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flt so müde! Und dann höre ich immerfort etwas, ein Klingen und Singen, ein Rauschen und Brausen. Es kommt näher, immer näher, es schwillt an — ich weiß nicht, was es ist — horch! Anselms Stimme! Hört ihr sie? Er ruft mich — er ruft mich!* Mit einer letzten, großen Kraftanstrengung breitete die blinde Frau die Arme weit aus. Ein seliges Lächeln spielte über ihr Gesicht. ^Anselm! Mein Sohn!* Wie ein Jubekruf flog es durch das stille Zimmer. Dann legte sie ruhig den greisen Kopf an Kurts Schulter, der erschüttert neben ihr stand und l«ß sich willig von dem großen, unbekannten Führer hinüber geleiten an das andere Ufer, wo ihr Sohn schon wartend stand. Und hinter ihr, in traumhafter Ferne, versank das Leben . . . 12. Kapitel. Eine Heimkehr. „Na, Kinder, nun laßt einmal das Kopfhängen sein*, sagte die alte, resolute Rätin Schwarz mehrere Tage nach dem Tode und Begräbnisse der Frau Magdalene Gerhard zu Paula Linstedt und Nelly Wille, welche neben ihr saßen auf der gedeckten, kleinen Veranda ihres Hauses. »Mit all dem Lamentieren und Seufzen kommen wir doch nie auf einen grünen Zweig. Die alte Frau Gerhard hat es ja nun glücklich überstanden. Das Leben hat ihr just zuletzt noch genug Bitteres gebracht, ihr ist die Ruhe und die Stille zu gönnen. Ich habe noch nie in meinem langen Dasein so aus vollstem Herzen dem Geistlichen die Worte nachgesagt: .Der Herr laste sie ruhen in Frieden", als wie bei dieser Leichenfeier. Sie war ja gewiß nicht meine Freundin, die alte Frau, aber leid getan hat sie mir unendlich. Aber alles muß ein Ende nehmen, auch das Trauern. Gott sei Dank! Wir leben und nun kommt der Frühling und wieder bessere Zeit. Natürlich findet die kleine Gans, die Nelly, das herzlos von mir, so zu reden, denn gestern ist ja Dagobert fort nach England. Na, Kindchen, laß nur sein und werde nicht so rot. Habe ja die Geschichte längst durchschaut. Aber tröste dich! Tröste dich, du Guck-in-die-Welt! Ein Jahr ist bald herum. Und treu bleibt er dir sicher, das hat er jetzt be wiesen, trotz allem! Er ist eben doch ein Prachtmensch, der Dagobert! Gelt, Klara?* Klara Helfert saß ein wenig abseits von den andern. Ihre Hände ruhten im Schoß, sie verstand sich schlecht auf die spielenden Handarbeiten, welche den Mädchen gutsituierter Stände über die Länge müßiger Stunden hinweghelfen. Seit jenem Besuch Dagoberts war sie häufig hier draußen gewesen bei den beiden einsamen Mädchen: sie hatte ihr Versprechen treulich gehalten. Was sie dies kostete an inneren Kämpfen, davon sprach sie nicht. Mit einer beinahe mütterlichen Zärtlichkeit hing sie ihr liebeswarmes Herz an das kleine Mädchen, an seinen Liebling. Und Nelly sah dafür mit einer fast an Schwärmerei grenzenden Liebe zu der weit älteren Freundin auf. „Klara", sagte Frau Rat Schwarz nach einer Pause, da keine Antwort auf ihre Frage erfolgte. „Klara, mein Kind, ich habe ja alle Ursache, um dich besorgt zu sein! Was soll denn das heißen? Schmale Wangen, heiße Augen und so verträumt, daß du nicht einmal die keines wegs sanfte Stimme deiner mütterlichen Freundin hörst? Ich sage es dir auf den Kopf zu, Mädel: der Chef Ler Firma Helfert ist verliebt?* Klara hatte schon längst abwehrend gewinkt. Jetzt entgegnete sie ein wenig heftig: „Nein, Tante, du irrst! Ich hatte nur in den letzten Wochen allerlei Sorgen: der Streik in Böhmen, die Arbeiter verlangen mehr Be zahlung und wollen weniger leisten, mein erster Buch halter ist schwer erkrankt —* Die alte, fröhliche Frau lachte laut. „Na, La haben wir es*, sagte sie behaglich. „Das Mädel ist ganz in Geschäftssachen vertieft, und ich denke an Herzensgeschichten. Bist die einzige Gescheite, Klara! Mit Nelly und Paula ist ja so kein vernünftiges Wort zu reden.* „Ich bin ganz vernünftig, Tante*, sagte Paula Linstedt mit müder Stimme. „Habe ich nicht heute schon alles für Papas Heimkehr hergerichtet? Sein Zimmer ist instand gesetzt, seine Bücher geordnet. Nelly hat auf jedes Sims unü jedes Eckchen blühende Blumen gestellt. (Fortsetzung folgt.) Kurz, wir tun allet, was der Augenblick von uns ver langt. „Daß Gott erbarm, Kind!* rief die alte Frau. „Du tust ja gewiß alles! Aber wie tust du es! Mein Herzl, davon hängt immer das meiste ab, wie man etwas macht, nicht, daß es überhaupt geschieht, ist die Haupt sache. Und mir tut das Herz weh, wenn ich dich an schaue. Diese blassen, schmalen Wangen, dieser schmerz liche Zug um den Mund, dieses gedrückte Wesen. Nein, Kind, so kannst du deinem Vater nicht gegenübertreten, wenn er heimkehrt als freier Mann." Ein bitteres Lachen unterbrach die alte Frau. Paula Linstedt batte sich jäh erhoben und stand nun vor ihr, hoch und schlank, mit Augen, in denen heiße Tränen funkelten. „Ach, Tante", sagte sie, „spielen wir uns doch keine Komödie vor! Vaters Heimkehr bedeutet für ihn, für uns kaum ein Glück, das weißt du ebenso gut als ich und Nelly und Vater selbst es wissen. Vater wird endlich entlassen, „wegen Mangel an Beweisen*. Schon daS Wort ist entsetzlich für einen Mann, der zeit seines LebenS makellos dastand. Da sich durchaus keine neuen Anhalts punkte ergaben, und die vorhandenen nicht schwerwiegend genug sind, um daraus eine bestimmte Anklage zu schmieden, muß Vater in Freiheit gesetzt werden. Aber der Fleck bleibt, Tante, der ist nicht auszulöschen! Nie mehr kann Vater seine Tätigkeit im Geschäft wieder aufnehmen, nie mehr kann er mit erhobenem Haupt unter Menschen gehen. Wie ein Gezeichneter muß er sich verstecken, muß sich in die Einsamkeit vergraben, wie ein wundes Tier. Wir leben in unserm Heim seit jenem schreck lichen Tag wie die Einsiedler. Wir werden ewig so fortleben müssen. Und was wird aus Kurt und mir? Er schreibt mir, Tante, o ja! Er schreibt liebe, gute Worte voll Mitleid und Trost. Aber kann er der Tochter eines Mannes seine Hand geben, der unter dem Verdacht steht, seinen Vater erschossen zu haben? Und der Verdacht besteht ja fort, Tante! Er wird fortbestehen, solange bis der wahre Schuldige entdeckt ist, oder ein Zufall Papa zum Reden zwingt. Mein Vater ist während dieser Haft ein alter Mann geworden, wir alle sind wie Aus- gestoßene.* Ihre Stimme brach. Schnell wandte sie sich und ' ging mit eiligen Schritten tiefer hinein in den Garten, der hinter dem Hause sich weit fortzog. „Laßt sie*, sagte die alte Frau traurig, als Klara und Nelly dem Mädchen nacheilen wollten. „Ihr ist am wohlsten allein. So ein heißer Schmerz will ausbluten, da ist nichts zu helfen. Geht, Kinder, geht ein wenig nach der andern Seite hin und sucht noch nach Veilchen für Linstedt. Je mehr Liebe er überall findet bei seiner Heimkehr, desto wohler wird es ihm sein. Liebe, Kinder, immer wieder Liebe! Das Wort ist nicht aus der Welt zu bringen, man braucht es überall. Ich mache einst weilen mein Nachmittags-Nickerchen. Die Lust ist so weich und macht so müde . . .* Der Lpökenkiecker. Episode zur Zeit des Weltkrieges von Magda Trott. (Nachdruck verboten.) Der kalte Nordwind spielte mit den langen, weißen Haaren des Alten, der auf der Düne stand und mit den großen eingesunkenen Augen auf das ewige Meer starrte. Um die hagere Gestalt schlotterte ein langer schwarzer Kaftan und die Füße steckten in hohen Transtiefeln. So stand der alte Mann, der mehr als neunzig Jahre auf dem Rücken hatte gerade und ungebeugt und verfolgte das Spiel der Wellen. Er kannte das Meer von klein auf, war hier auf Sylt geboren und groß geworden, das Wasser war seine zweite Heimat geworden und in seinem langen Leben hatte sich Ereignis auf Ereignis gedrängt. In früheren Jahren war er ein heiterer verwegener Bursche gewesen, jetzt zog er sich immer mehr zurück. Die Zeiten, die sich so rasend schnell änderten, wollten nicht in seinen Kopf. Das alte friedliche Silendi war deutsch geworden, nachdem es im Kriege 1864 durch den dänischen Kapitän Hammer schwer heimgesucht worden war und jetzt kamen nach dem meerumspülten Eilande alljährlich Tausende von geputzten Menschen und die Insel schallte wieder von fröh lichem Lachen, Scherzen und Musikklängen aller Art. Er hatte Kind und Kindeskinder sterben sehen, das ewige Meer hatte sie ihm genommen, seine einzige Enkeltochter hatte ihm einer der lustigen Badegäste verführt und sterbend hatte sie einem Mädchen das Leben gegeben. Mit diesem, jetzt vierzehnjährigen Kinde hauste der alte Eelke in der kleinen Hütte. Das Kind hatte von ihm die großen tief liegenden Augen mit dem seltsamen Blicke geerbt und wenn es tagsüber in seinem dünnen Kleidchen an der Wasserkante saß, die nackten braunen Beine von den Wellen umspülen ließ, wenn ihm die langen schwarzen Haare im Winde flatterten, dann konnte man an die Dünenhexe denken, die, wie sich die alten Friesen erzählten, in Näs Odde ihr Wesen trieb. Gesehen hatte zwar niemand diese Frau, die seit mehreren hundert Jahren erscheinen sollte, wenn ein Unheil sich vorbereitete, dennoch wußte man, daß sie vor der großen Feuersbrunst, die vor mehreren Jahren das ganze eine Dorf verwüstet hatte, erschienen war und auch den jetzt auf dem Festlande tobenden Krieg angekündet hatte. Man munkelte sogar, die Dünenhexe stände mit Eelke Snur in Verbindung, denn auch der alte Mann sollte die geheime Kraft haben, Schreckliches vor hersagen zu können. Er sah mehr als die anderen, er wußte die Sternzeichen zu deuten und hieß darum auf der ganzen Insel der „Spökenkiecker", der Geisterseher. Hatte man ihn noch bis vor wenigen Monaten nach Möglichkeit gemieden, so war das, seit zahlreiche Ler jungen Burschen von Sylt weggezogen waren, um an dem Kriege teilzuuehmen, anders geworden. Der Spöken kiecker wurde fast täglich von dieser oder jener Fischers frau aufgesucht, damit er Kunde gebe von dem Wohl und Wehe des Fernen. Eelke Snur aber schüttelte die langen weißen Haare und meinte, es stände alles gut, mau brauchte keine Sorge zu haben, noch seien keine Zeichen geschehen. Der furchtbare Krieg hielt alle Gemüter in Aufregung. Die Sommergäste waren fort und in der Nordsee kreuzten die gewaltigen Panzerschiffe, die flinken Torpedoboote und der Schrecken des Feindes, das Unterseeboot. Die kleine Dörtje stand vom stützen Morgen bis zum späten Abend auf den Dünen und konnte sich gar nicht satt sehen an den Riesenschiffen. Am liebsten wäre sie auch mit daraus ge wesen und sehnsüchtig streckte sie ost ihre nackten Arme aus, wenn das Heulen der Sirenen zu ihr herüberschallte. Atemlos lauschte sie den Erzählungen der Soldaten, die jetzt auf Sylt weilten. Besonders die Matrosen wußten so schauerlich schöne Sachen zu erzählen von den gräßlichen Meerungeheuern, vom fliegenden Holländer, von den Wasser geistern, von Gespensterschiffen und Dörtje brannte vor Verlangen auch einmal etwas ähnliches zu erschauen. Vom Urahnen ließ sie sich dann bestätigen, daß es wirklich der gleichen gäbe und der Alte meinte ost: „Warte es nur ab, lütt Deern, es wird schon noch kommen.* Die Kunde von siegreichen Gefechten kam übers Meer. Man erzählte sich, daß die Deutschen bereits im Besitz von ganz Belgien seien, man hörte auch, daß im fernen Osten Hunderttausend in den Sümpfen umgekommen wären. Frohen Widerklang fanden all diese Nachrichten in den Herzen der Inselbewohner und die dort einyuartierten Soldaten trugen nicht wenig dazu bei, um die Begeisterung noch zu erhöhen. Jubelnd hörten die Mattosen von dem Zusammenstoß englischer und deutscher Schiffe bei Helgo land und auch die Nachricht, daß manche der braven Kameraden die kühne Tat mit dem Leben bezahlt hatten, konnte der hohen Begeisterung keinen Abbruch tun. Der alte Eelke Snur aber stand auf der Düne und schaute hinaus auf das Meer. Grau und schwer hingen die Wolken hernieder. Das Meer war ruhig und langsam glitten am fernen Horizont drei Schiffe vorüber. Er stand und schaute, schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und blickte wieder hin auf die mächtigen Fahrzeuge. Dann rief er laut nach dem Kind. Dörtje kam. Der Alte wies gegen den Horizont: „Siehst du sie?" „Ich sehe nichts, Großvater." „Ich dachte es mir." Seine Augen weiteten sich immer mehr, das ganze Gesicht bekam etwas krampf artiges. Angstvoll schaute Dörtje auf den Urabnen. Aber sie wagte kein Wort zu reden. Nun begann die ganze Gestalt des Alten sich wie unter einem Zwang zu be wegen, die Hände krampften sich zusammen und in ab gebrochenen, unheimlichen Lauten stieß er heraus: „Engländer sind es, da — sieh — wir kommen. Hei, hörst du den Schuß? — Er traf! Sieh — sieh — es sinkt! Da — auch das zweite — ha, wie es sich bäumt!" Eine kleine Weile war alles still, dann krächzte der Alte hervor: „Nun auch Las dritte — nun sind sie fort!" Angstvoll faßte Dörtje die Hand Les Alten. „Groß vater, was ist dir?" s Da erwachte Eelke wie aus einem schweren Traum, strich sich mit der Hand über das eingefallene Gesicht und blickte seine Urenkelin an. „Es geschieht Furchtbares, aber schweige darüber —" Nach acht Tagen wußte es jeder auf Sylt, ein einziges deutsches Unterseeboot hatte Lrei englische Kreuzer vernichtet. Ms man es dem alten Eelke meldete, nickt der nur mit dem Kopf. Dörtje aber zitterte vor Entsetzen. Sie hatte neben dem Großvater gestanden an jenem Tage, aber ihre Hellen scharfen Augen hatten nichts gesehen. Nun wußte sie es auch, der Großvater war mit über menschlichen Kräften begabt, er war wirklich der Spöken kiecker. Mit scheuer Ehrfurcht schaute sie von nun an zu ihm auf. Eines Nachts hörte sie, daß sich Ler Alte von seinem Lager erhob und die Hütte verließ. Schnell warf sie ihr Röckchen und ein Tuch über und eilte Eelke nach. „Groß vater, wo willst du hin?" „Ich habe keine Ruh, Deern, ich muß ans Wasser." Schweigend schritten beide durch Lie Nacht. Es war totenstill, nur Lie Wellen sangen ihr ewiges LieL. So standen beide und warteten — wußten selbst nicht worauf. Eine leise Unruhe hatte sich beider bemächtigt, es war ihnen, als läge irgend etwas in der Luft. Da kam es am Horizont herauf — ein Schiff. Ge spenstisch hoben sich Lie hellen Lichter von der tiefschwarzen Wasserfläche ab. Näher und näher kam es und ver breitete seitwärts eine eigentümliche Helle. Minuten ver gingen, da änderte es den Kurs. Im gleichen Augenblick tönte aus Eelke und Dörtjens Munde ein erstickter Aufschrei: „Gott sei uns gnädig!" „Großvater, was ist das?" Aus der Finsternis heraus leuchtete es blutigrot. Die Len Beschauern zugekehrte Backbordseite trug ein riesen großes rotes Kreuz, das unheimlich hell beleuchtet war. In starrem Entsetzen standen die beiden und schauten auf das unheimliche Schiff. Was hatte das blendend Helle rote Kreuz zu bedeuten? „Blut ist's", murmelte der Großvater. Dann schwieg man wieder und Eelke wartete, wohin sich das Schiff wenden würde. Südlich ging der Kurs, der deutschen Küste zu. „Das bringt uns Tod und Verderben." Dörtje zitterte am ganzen Leibe. Das blendend rote Kreuz tat ihren Augen fast weh. Unheimlich glitt es über die dunkle Wasserfläche. War das Wahrheit oder war es nur ein wüster Spuk? Lautlos zog es dahin. Da plötzlich wendet es abermals und gen Westen ver schwindet es langsam am Horizont. Sie fanden die ganze Nacht keine Ruhe, der Spöken kiecker und seine Urenkelin. Schon am nächsten Morgen wußte man auf der ganzen Insel, daß heute Nacht ein Gespensterschiff vorbeigekommen sei, das durch sein blut rotes Kreuz Unheil und Verderben kündete. Drei Tage vergingen in banger Qual, dann kam die Siegeskunde: Antwerpen gefallen. Eekke Snur aber nickte wieder mit Lem Kopfe und meinte: „Ja freilich, ich habe es ja fahren sehen das blutig rote Kreuz mit dem Kurs nach Westen — es muß viel Blut geflossen sein." Durch Lie Fluten der Nordsee zog majestätisch das deutsche Lazarettschiff, das Hunderte von Verwundeten trug. Ungehindert und sicher nahm es seinen Weg, das große rote Kreuz an den Bordseiten, das man auch des Nachts durch Scheinwerfer beleuchtet, bot sichere Gewähr für ungehinberte Fahrt.