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Naunhofer Nachrichten 25. Jahrgang Nr. 61. Sonntag dr» 24 Mai 1914. "-i Retchstagsschlutz. (Von unserem parlamentarischen Mitarbeiter.) LN Berlin, 20. Mai. So vergnügt wie sonst sind die ReichStagSabgeordneten diesmal nicht au? ihrer Redehalle abgezogen, denn das hohe Haus ist nicht vertagt, sondern geschlossen worden: es geht also nicht in Ferien hinein, während deren alle persönlichen Vorrechte der Abgeordneten fortduuern, sondern die Herren kommen sozusagen als gerupfte Vögel nach Hause. Mit der bisherigen Freikarte erster Klasse auf der Eisenbahn ist es vor bei. und die Kosten der Sommerreise müssen die „M. R." auf persönliches Konto verbuchen; und wenn sie von irgend jemand verklagt sind, so müssen sie ohne weiteres vor den Kadi und können sich nicht um ihrer parlamentarischen Pflichten willen davon entbinden lasten. Der Schluß des Reichstags bedeutet aber noch mehr: er macht einen scharfen Strich unter die gesetzgeberische Arbeit, die dann ganz von neuem zu beginnen hat. Was bis jetzt nicht fertig geworden ist, kann also im Herbst nicht wieder an der Bruchstelle fortgeführt werden, sondern es bedarf einer neuen Vorlage. Selbstverständlich ist es für die Abgeordneten, die in den Kommissionen über soundso viel Gesetzen geschwitzt haben, nicht angenehm, daß die ganze Arbeit umsonst gewesen sein soll, und ebensowenig sind die Gesuchsteller an den Reichstag erbaut davon, daß ihre Petitionen, soweit sie nicht erledigt sind, nun einfach eingestampft werden. Aber es gibt umgekehrt Gründe der gesetzgeberischen Technik, die eine fortgesetzte Vertagung während der ganzen Legislaturperiode verbieten und gelegent lich einen Schluß empfehlen. Das gilt besonders für die Ini tiativanträge der Parteien, also für Gesetzentwürfe, die nicht von der Regierung ausgehen, sondern aus dem Hause kommen; sie werden nicht bester beim Ablagern, und es ist gut, wenn ein Sessionrschluß damit reinen Tisch macht, so daß bei der Wiedereröffnung des Reichstags von neuem alle dann gestellten Initiativanträge als „gleichzeitig eingebracht" gelten. Eine neue Session verlangt auch eine Neuwahl des Bureaus des hohen Hauses; von dem ersten Präsidenten Kaempf an bis zum letzten Schriftführer und Quästor herunter muß sich alles der Abstimmung der Kollegen unterwerfen. Auch das hat feine Berechtigung. Im Laufe einer ganzen Legis laturperiode ändern sich häufig die Parteistellungen, und der anfangs gewählte Präsident ist dann nicht immer mehr noch der Vertrauensmann der Mehrheit; manchmal ist man auch mit seiner Geschäftsführung nicht ganz zufrieden und scheut sich doch, ohne äußeren Anlaß Aenderungen zu treffen. Handelt es sich aber um eine neue Session, so steht die Sache ganz anders — da kann man auch nach neuen Männern ausschauen. Der gegenwärtige Präsident, dem man vielfach vorge worfen hat, er lasse die Zügel ein wenig schleifen — hat in den letzten Tagen geradezu Anfälle von großer Energie bekommen. Die Glocke ertönte scharf und die Ordnungsrufe hagelten; und zwar ohne Ansehen der Partei nach allen Seiten. Am Schluß- tage wandte sich Herr Kaempf mit einem bedingten Ordnungs ruf sogar an die Adresse des Kriegsministers, während er tags zuvor die Sozialdemokraten mit mehreren Rügen bedacht hatte. Herr v. Falkenhayn hatte es für ein Verbrechen an der Nation erklärt, wenn man ihre einzelnen Stände gegen einander ver hetze, und da man diese Kritik auf einige Mitglieder des Hauses beziehen — konnte, griff der Präsident zur Glocke und erklärte, wenn der Kriegsminister Mitglied des Hauses wäre, dann würde er ihn zur Ordnung rufen. Das ist die berühmte „hypothetische" Form für derlei, die man seit dem großen Krach während des preußischen Militärkonflikts der sechziger Jahre zu wählen pflegt. Damals hatte der Präsident des Abgeordneten hauses den Kriegsminister v. Roon gerügt. Regierungsmitglieder unterstünden aber nicht der Gewalt des Präsidenten, hieß es sofort, und der Ministerpräsident v. Bismarck blieb fortan mit sämtlichen Ministern dem Hause fern und löste es schließlich auf, als es nicht klein beigab. Der jetzige Fall aber liegt allerdings nicht so ernst. Mit einem richtigen Mißton klangen die letzten Minuten der Schlußsitzung des Reichstages aus. Die äußerste Linke hat sonst den Saal, wenn das Kaiserhoch des Präsidenten „drohte", fluchtartig verlassen, aber dieses Davonlaufen hatte allmählich eine komische Form angenommen. Diesmal blieben die Herren; und — blieben sitzen, als dar Hoch erscholl. Präsident Kaempf fand für dieses Benehmen alsbald ein paar energisch zurecht weisende Worte, aber sie ertranken in dem Lärm, den darauf die Zurechtgewiesenen erhoben: „Wir machen, was wir wollen!" Vie fliegende bilenbakn. Wie unser technischer Mitarbeiter sie sah. In einer halben Stunde von Berlin nach Hanrburg Aufhebung der Schwerkraft und aller Reibung — Monsieur Bachelet an der Arbeit — Das Wesen oer Erfindung Kosten und Aussichten. Zurzeit London, Mitte Mai. Nun sind auch die Flieger wieder übertrumpft! Sie fliegen schon doppelt so schnell als der rascheste Etsenbahn- zug fährt, und mit Staunen haben wir gehört, daß sie in weniger als fünf Stunden den Weg zwischen Berlin und der französischen oder der russischen Grenze zurücklegen. Wir denken schon an die künftige Reoolutonierung aller Verkehrsoerhältnisse durch die Flugzeuge. Aber uun kommt etwas ganz neues, der fliegende Eisenbahnwagen, der ohne Lokomotive und ohne Räder noch einmal so schnell als daS schnellste Flugzeug die Schienen entlang Modell der neuen Bahn. durch das Land saust. In wenig mehr als einer halben Stunde von Berlin bis nach Hamburg, in einer Stunde durch ganz Deutschland. Welch ungeheure Aussichten für Post- und Personenverkehr tun sich auf! Es ist kein Scherz. Die fliegende Eisenbahn existiert. Sie ist bekanntlich in diesem Monat im Londoner Vorort Saffron Hill von ihrem Erfinder, dem französischen Techniker Emile Bachelet gezeigt, im Betrieb vorgeführt werden. Im Modell natürlich, der Kosten wegen. Aber in einem so großen Modell, daß ein fünfjähriger Knabe, Keith Alderton mit Namen, auf dem kleinen, fliegenden Wagen die Versuchsstrecke in dem Bruchteil einer Sekunde durchreisen konnte. Die Erfindung ist die Sensation von London. Der Marineminister Winston Churchill, zahl reiche Admirale, Flugtechniker, die Direktoren großer Eisenbahngesellschaften haben sie besichtigt, und demnächst wird auch der König Georg den erstaunlichen Versuchen beiwohnen. Was aber die Hauptsache ist: der Leiter einer großen Eisenbahngesellschaft hat es bereits übernommen, eine Probestrecke „in natürlicher Größe" in der Nähe von London zu bauen. Wenn aus dieser alle bei der praktischen Ausführung sich noch ergebenden technischen Fragen gelöst werden, so kann die neue Ara der fliegenden Eisenbahn bald ins Leben treten. Worin besteht das Wunderbare in dieser neuen Er findung? In nichts geringerem als der scheinbaren Auf hebung der Schwerkraft. Der Wagen, vorläufig ein einfacher Stahlzylinder in Zigarrenform, hat keine Ma schine, keinen Motor und wie schon gesagt, keine Räder. Wodurch aber wird er fortbewegt, mit so ungeheurer Schnelligkeit sortbewegt? Durch Elektrizität (die nun auch wieder gegenüber den Wundern des Explosionsmotors zu Ehren kommt) oder genauer durch Elektro magnetismus, der ihn vorwärts zieht und der von großen Magnetorbogen ausgeht, die seinen Weg Über spannen. Wodurch ist aber solch fabelhafte Geschwindig keit ermöglicht? Durch die Aufhebung aller Reibung. Es klingt unglaublich, aber es ist so. Und wodurch wird diese Aufhebung der Reibung erzielt? Dadurch, daß der Wagen in dem Augenblick, wo er seine Fahrt antritt, durch elektrische Kräfte von der Unterlage, auf der er ruht, abgestoßen und dann, in der Luft schwebend, durch den nächststeheuden Magneten nach vorwärts ge rissen wird. Die Versuchsstrecke sieht so aus: Ein Paar vertiefte Schienen, wie wir sie von den elektrischen Straßenbahnen her kennen, haben über sich eine dritte, ebenfalls vertiefte Schiene, und elektrische Kontaktbürsten, die vom Wagen ansgehen, schleifen in diesen drei Schienen. Der Wagen aber ruht nicht auf dem untern Schienenpaar, sondern auf einer Kette von mit Aluminiumplatten bedeckter Wechsel stromspulen, die zur Linken und Rechten sieben dem Schienenpaar entlang ausgestellt sind. In regelmäßigen kurzen Entfernungen wird das ganze von den großen magnetisch gemachten Torbogen (oder Solenoiden, wie sie der Techniker nennt) überspannt. Bei der Vorführung sehen die Zuschauer nun folgendes: Monsieur Bachelet be wegt einen kleinen Schalthebel und schaltet den elektrischen Strom ein. In diesem Augenblick wird der Wagen, der seinerseits aus den Schienen durch die Bürsten Strom empfängt, von seiner Alu miniumunterlage, unter der der Wechselstrom durch die Spulen fließt, kräftig, etwa 3 Millimeter nach oben abgestoßen und tritt, von den Magnettoren angezogen, in der Luft schwebend und nur durch die Bürsten in den Schienen gleitend, seine fabelhafte schnelle Reise an. Er kommt augenblicklich zum Stehen, sobald der Strom aus geschaltet wird. Die Geschwindigkeit von 300 englischen Meilen oder etwa 500 Kilometern pro Stunde ist dabei festgestellt worden; auch wurde gezeigt, daß die Stelle, wo sich der W^en auf der Fahrt befindet, sofort durch ein elektrisches Signal angezeigt wird. So arbeitet die Bahn der „unsichtbaren Antriebe", wie sie der Erfinder nennt. > Vorläufig ist die Sache doch noch etwas geheimnis- voll. Die Wirkungsweise der Magnettore ist ja höchst einfach. Jedermann weiß (an jeder elektrischen Klingel sieht man es), daß ein Eisenstück, das mit einem von Strom durchflossenen isolierten Draht umwickelt ist, zum Magneten wird. Aber die Wirkungsweise der die Ab- stokuna bewirkenden Svulen ist um so merkwürdiger: sie beruht auf der zwischen den Stahlwagen und die vom Strom durchflossene Spule gelegten Aluminiumplatte. Durch die Verschiedenheit der Metalle wird diese wunder bare Wirkung des Stroms — Heben großen Gewichtes — erreicht. Aber die Wirkung ist wieder nur durch eine be sondere Vorrichtung, das Hauptstück der Erfindung, möglich, die Herr Bachelet den „synchronischen Unter brecher" nennt. Durch diesen wird ein elektrischer Strom, der mit 250 Volt Spannung eintritt, in hochgespannten Strom von 3000 Volt verwandelt, und dieser vollbringt das Abstoßunaswunber. Der Erfinder, der beute schon ein grauhaariger Mann ist, wäre bei seinen jahrelangen Versuchen mit diesem Apparat mehrmals beinahe ums Leben gekommen. Ob er die Ausführung seiner Gedanken im Großen erleben wird? Die technischen und finanziellen Schwierig keiten werden, sowohl für Postbeförderung, die das wichtigste scheint, als für Personenverkehr, als nicht un überwindlich bezeichnet. Die Baukosten für den Kilometer Strecke werden auf etwa 65 000 Mark berechnet, wozu noch alle 150 Kilometer eine Kraftstation, die eine Viertel million Mark kostet, zu treten hätte. Die Betriebskosten selbst sollen verhältnismäßig recht gering sein. Es ist denkbar, daß, wie auch ein Sachverständiger einwandte, die fliegende Schnellbahn für den Reiseverkehr keine be sondere Bedeutung gewinnt, so lange sie nicht auch billiger arbeitet, als unsere jetzige Bahn. Aber über ihre un geheure wirtschaftliche Bedeutung für die Beförderung von Briefen und anderen Postsachen kann gar nicht gestritten werden. Würde es doch möglich sein, in einem einzigen Tag die Strecke von Newyork nach San Franzisko, in wenig mehr als zwei Tagen den Weg von Berlin nach Peking zu durchmessen. Schon die un geheure Verkehrsbelebung, die dies zur Folge haben müßte, würde die Rentabilität verbürgen. Mehr Kopfzerbrechen scheint den Technikern noch die Lösung einiger Jngenieur- probleme bei der Ausführung im großen zu machen: es gilt Vorrichtungen zu ersinnen, die ein plötzliches Anhalten des mit so unfaßbarer Geschwindigkeit dahinsausenden Wagens ermöglichen, es muß für gesichertes Passieren von Kurven, für Festigkeit der Wagen, die naturgemäß leichten Gewichts sein müssen, für die Einrichtung von Ausweichstellen und Verzweigungen gesorgt werden. Aber dies sind Dinge, an denen beim heutigen Stand der Technik eine solch erstaunliche Erfindung schwerlich mehr scheitern kann. Wir haben uns ja das Kopfschütteln abgewöhnt und tun wohl daran. Es sind ja wenig mehr als ein Dutzend Jahre her, daß man Leute, die sich mit dem Flugproblem beschäftigten, als Narren angesehen und dem Grafen Zeppelin offizielle Hilfe versagt hat. Unsere Entwicklung geht mit Rekordzahlen vorwärts, und man wird guttun, sich den Namen Emile Bachelets, der die „fliegende Eisen bahn" erfunden, zu merken. /o^. Krise im kmowelen. Bei der Bedeutung, die das Kino beansprucht und bei der Verbreitung, die es in Stadt und Land gefunven, werden nachstehende Ausführungen eines Fachmannes interessieren und — über raschen. Sie hat viele Gegner gefunden, die weiße Leinwand mit den Flimmerschatten: solche, die ihr gram waren, weil sie ihr die „kulturelle Bedeutung" von Grund auf ab sprachen — solche, die schalten, weil sie die „enorme Ent wicklungsmöglichkeit" in zu langsamem Tempo sich ent falten sahen —, Künstler, die den Kitsch verurteilten —, andere Künstler, denen die Honorare zu gering waren —, Besucher, die das gesprochene Wort vermißten —, Arzte, die Augen- und Hirnkrankheiten voraussagten, und die Presse registrierte die Beschwerden und fügte ihre eigenen hinzu. Und trotz aller der wirklichen und eingebildeten Krankheiten entwickelte sich der junge Erdenbürger, um schließlich in seinen Blüte ahren an einem Leiden zu grunde zu gehen, dessen Entstehung alle die besorgten Er zieher nicht beachtet hatten: aus dem gesunden Kino wurde das kranke Lichtspielhaus. Die einfachen Holzstühle wichen dem Klubsessel, das Klavier dem großen Orchester, das kleine Büfett dem eleganten Foyer, aus der Hütte in der Nebenstraße wurde der Palast in der teuersten Stadtgegend der Großstädte. Die Folge war, daß die Unkosten von Tausend zu Hunderttausend heraufschnellten und dementsprechend die Eintrittspreise vom Pfennig zur Mark steigen mußten. Die Anziehungskraft der Darbietungen blieb anfangs un geschwächt, so daß auch unter den veränderten Verhält nissen das große Theater noch knapp auf seine Rechnung kam, insbesondere als mit dem gleichzeitigen Auftauchen des „großen historischen Films" dem Kino neue Besucher massen zugeführt wurden. Bald aber sollte sich die Ab kehr vom Wesen des Lichtbildes (der Versuch, aus dem Kino das Lichtspielhaus zu machen) rächen. Der gut gemeinte, aber völlig mißlungene Versuch, in Kunst zu machen, der in den sogenannten „Autorenfilms" zum Ausdruck kam, machte das Publikum auf den 3 und 4 Mark-Plätzen lächeln und entsprach nicht dem Geschmack der Galerie, die Sensation auch auf Kosten der Wahr scheinlichkeit wollte. Und seit dieser Zeit — reichlich ein Jahr — tappt die Fabrikation im Dunklen. Der Grund: das Kino hat kein einheitliches Publikum mehr. Nach der wirtschaft lichen Seite hin hat dieser Zustand Folgen gezeitigt, von denen der Laie sich schwerlich einen Begriff macht, wenn er Sonntag in seinem Stammkino das „Geld scheffeln" siebt. In Wirklichkeit steht das Geschäft in seinen drei Teilen: Fabrikant — Verleiher — Theaterbesitzer äugen blicklich in einer Krise, die nach fachmännischem Urteil 50 bis 60 Prozent aller Beteiligten verschlingen dürfte. Der Theaterbesitzer ist krank geworden, krank ge worden durch die oben erwähnten Gründe, zu denen noch die ungeheuren steuerlichen Belastungen hinzugekommen sind. (So gehört zum Beispiel eine Abgabe von 20 Pro zent der Brutto-Einnahme an die Stadt nicht etwa zu den Seltenheiten.) Krank geworden durch Phantasiepreise für die Ermietung großer Films, durch das Emporschießen von Dutzenden und Hunderten Einmonatsunternehmungen von Laien, die sich einredeten, mit 10 000 Mark 100 060 verdienen zu können. Die wirtschaftlich schwachen kleinen Theaterchen brachen in den großen Städten naturgemäß zuerst zusammen mit Ausnahme der Kinos in den ärmeren Vorstädten und äußeren Straßen. Diese Kinos waren dem Geschmack ihrer Kundschaft treugeblieben. Man versuchte sich mit größter Anstrengung über den vorigen Sommer hinaus zu halten, in der Hoffnung auf