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Naunhofer Nachrichten Nr. 55. Sonntag, den 10. Mai 1914. 25. Jahrgang. Das Rote Kreuz im Weitze« Felde. (Zum goldenen Jubiläum.) Hunderte von Romanen enthalten ihre schönsten Stellen dort, wo in den Gang der Handlung die barmherzige Dienste tuende „Schwester" eingeführt wird. Viele Hunderttausende von Soldaten aber sind es, die das im wirklichen Leben empfunden haben, wie der helfende Engel sich ihrer annimmt. Der Engel mit dem „roten Kreuz" an der Armbinde. Oder mit dem roten Halbmond, wenn es sich um türkische Lazarette handelt. Alle übrigen Staaten der Welt, unseres Wissens sogar das heidnische Japan, haben das Kreuz angenommen, das Sinn bild helfender Liebe und Aufopferung für den Nächsten. Dieses „rote" Kreuz ist so populär geworden, daß Apotheken, Banda gisten und andere Gewerbetreibende, selbst solche, die gar nichts mehr mit. Kranken- und Verwundetenpflege zu tun haben, es für ihre Schilder und Packungen wählten. Polizeiverordnungen mußten das Zeichen erst schützen. Es sind jetzt 50 Jahre her, daß zum erstenmal die Flagge des roten Kreuzes über Kriegszelten wehte. Jene Flagge, die den besonderen Schutz der sogenannten „Genfer Konvention" genießt, der nacheinander sämtliche Mächte zugestimmt haben. Auf Gebäude unter dieser Flagge darf man nicht schießen, es sei denn, daß der Feind Unfug damit treibt, etwa dicht bei Panzerbatterien angebliche Lazarette eincichtet. Unter dem Schutze des Kreuzes stehen alle, die sich der Fürsorge für die Verwundeten widmen, Aerzte, Krankenträger, Schwestern. Man nimmt sie auch nicht gefangen, sondern läßt sie, ist die Armee im Vor dringen und überrascht sie so das „Rote Kreuz" des Gegners, ruhig bei ihrer Arbeit. Diese Arbeit gilt in biblischem Sinne dem „Nächsten", nämlich dem, der der Hilfe bedarf, ganz gleich, ob Freund oder Feind. Der Vorwurf der Nichtachtung des roten Kreuzes wird zwar in jedem Kriege gemacht, aber es ge schieht wohl nie absichtlich, daß etwa mit Granaten auf Lazarette geschossen wird. Bevor es ein rotes Kreuz gab, war das Schicksal der Verwundeten meist grauenvoll. In den friderizianischen Kriegen wurde ebenfalls der eine oder andere Offizier von feinem Burschen aus dem Feuer getragen, aber die Mehrzahl der Verwundeten blieb auf dem Felde ohne Wartung liegen, wenn die eigene Armee zurückgeben mußte. Krankenträger, Krankenpfleger gab es auch 1813/15 noch nicht, sondern nur für jedes Bataillon einen „Feldscher", einen Heilgehilfen, der weder in seinen Kennt nissen noch gesellschaftlich über den Stand des Barbiers weit hinausragte. Hatte er doch noch 1806 im wesentlichen nur die Zöpfe und Settenlocken der Soldaten zu kleistern und zu pudern gehabt. Und die „Wundärzte" waren noch seltener, konnten wenig und waren nicht allzusehr geachtet, obwohl es auch da einzelne Ausnahmen gab : Schillers Vater war ein hervorragend tüchtiger Militärarzt in württembergischen Diensten. Während des KrimkrkegeS, 1854 bis 1855, packte das Entsetzen die Menschheit, weil da mangels jeder Pflege die Soldaten so massenhaft dahinstarben. Natürlich kannte man auch noch nicht die moderne Wundbehandlung. Noch 1870 wurde ja — ein Hohn auf die richtige Heilpflege — Charpie, zerzupfte Leinwand, in die Wunden gestopft, was in vielen Fällen zu Infektionen und zum Tode des so „Behandelten" führte. Nach dem österreichisch-französtsch-sardinischen Krieg von 1859 schrieb der Schweizer Arzt Dunant seine ergreifende Klage: „Eine Er innerung an Solferino". Diese Schrift wirkte aufrüttelnd anf die öffentliche Meinung, führte zur Gründung des Roten KrenzeS und 1864, im Frühjahr und Sommer, während des österreichisch- preußifchen Feldzuges in Dänemark also jetzt vor einem halben Jahrhundert, trat es zum erstenmal in organisierte Tätigkeit. Seitdem in jedem Kriege. Der Name „Rotes Kreuz" wurde von dem Abzeichen hergeleitet, das nach der Genfer Konvention vom 22. August 1864 die Neutralität gewährleistete. Auch außerhalb der Kriege bei großen Volksnöten, so insbesondere bei dem Erdbeben von Messina, bei dem Brande von Aalesund und bei ähnlichen Gelegenheiten, aber auch bei Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke und sonstigen Aufgaben der Volkshygiene. In einem kommenden Weltkriege wird es der äußersten Hilfe bedürfen, um in den modernen Massenheeren die Fürsorge bewältigen zu können. Fast alles, was ein Land an geprüften „Schwestern" besitzt, muß dann mit hinaus. Da heim aber rückt Ersatz in die Krankenhäuser, junge Mädchen, die als „Kriegsschwestern" notdürftig dafür im Frieden vor bereitet sind. Den romantischen Gedanken, als freiwillige „barmherzige" Schwester auf das Schlachtfeld zu kommen, womöglich, um den Liebsten zu pflegen, müssen unsere jungen Mädchen allerdings fallen lassen. Es ist das eine viel zu schwere und zu ernste Aufgabe, die vollkommen geschulter Leute bedarf. Auch von Männern, die für Kriegspflege ausgebildet sind, kommen nicht alle an die Front. Das rote Kreuz ist eine Organisation ge-, worden, die nichts Spielerisches mehr hat. Es stehen so ge waltige Werte auf dem Spiel, daß für „Amateure" kein Platz mehr übrig bleibt. SeflersteUung äer Altpenlwnäre. Pensionsbeihilfen. Berlin, 8. Mai. Der Gesetzentwurf betr. die Gewährung von Beihilfen an Altpensionäre und Althinterbliebene ist heute dem Reichstage zugegangen. Das Gesetz bestimmt in der Hauptsache: Den Altpensionären wird auf Antrag im Falle des Be dürfnisses eine Beihilfe gewährt, die bei Pensionen bis zu 1500 Mark 20 Prozent, von mehr als 1500 bis 3000 Mark 15 Prozent, bei mehr als 3000 Mark 10 Prozent beträgt. Pension und Beihilfe dürfen zusammen nicht mehr als 6000 Mark betragen. Den Althinterbliebenen ist auf Antrag eine Beihilfe von 20 oder 15 oder 10 Prozent des Witwen- und Waisengeldes zu gewähren, je nachdem dieses beträgt bei Witwen bis zu 600, bis 1200, über 1200, bei Vollwaisen 200, 400, über 400, bet Halbwaisen 120, 240, über 240 Mark. Witwengeld und Beihilfe dürfen nicht mehr als 2400 Mark, Waisengeld und Beihilfe nicht mehr als 800 Mark (Voll waisen) und 480 Mark (Halbwaisen) betragen. Das Vorhandensein eines Bedürfnisses ist anzunehmen, wenn der Pensionär verheiratet oder Angehörige krüft Ge setzes zu unterhalten hat und wenn sein jährliches Gesamt einkommen 3000 Mark — bei Unterbeamten 1600 Mark — nicht übersteigt. ÄlaffenstiUstanä in Albanien. Vermittlung der Kontrollkommission. Durazzo, 8. Mai. Durch das schnelle Eingreifen der Internationalen albanischen Kontrollkommission ist gestern ein Waffenstill stand zwischen den Epiroten unter Zographos und der albanischen Regierung zustandegekommen. Zur Lösung der Epirusfrage macht die Kommission folgende Vor schläge: Epirus soll in zwei Bezirke, Koritza und Argyrocastro, eingeteilt werden. Jeder Bezirk werde einen von der Bevölkerung gewählten Rat und einen von dem Fürsten ernannten Gouverneur erhalten. Der Gebrauch der griechischen Sprache im Verkehr zwischen dem Gouverneur und den Bewohnern werde gestattet sein, und ferner werde jede Gemeinde das Recht haben, den Unterricht in griechischer Sprache erteilen zu lassen unter der Be ¬ dingung, daß die Kinder in den Volksschulen auch die albanische Sprache erlernen. Der Sicherheitsdienst soll durch eine in Epirus rekrutierte und von holländischen Instrukteuren aus gebildete Gendarmerie versehen werden. Auf diese Weise hofft man, zu einem befriedigenden Aus gang zu kommen, damit endlich Ruhe hergestellt wird. Vie ruMscken kriegsrüllungen. 2 Milliarden für die Flotte. Petersburg, 8. Mai. In geheimer Sitzung hat die Reichsduma nach oer- hältnismäßig kurzer Beratung ungeheure Kredite für Rüstungszwecke bewilligt, von denen der weitaus größte Teil auf die Flotte entfällt. Das vom Marineministerium aufgestellte große Flottenprogramm erfordert zu seiner Durchführung mehr als zwei Milliarden Rubel. Diese werden in drei Teilen notwendig sein, von denen jeder eine fünfjährige Aus führungszeit hat. Auch eine Vermehrung des Rekruten- kontingents um IVO vvv Mann ist von der Duma glatt bewilligt worden. Für dieses Jahr sind zur Wiederherstellung der Flotte rund 77^/i Millionen Rubel bereitgestellt worden, wovon wiederum 64 Millionen Rubel auf Neubauten, der Rest auf Hilfsmaterial entfallen. Anarchie m äer 8taät Mexiko. Huertas Niederbruch. Washington, 8. Mai. Nach zuverlässigen Meldungen, die beim Kriegsamt eingegangen sind, geht es in der mexikanischen Hauptstadt drunter und drüber, so daß man auch für die noch dort befindlichen Ausländer fürchtet. Flüchtlinge aus Mexiko berichtete« dem amerikanische« Befehlshaber in Veracruz, der Zusammenbruch der Herr schaft Huertas könne jeden Augenblick erwartet werde»; dann würde Anarchie etntreten. Das amerikanische Kriegsamt trifft daher ungesäumt Vorkehrungen, 50 000 bis 60 000 Mann nach Veracruz zu entsenden, um nötigenfalls sofort nach der Hauptstadt Mexiko marschieren zu können. Geistiges Proletariat in Frankreich. Paris, 2. Mai. Eine schwere KrifiS herrscht gegenwärtig auf dem französischen „Jntelligenzenmarkt". Es gibt hier in Paris 3000 Advokaten, von denen 2500 so gut wie nichts ver dienen. Die Armut der französischen Richter ist allgemein bekannt; es gibt, besonders in der Provinz, Richter, die weniger verdienen ials ein Chauffeur oder als irgendein Kaffenbote einer Bank. Lange Zeit schien es, als ob der Jngenieurberuf eine sichere Zuflucht gegen soziales Elend wäre; obwohl nun aber die Industrien immer größere Fortschritte machen, wird die Lage der Ingenieure, die die Industrien schaffen und vorwärts bringen helfen, immer schlimmer. Die Illusionen schwinden angesichts der rauhen Wirklichkeit gar bald; viele Ingenieure sind sehr zufrieden, wenn sie monatlich 200 bis 3M Frank ver dienen können, andere begnügen sich noch mit weit weniger, und sehr viele müssen, da sie überhaupt keine Beschäftigung finden können, auswandern. Und dabei drängen sich jedes Jahr fast 2000 Kandidaten zu den 260 Stellen der Polytechnischen Schule. Noch größeres Elend birgt bas Künstlerleben; eS gibt in Paris allein fast 30 0M Maler und Bildhauer, und von diesen verdienen kaum 1M0 so viel, daß sie anständig leben können. In den Verkaufssälen des Hotel Drouot Denkt man beim kaufen? Don Gustav Hochstetler. (Nachdr. »erb.) „Sie müssen entschuldigen, Herr Doktor, wenn ich etwas zerstreut zuhöre. Ich habe nämlich eben Einkäufe gemacht. Bloß zwei Stunden. Von fünf bis sieben . . . Aber Sie glauben gar nicht, wie mich das immer an strengt." „O doch, gnädige Frau", antwortete der junge Herr höflich, „ich weiß es, und ich glaube es. Auf der ganzen Welt gibt es kaum eine vielseitigere Beschäftigung als das Einkäufemachen." „Sie machen sich über mich lustig, Herr Doktor?" „Nein, Gnädigste. Ich schätze jede Tätigkeit nach dem Maß der Gedankenarbeit, die sie von uns verlangt. Und da muß ich bekennen: die Tätigkeit, die mir das stärkste Kopfzerbrechen kostet, ist das Einkäufen." „Wie ist das nur möglich, Herr Doktor? Ich . . . ich denke mir beim Einkäufen — nichts. Ich kaufe eben dies und daS . . . vielleicht noch jenes dazu... und dann gehe ich nach Hause." „So, so? Verzeihung. Was haben Sie heute zuletzt gekauft?" „Wenn es Sie interessiert: einen Briefbeschwerer aus Bronze. Ich sah ihn auf dem Ladentisch liegen. Da nahm ich ihn mit. Gedacht, lieber Herr Doktor, hab' ich mir gar nichts dabei." „Haben Sie den Briefbeschwerer, bevor Sie ihn er warben, nicht mit anderen Briefbeschwerern verglichen?" „Nein. Das heißt: ich habe mir natürlich alle anderen, die vorrätig waren, erst mal flüchtig vorlegen lassen..." „Aha. An das Vergleichen haben Sie wohl ge dacht!" „Allerdings. Aber sonst „Einen Augenblick. Haben Sie sich bei manchem Stück auch den Preis nennen lassen?" „Bei jedem! Selbstverständlich!" »Also baben Sie — bei jedem Stück an den Markt wert aller Stücke gedacht. Haben gedacht: ist das zu teuer? Ist das besonders preiswert?" „Hm . . . Das ist wahr." „Sie haben weiter bei jedem Stück gedacht: Ist daS modern? War von den anderen Stücken vielleicht eines moderner? Lege ich es auf meinen Schreibtisch oder auf den Schreibtisch meines Mannes? Könnte ich es sonst jemandem schenken? Ist es echtes Material? Wird auch die Farbe zu den anderen Geräten passen? Ob ich nicht den ganzen Einkauf überhaupt besser unterlasse? Oder ob ich ihn nicht wenigstens vertage? Was habe ich sonst noch zu kaufen? Wie spät ist es jetzt? Verplempere ich hier beim Kaufen nicht zu viel Zeit? Werde ich, wie immer, so auch heute vom Einkäufen Kopfschmerzen bekommen? Wie kommt es eigentlich, daß eine so angenehme Be schäftigung Schmerzen und Unbehagen verursacht? — Nun, Gnädigste, haben Sie das gedacht oder nicht . . .?" „Unbewußt . . . aber vielleicht doch gedacht. Das ist wahr . . ." „Und noch einiges mehr dachten Sie bei jedem Stück, das der Verkäufer Ihnen oorlegte. Sie dachten: Wie reinigt man das? Wie oft im Monat muß es geputzt werden. Und womit? Wird die Minna es nicht ein stauben lassen? Wird nicht bald der Tag kommen, wo ich mich an dem Stück da sattgesehen habe? Was macht man dann damit? Wem kann man es dann weiter schenken? Wenn es gut erhalten ist — kann man es dann einem auswärts wohnenden Verwandten zum Geburtstag schenken? Reicht mein dieswöchentliches Wirtschaftsgeld noch für diesen Einkauf aus? Reicht es noch für die anderen Einkäufe, die ich vorhabe? Bin ich hier an der richtigen Quelle für solche Sachen? Wäre ich nicht besser in ein anderes Geschäft gegangen, um das zu kaufen? Was wird mein Mann sagen, wenn ich das Stück nach Hause bringe? Was werde ich meinem Mann als Grund dieses Einkaufs sagen? Was wird meine Mutter meinen, wenn sie das auf dem Schreibtisch liegen sieht?" „Sehen Sie, daran — daran habe ich zufällig wirklich gedacht." „Und an alles andere gleichfalls, gnädige Frau. Nur nicht in Sätzen und Buchstaben, sonder« eben in — Ge danken. Das ist aber genau so ermüdend. Und eS ist immer noch nicht alles. Sie haben ferner gedacht: Mrd die Minna zu Hause den Tisch recht nett gedeckt haben? Wäre ich nicht besser zu Hause geblieben nnd hätte ihr dabei geholfen? Wenn ich jetzt den Briefbeschwerer im Stiche ließe, und sofort nach Hause ginge, käme ich dann noch recht, um alles zu überwachen? Unter welchem Vor wand könnte ich mich jetzt von dem Verkäufer verabschieden? Wenn ich das Stück kaufe, nehme ich eS gleich mit? Oder lasse ich es schicken? Wenn ich es schicken lasse, bezahle ich es gleich hier, oder erst zu Hause? Wenn ich es hier be zahle — werden mir's die Leute dann trotzdem pünktlich zusenden? Will ick es aber zu Haufe bezahlen — werde ich dann auch da jein, wenn es antommi? Aaste ich oer Minna das Geld zu Hause — wird die auch nichts ver kehrt machen? Wird sie das Stück nicht auch dann an nehmen, wenn es inzwischen beschädigt worden ist? Oder wird sie es auf dem Weg von der Küche bis zu meinem Zimmer beschädigen? Und nachher sagen, sie sei eS nicht gewesen? Wird man dann Scherereien mit der Firma bekommen? Würde ich es auf einen Prozeß ankommen lassen? Würde ich nicht lieber den kleinen Schaden tragen und die Minna einfach entlassen? Ist es nötig, wegen solch einer Kleinigkeit ein sonst recht brauchbares Mädchen zu entlassen? Wird man zu dem Briefbeschwerer später ein passendes Tintenfaß dazufinden? Wie lange wird diese Art Mode bleiben. Wird die Mode noch in diesem Jahre wechseln? Wird die nächste Mode länger halten? Wäre es dann nicht vorteilhafter, das Stück im nächsten Jahre zu kaufen?" „Im Unterbewußtsein, Herr Doktor, mag ich wirklich an ähnliches gedacht haben . . ." „Mir haben Sie eS zu danken, Gnädigste wenn Ihnen das alles jetzt klar ins Bewußtsein tritt.. ." „Danken? Nein. Sie haben mir nur eine Last aufgeladen. Denn zu all den hundert Gedanken tritt fik mich beim Einkäufen nun noch ein neuer Gedanke hinzu Und der heißt —: waS denke ich jetzt . .