Volltext Seite (XML)
MnßllltL MMeuWelGiM ^ ^d-m°V»s^d 2S4M^V,°S^S0 M.° sör M^t" ! Nr. 28«. Leipzig. Montag den 16. November 1914. 81. Jahrgang. Redaktion Auch ein Kapitel über Buchhandel und Krieg. Der Buchhandel lebt gegenwärtig wie der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat und jetzt gehen kann: er hat seine Mission für die Bildung erfüllt und darf zurzeit darben. Seine Mission für die Bildung aber war wichtiger für diesen Krieg und für den Sieg, als mancher glauben mag. Hecrführung — Strategie und Taktik — war von jeher Wissen und Bildung und ist cs bei den modernen Ricscnhccren in hochgesteigertem Matze. Aber auch die moderne Waffentechnik beruht mehr und mehr aus Wissen und Bildung: artilleristisches Können und Pionierarbeit. Unterste- boottcchnik und Funkentelegraphie und alles andere ist Frucht rastloser wissenschaftlich-technischer Schulung. Und keine Schu lung ohne das Wort und ohne das Buch! Wer heute auf einem dieser vielseitigen Gebiete überlegen ist, der ist cs dank besserem Wissen und weiteren Fortschritten der Wissenschaft. Die rohe Kraft allein macht es nicht; die Welt wird staunen — sagt man ja schon —. wenn sie hört, mit wie geringen Kräften Antwerpen genommen wurde und wie zahllos überlegene Kräfte dagegen für die Niederwerfung Tsingtaus notwendig waren. Wir messen uns also schon jetzt mit vollem Recht den endgülti gen Sieg bei, trotz der gewaltigen Zahlenüberlegenheit dcrVölker- schau, die von allen Seiten gegen uns aufgebotcn ward, und wir vertrauen nicht ans das sogenannte Schwert allein, sondern aus den Kopf, der mit Hilfe der Hand dieses »Schwert« <im weite sten Sinne) führt. Und dabei kann ja das Schwertführcn nicht nur wenigen Erlesenen Vorbehalten sein; auch die grotzc Masse, der »gemeine Mann« mutz daran tcilnehmen und mithin bei den gesteigerten geistigen Anforderungen teilhaben an der Bildung, die den Sieg bringen soll. Wir wissen, wie sehr es heute oft auf die Initiative des einfachen Soldaten, auf seine Beobachtungs gabe, auf seine Fähigkeit, Schlußfolgerungen zu ziehen, ans Sprachkenntnisse und topographische Befähigung ankommt, ja wie der einfache Artillerist, der technische Soldat, der Pionier ein so hohes Matz von eindringendem Verständnis besitzen mutz, datz der dumme Botoknde da eben nicht mit kann. Im Notfall mutz der chargcnlosc Soldat den Offizier ersetzen können, was in Rußland aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich ist und die starken russi schen Ofsizicrsvcrluste besonders verderblich für die Schlagkraft der russischen Armee erscheinen läßt. Hier kommt es weniger darauf an, ob der Einzelne eine bessere Fach bildung hat, vielmehr, ob seine allgemeine Bil dung eine größere ist. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, daß die deutsche Volksschule ein gut Teil unserer Schlagkraft bedinge. Eine Mobilmachung von dieser Präzision, wie sie bei uns möglich war, eine einheitliche Geistesrichtung aufs Große in rascher Er kenntnis der wahren politischen und nationalen Zusammenhänge — das alles ist nur denkbar in einem Volke, das geistige Schulung hat, das viel und fleißig liest. Der lese- und schreib« kundige Soldat wird ganz naturgemäß den großen Anforderun gen der modernen Kricgstechnik eher gewachsen sein als der Un gebildete. Nun liegen die Verhältnisse in Europa so, daß nur Deutschland und Skandinavien weniger als 1"/» Analphabeten im Alter von ungefähr 2V—30 Jahren aufweisen. England und der öst liche Teil von Frankreich sowie vom russischen Reiche nur Finnland haben 1—5°/» Analphabeten. Dann steigt der Prozentsatz ganz erheblich. In Belgien, in Irland, im westlichen Frankreich und eller Teil. in einem Teile der Ostseeprovinzen gibt cs 5—20"/» solcher Män ner, die weder lesen noch schreiben können. Auch Portugal, das ja vielleicht noch in die Reihen unserer Feinde cintritt, zeigt den gleichen hohen Prozentsatz. Noch deutlicher wird der Unter schied, wenn wir die Rekrutierungsstatistik befragen, die uns für unsere Frage besonders interessant ist. Freilich muß betont wer den, daß die Ergebnisse in den verschiedenen Ländern hier nicht ganz vergleichbar sind, da die Anforderungen für den Bildungs- nachweis verschieden sind. In einigen Ländern beschränkt man sich bei dem Aushebungsgeschäft auf das Erfordernis, daß der Rekrut einigermaßen lesen und den Namen schreiben kann, in anderen Ländern werden höhere Anforderungen gestellt. Trotzdem gestatten aber die Zahlen einen ungefähren Vergleich und sind interessant genug. Danach waren von je 10 000 Ausgehobenen in Deutschland nur 4 Analphabeten, in England 100 (keine allge meine Wehrpflicht!), in Frankreich 400, in Finnland 490. Erheb lich größer ist die Zahl der Analphabeten in Belgien, wo 833 Re kruten nicht lesen und schreiben konnten, und schließlich lauten diese Zahlen für Rußland 6110 und für Serbien 5592. Wenn wirklich, wie wir annchmcn, der moderne Krieg durch den Geist entschieden werden mutz und Präzisionsarbeit über Ge walt, Hygiene über Volkszahl und Ethik über Roheit geht — dann wird der Sieg, den wir nach allem Vorangegangenen er warten dürfen, zugleich ein Sieg der Bildung sein, die letzten Endes doch durch Bücher vermittelt wird. Wie aber, wenn das deutsche Buch als Vermittler des Wis sens schließlich ein gut Teil des Sieges ist, wie stellen wir uns zu der Frage, daß deutsche Wissenschaft so bereitwillig ins Aus land gegeben wird? Das ist eine Frage, die nach dem Friedcns- schluß mit allem Ernst an die Tore unseres Vaterlandes pochen wird. Was tat denn der Japanese? Er kam scheinheilig zu uns, lernte alles, was es zu lernen gab, spionierte alles aus und kaufte alles Gute, unsere Optik, unsere Medizin, unsere Militärwissen schaft, und ging hin, mit diesem Rüstzeug uns zu bekriegen und zu berauben. Und der Russe überschwemmt unsere Hochschulen, und nur notdürftig werden einige der größten Geheimnisse, die noch nicht dem Buche anvertraut sind, im Vaterland behalten. Im übrigen sind Wissenschaft und Literatur international, und die internationalen Konventionen messen dem Schöpfer des Wis sens nur eine bescheidene Lizenzgebühr zu, die den Nutzen nicht auswiegt, der dem Käufer daraus entsteht. Es ist schwer, da Abhilfe zu schaffen. Manche unserer Ver- lagscrscheinungen rechnen durchaus mit dem Auslandsmarkt, wie die Rüstungs- und die optische Industrie, die chemische und Elek- trizitätsindustrie ebenfalls mit dem Auslandsmarkt rechnen. Es lvird nichts anderes übrig bleiben, als die Grenze zwischen Ge- hcimnisbcwahrung und Auslandsgeschäft etwas schärfer zu zie hen, ohne daß der andere merkt, datz ihm das Veste vorcnthalten wird. Beim Buch ist Geheimhaltung aber besonders schwer. Fehlt uns aber, was immerhin möglich und teilweise gar nicht unerwünscht ist, gerade für unser bestes fortschrittliches Wissen künftig vielleicht der Auslandsmarkt, so mag erhöhter Ab satz im eigenen neucrstarkten Lande dafür entschädigen. Und dies ist es nun, was der Verleger wie der Sortimenter heute besonders sorgsam im Auge behalten, wonach er zum Besten des nationalen Gedeihens wird unablässig streben müssen: die Ncnbelebung 1657