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143, 22. Juni 1907. KUnftig erscheinende Bücher. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 6375 ZUM Geleit. ^^icht jeder wird verstehen, daß auch die Verachtetsten das Objekt für ein Kunstwerk abgeben können. Gerade sie aber können mit ihren bunten Erlebnissen wohl viele Künstler zum Abkonterfeien reizen. So mancher Maler hat ja mit Vorliebe das saftige Kolorit des niedersten Volkslebens mit seinem Pinsel nachgeschaffen. Jene Nieder länder, die ihre Motive aus den gemeinsten Bauern- tapperijen holten, erreichten nicht das Schlechteste. Dem Autor dieses Romans nun gelingen oft die gleichen Wir kungen. Seine prachtvollen Schilderungen aus der Kaschemme und aus den ordinärsten Dirnenquartieren sind ganz einzigartig. So frisch und wahr. So er schreckend und Mitgefühl erregend. Ja — das kommt hin zu bei diesem modernen Schilderer: Er empfindet mit diesen Verdorbenen. Er ist kein Mann des Vorder hauses, der mit Ekel durchs Hinterhaus geht. Trotzdem er einer guten rheinischen Familie entstammt, hat es ihn doch zeitig hingezogen zu den Verachteten. Dazu kann ihn nur ein warmes, herzliches und inniges Mitfühlen getrieben haben. Erst als ich ihn kennen lernte, formten sich seine Erinnerungen zu diesem Werke, — aus dem ein vornehmes und durchdringendes Beherrschen des merkwürdigen Stoffes und ein selten anzutreffendes Verständnis für die Probleme dieser Gesellschaft von Dirnen und Zuhältern spricht. Ja, ein Zuhälter ist der Held dieses Romans! Und zwar ist es ein sehr häufig vorkommender Typus des Zuhälters: der weichneroige, feiner organisierte Mann, der von der Megäre Weib vernichtet wird. Das heißt: seine Geliebte ist weniger Megäre, als sie vom Schicksal dazu gemacht wird. Doch — viele Worte will ich nicht machen über den Inhalt des Buches. Es will gelesen werden. Aber es will auch verstanden werden. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Lösung der Prostitutionsfrage. Wir sehen auch hier die wirtschaftlichen Zustände ihre Mauern aufrichten, zwischen denen Menschen — und nicht die schlechtesten! — ihre steinige Straße wandeln müssen, um später unter ihrem Kreuz zusammenzubrechen. Andere gehen mit ledernen Sohlen über diese spitzen Steine und wissen sich aus dem Holz des Kreuzes ein Haus zu bauen. Wie der famos gezeichnete und saftig ausgemalte Jupp. Dieser Kerl, der seine Emilie wie ein gutes Pferd hält — und jetzt in Köln braver Bürger und Mitglied vieler ehrenvoller Vereine ist. Nicht nur in diesem Buch! Nein, in Wirklichkeit! Ja, glaubt nur nicht, daß dies Buch nur eine unter haltsame Lektüre ist. Der es geschrieben, gab ein Stück Leben. Malte es mit seinem Blute. Wer hier nur Unterhaltung sucht, lege das Buch schnell fort. Lieber Leser! Du sollst hier ein wenig Liebe zu den Verachteten gewinnen. Sollst falsche Anschauungen und falsche Empfindungen fahren lassen. Sollst einen leeren Winkel Deines Herzens bevölkern. Sollst einer kalten Stelle Deiner Brust ein wärmendes Feuer entfachen. Ich selbst habe schon versucht, es bei Dir und andern zu entzünden. Nur bei wenigen ist es mir gelungen. Mein in den „Groß stadt-Dokumenten" erschienenesBändchen „Berliner Zuhälter- tum" hat nicht das erreicht, was ich von dem vorliegenden Werke erwarte. Dieses talentvolle, künstlerische Buch wird und muß alle überzeugen. Warum ich gerade aus den Niederungen des Lebens immer wieder Dinge ans Licht ziehe oder ziehen helfe? Warum ich zu den Unanständigen hinabsteige? Weil die Anständigen mir mitunter als die Unanstän digsten erscheinen. Sie wandeln auf kalten Höhen und sehen nicht die Wunden und Verletzten unten im Tale. Sie wandeln auf sauber gepflasterten Straßen und ahnen nicht, daß auch in der Tiefe die reichste Vegetation blüht. Sie sind Banausen, Unmenschen, Pharisäer, Philister, Heuchler, Mucker — Unmenschen, ja, Unmenschen! Ich habe manchmal eine Lust, zu schimpfen. Wenn ich das alles sehe . . . Rapallo, im Juni 1907. o Hans Gstwald.