In trübem Sinnen blieb Stephanie allein, während Haushofer in Gemeinschaft mit dem Kriminalkommissarius einen neuen Lokaltermin vornahm. Zu Stephanies größter Qual klingelte eS fortgesetzt im Entree draußen durch Leute, die Gratulationen oder Kondolenzbriefe brachten — im tragischen Nebeneinander. Auch einige von den Gästen, die am Polterabend gestern teilgenommen hatten, stellten sich ein, um in Erfahrung zu bringen, wie das furchtbare Unglück entstanden und ob denn etwas Wahres an den Gerüchten über den Mordfall sei, die bereits durch die Stadt schwirrten. Stephanie ließ sich von niemand sprechen. Schließlich ordnete sie an, daß der Portier überhaupt keinen Fremden mehr ins Haus einließ. Die Erschütterungen und Aufregungen hatten fie so mürbe und schlaff gemacht, daß ihre Verwandten um ihren Zustand ernstlich besorgt wurden. Gegen Abend klagte fie über große Hitze und stechende Kopf- und Nacksnschmerzen. Tante Gusti war verwirrter und nervöser denn je; fie trug mit ihrem fortgesetzten Jammern und Klagen nicht dazu bei, die Verhältnisse zu bessern. Stephanie suchte zeitig das Bett auf. Demelius, den Benjamin rufen ließ, vermochte kein akutes Leiden sestzustellen. Aber was viel schlimmer war, er fürchtete für Stephanies Ge- mütszustand. Für Benjamin war es unter solchen Um ständen eine schwere Aufgabe, sich von Hause losreißen und an dem von den ehemaligen Uniergebenen KalwodaS besonders zahlreich be- suchten Leichenbegängnis seines Schwagers teilnebmen — ja, mit seiner Person allein die Hinterbliebene Verwandtschaft vertreten zu müssen. Seine tränenreiche Ergriffenheit bewies allen, wie innig er an Kalwoda, der ihm ein auf opferungsvoller Wohltäter gewesen war, ge hangen hatte. In den nächsten vierzehn Tagen, während deren fich Benjamin mit seiner Tante in rüh render Weise in die Pflege Stefanies teilte, rückte der Stand der Untersuchung in der dun keln Angelegenheit nicht um Haaresbreite vor wärts. Natürlich hatten fich auch die Zeitunaen in der ersten Woche des sensationellen Stoffes bemächtigt. Benjamin las jede Notiz darüber, fie mit Fräulein von Reck eifrig besprechend. Die Tatsache, daß auf den Ingenieur Struck als den mutmaßlichen Täter gefahndet wurde, hatte bis jetzt aber noch keines der Blätter ge bracht. Das Gericht betrieb die Nachforschungen nach dem Verbleib des Flüchtlings ganz im geheimen. Der Staatsanwalt war kein Freund der Presse, deren Aufgabe und Unterstützung in derlei Verfolgungssachen er sehr gering schätzte. Er sprach in intimem Kreise sogar die Anficht aus, die alarmierenden Zeitungsberichte seien viel eher geeignet, den Täter zu warnen, als zu seiner Festnahme beizntragen. Da keinerlei Notizen über die Weiterverfolgung der Angelegenheit in die Presse gelangten, so nahm man im Publikum alsbald an, die ersten Sen sationsberichts über einen Mord seien aus der Luft gegriffen gewesen. Man glaubte vielmehr der wenige Tage später anftauchenden Meldung: d?r Rentier Franz Kalwoda, der ehemalige Besitzer der bekannten Zentralbierbrauerei, habe an jenem Abend in einem plötzlichen Anfall von Schwermut selbst Hand an fich gelegt. Ja, es fanden fich sogar Leute, die kurz vor der Katastrophe eine ganz auffällige Gemütsdepresfion an ihm wahrgenommen haben wollten. Am meisten verwunderten fich Behrs und die Portiersleute, daß von feiten des Gerichts anscheinend so gar nichts geschah, um den Fall weiter zu verfolgen. Sie merkten aber wohl, daß die Sache doch noch nicht ganz nieder geschlagen war, denn die Vernehmungen durch den Kriminalkommissar Körfer und den Untersuchungsrichter Haushofer dauerten noch immer fort. Auch ESenbrecher, der inzwischen wieder nach Neu-Ruppin zurück- gereist war, wurde noch einige Male vorge laden. Nur langsam erholte fich Stephanie wieder. Demelius hielt eine Lust- und Ortsverände rung für unerläßlich. Stephanie würde durch den Aufenthalt im Hauss hier täglich von neuem an die Katastrophe erinnert werden. Er empfahl der Genesenden daher, ihren Wohnsitz für die nächsten paar Monate nach dem Süden zu verlegen. Stephanie hatte, sobald fie wieder Herres ihrer selbst geworden, in fortwährend nervöser Unruhe nach Arnold gefragt. 0° er fich freiwillig gestellt habe — ob mA seinen Aufenthaltsort in Erfahrung gebraA habe — daS waren ihre täglichen Fragen "» Benjamin. Der Bruder konnte, der Wahrheit eA sprechend, ihr nur mitteilen, daß man bis E Stunde die Spur des Flüchtlings noch nM aufgefunden hatte. Er knüpfte aber dara» stets die dringende Bitte, den quälende» Rätseln der Vergangenheit nicht länger nach^' hängen, und — den Weisungen des folgend — an die Abreife zu denken. Doktor Demelius das Mitkommen des unh^ wandten und dabei noch selbst stark nervött" Fräuleins von Reck für unzweckmäßig erklärt hatte, so erbot fich Benjamin, feine Schwest" zu bealeiten. „Ich hielte es für das beste, wir führe" nach Triest. In Abazsia oder einem andern Winterkurort — vielleicht auf einer der Insel» des Adriatischen Meeres — würdest du as> leichtesten der trüben Zeit vergessen können. Meinst du nicht auch, Stephanie?" fragte er fie eines Tages, als Demelius seine Forderung noch bestimmter wiederholt hatte. Stephanie hatte keine besonderen Wünsche w dieser Hinsicht. Höchstens, daß fie den Golf von Genua bevorzugte. Überrascht blickte Benjamin auf, Stephanie das aus sprach. „Nun. du dachtest doch so wie so darach deinen Wohnsitz dahin zu verlegen. Wenn m
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)