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Naunhofer Nachrichten. Nr. 6. Sonntag, den 14. Januar 1912. 23. Jahrgang. Der Llabttag in Kerlin. Berlin, 1L Januar. Ein kalter Vormittag. Nur ein paar Grad Kälte freilich, aber ein schneidender Wind. Die armen Zettelverteiler, die vor den Turnhallen und Restaurants stehen, können einem leid tun. Es ist gewiß kein Vergnügen; Trost findet man nur in der Kameradschaft, denn der konservative Zettelverteiler spricht gemütlich mit dem sozialdemokratischen, dem fortschritt lichen, dem demokratischen und dem fünften, falls noch ein Außenseiter aufgestellt ist. Verstohlen kreist auch einmal im Dunkel des HaustorS die Flasche, und wenn der Sozi, um die erfrorenen Lebensgeister zu heben, auf eine Viertelstunde verschwindet, übernimmt wohl auch der Demokrat od:r ein anderer seine Zettel. Um 12 Ubr kam mein Junge aus der Schule. »Vater, wen hast du gewählt?" - »Junge, eS ist doch geheime Wahl, das kann ich dir doch nicht sagen!" — „Schade, wir haben hp'ife in der Schule von weiter nichts als von den Wahlen gesprochen.' ^.enae Aufregung mutz da herrschen! Es ist aber nicht wahr. Die Straßen sind ziemlich leer, alles geht ruhig seinen Pflichten nach. An den Anschlagsäulen allerdings Plakate, die den und jenen Kandidaten empfehlen. Auf dem Bürger- steig hie und da in roten Buchstaben, nächtlicherweile hin- fchabloniert, die Aufforderung: „Wählt Fischer!" oder wer es nun gerade ist. Selten einmal ein mit Plakaten beklebter Möbelwagen, der langsam durch die Straßen segelt, aber das Publikum siebt gar nicht hin. Man darf also erwarten, daß so ziemlich jeder schon weiß, welchen! Kandidaten er seine Stimme geben will. Es ist eigentlich eine kolosfalelVerschwendung, die mit den Wahlzetteln getrieben wird. Jeder „geheime" Wähler nimmt natürlich alle Zettel, die ihm angeboten werden, einen benutzt er nur und die übrigen vier oder fünf wirft er weg. Wenn man das auf das ganze Deutsche Reich verrechnet, kommt eine ziemliche Summe zusammen, denn mir haben 14 Millionen Wähler. Aber ich wüßte wirklich nicht, wie es anders zu machen wäre, und schließlich, die Drucker wollen auch leben. Das Wahlgeschäft geht in aller Ruhe vor sich. Ich fragte in verschiedenen Wahllokalen nach, und das Ergebnis war überall dasselbe. Bis 1 Uhr mittags hatten schon 25 Prozent der Wähler ihre Stimmen abgegeben. „Recht starke Beteiligung gegen sonst, wie?" — „Wer weiß! eine ganze Menge Leute haben keine Arbeit: da kommen sie schon am Vormittag." Mag sein, aber man hat sich allgemein auf starke Beteilt nmg gefaßt gemacht. -eu uuptansturm dringt natürlich, abgesehen von der Mittagspause, der Abend. Die Arbeiter machen früher Feierabend und strömen zur Wahlurne. Da drängt es sich zeitweise, aber die Leute sind diszipliniert und es geht in Ordnung ab. Selten kommt einmal ein angesäuselter Herr vor, dec seinen Zettet absolut da abgeben will, wo er nicht hingehört. und der dann mit sanfter Gewalt hinausbefördert werden muß. Ein Ereignis sind immer die Stimmabgaben der Minister. Diese vollziehen sich bei uns meist, auch diesmal, mit großem Apoarat. Der Wahlvorstand erhebt sich, wenn Herr v. Bethmann Hollweg. Herr von Schorlemer, Herr von Trott zu Solz, Herr v. Breitenbach, Dr. Beseler, Exzellenz Wermuth am Wahltisch erscheinen, ein Blitzlicht flammt auf, und der historische Moment ist auf der Platte festgehalten. In den nächsten Tagen erscheint dann das Bild in den illustrierten Blättern. Der Momentphotograph ist im Wahlgesetz nicht vorgesehen, seine Anwesenheit ist, da man 1871 noch nicht so weit war, weder zuge lassen noch verboten worden, deshalb ist er zum ständigen Inventar geworden, wie auch die Vertrauensmänner der Parteien, die an einem Tisch in der Ecke sitzen und in ihren Listen „anstreichen', damit nachher am Nachmittag die fleißigen „Schlepper" in ihren Autos berumgondeln und die „Säumigen" heranholen können. Heute hatten wir ein kleines, pikantes Ereignis. Herr Solf, unser neuer Kolonial gewaltiger, wollte natürlich auch seine Stimme zugunsten eines Kolonialfreundes in die Wagschale werfen: vorsichtiger weise ließ er vorher bei Siechen anfragen und siehe da! er stand gar nicht in der Liste. Er ist schon lange genug in Berlin, um eingetragen zu sein, aber zuerst bat er wobl immer noch mit seiner Rückkehr nach Samoa gerechnet, und dann ist er vergessen worden, von den andern und von sich selber! Für heut abend haben wir aber starke Aufzüge zu er warten. Die Parteien halten Versammlungen ab, um die „Verkündigung des Wahlresultats" entgegenzunehmen, die Zeitungen werden uns mit Extrablättern überschwemmen, in den Kinematographen-Theatern werden telephonisch dirigierte Scheinwerfer zwischen den Sensationsstücken „Liebe und Verrat" und „Ein Weib aus dem Volke" verkündigen, wer in den Berliner Wahlkreisen, in den Vororten und möglichst auch draußen im Lande „gesiegt" hat. Welch eine Fülle von Vorarbeit steckt in diesen Nachrichten-Übermittelungen! wie viel Zählungen, Summierungen, telephonische und telegraphische Mitteilungen, welcher Ansturm von Depeschen bei den Partcr- leitungen, bei den Reichsämtern, bei den Zeitungsredaktionen — wenn das alles klappt, und das tut es sicher für gerechte Ansprüche, so hat man wohl einigen Grund, auf die Fort schritte unserer Kultur auf diesem Gebiete stolz zu sein! L. 34. dnct abermals Velcakke! Als im vorigen Jahre bei den in Frankreich so be- liebten Ministerstürzen Herr Delcasse, der vor einigen Jahren plötzlich abgesagte Minister des Äußern, wieder ans Ruder kam, und zwar zunächst nur als Marine minister, da ging ein Rauschen durch den europäischen Blätterwald, das ganz ungewöhnlicher Art war. Man ist ja an ein schnelles Gehen und Kommen im französischen Kabinett gewöhnt und rechnet stets pro Jahr auf zwei oder drei Kabinettskrisen mit obligatem Rücktritt dec Minister, so daß man sich niemals weiter aufregt, wenn der Draht wieder ein Ministersturzbad aus Paris meldet, aber als der Name Delcasse unter den Neuerstandenen gemeldet wurde, war man plötzlich recht aufmerksam ge worden auf das französische Kabinett. Denn Delcasss ist der Vertreter des alten französischen Hasses gegen Deutschland. Er war es, der das Bündnis Frank- reichs mit England einfädelte, der den französischen Chauvinismus zu lebhaften Flammen schürte, der Frank reich, ehe die Algecirasresultate fertig waren, in einen Krieg mit Deutschland Hetzen wollte. Aber der Präsident erkannte damals, daß dies ein frevelhaftes Beginnen sei, da Frankreich durchaus nicht vorbereuet war, einen Krieg mit einiger Aussicht auf Erfolg zu führen. Delcasse, der Friedensstörer, mußte zurücktreten. Aber er war nicht müßig seit dieser Zeit. Immer wieder und immer wieder trat er hervor als der Vorkämpfer für den nationalen Gedanken, für den nationalen Ehrgeiz Frankreichs, immer wieder predigte er. Wir sind gerüstet, wir können wieder mit der alten Prätension auftreten, wir werden wieder die Geschicke Europas dirigieren. Dieses Schmeicheln um die nationale Eitelkeit der Franzosen trug seine Früchte. Man erinnerte sich seiner wieder oder besser, er wußte fick zur rechten Zeit wieder in den Vordergrund zu schieben, so wurde er Marineminister. Jedermann erkannte, daß dies nur eine Durchgangsstation für ihn zum Ministerium des Äußern sein würde. Er hat dieses Ziel schnell erreicht. Nichts schadete seinem Ruhme, die Pulveraffäre, die furchtbaren Kriegsschiffkatastrophen, die so miserable Flottenschau zu Toulon, er hatte eine gute Presse. Niemand warf ihm vor, daß dies nicht schon längst geändert war, sondern jedermann prieS daS Geschick, daß dies alles gerade zu DelcafseS Zeit austrat, der mit eisernem Besen alles reinigen und bessern würde. Dieser Nimbus, »Delcasse, der Vaterlandsretter', hat ihn jetzt wieder zum Minister des Äußern gemacht. Ein an sich herzlich belangloser Streit zwischen Clemenceau, Caillaux und de Selves über die Gespräche der französischen Unter händler mit den deutschen Vertretern gelegentlich der Marokkooerhandlungen gab die Ursache dazu her. kmß i de Selves, der bisherige Minister des Äußern, — ein j für die Franzosen nicht charaktervoll, soll heißen nicht chauvinistisch genug auftretender Mann — sein Rücktritts gesuch einreichte. Wer wäre jetzt zur Zeit der französischen Hochflut deS sogenannten Nationalismus mehr geeignet -um Minister des Äußern als Delcasse? Vielleicht bringt er es noch weiter, dieser Mann. Vielleicht hat Deutschland über kurz oder lang Gelegenheit, sehr deutlich mit ihm zu reden. Das Barometer der europäischen Wetterlage fällt erheblich. unä fern. o Kaiser Wilhelm und die ReichsttHSwahlen. An läßlich der Reichstagswahlen hatte Kaiser Wilhelm bekohlen, ihn über die einzelnen Wahlen auf dem laufenden z» halten. Aus diesem Anlaß war ein besonderer Dienst ein gerichtet worden, ähnlich wie er während der Parlaments verhandlungen besteht. Ein ganzer Stab von Beamten war tätig, um die einlaufenden Nachrichten zu sichten und für den Bericht an den Kaiser zu bearbeiten. In diesen Berichten fehlten auch Stimmungsbilder nickt, sowohl über die Tätigkeit der einzelnen Parteien wie auch über die Anteilnahme der Bevölkerung im allgemeinen. Der Log der Stichwahlen ist übrigens nicht ohne Grund auf den 25. Januar festgesetzt worden. Es geschah dies auf spezielle Veranlassung des Kaisers, damit ihm noch zu seinem Geburtstage das Endresultat bekannt werden kann. 0 Der verhängnisvolle Ehering. In Schwarzen bach a. S. erlitt der Bäckermeister Wirth einen eigen artigen Unglücksfall. Er sprang in seinem Schuppen von einer Erhöhung auf den Boden hinab, blieb dabei mil seinem Ehering an einem hervorstehenden Nagel hängen und verlor so den Goldfinger der rechten Hand. 0 Verschwundener Professor. Vermißt wird seit mehreren Tagen der Gymnasialprofessor Michael Glock aus Weinheim an der Bergstraße. Er unternahm einen Spaziergang nach Viernheim, den er bis nach Mucken sturm-Heddesheim ausdehnte. Von diesem Ausfluge ist ! er nicht zurückgekehrtr alle nach seinem Verbleib ange stellten Recherchen sind bisher resultatlos verlaufen. rPro- fessor Glock ist 47 Jahre alt, verheiratet, hat eine Tochter und gilt als vermögend. O Wenn man zu lange schläft. Der vom 12. In fanterie-Regiment in Neu-Ulm desertiert' Soldat Braun wart aus München und der Tagelöhner Peterka ter aus Muckental brachen in eine Villa zu Achack bei Lindau ein. Sie plünderten dort verschiedene Schränke und legten sich nach getaner „Arbeit" in den im Hause stehenden Betten zur Ruhe. Sie hatten aber das Pech, die Zeit zu ver schlafen. Der Gutsvermalter traf am Morgen bei seinem Rundgang beide noch schlafend an. Herbeigerufene Gendarrne verhafteten die Langschläfer. 0 Neubaueiusturz. In Düsseldorf stürzte ein bereits bis zum Dach aufgeführter, dreistöckiger N-ubau ein. Dabei wurden sechs Arbeiter verschüttet. Zwei von ihnen sind nach kurzer Zeit gestorben, die übrigen vier sind schwer verletzt. Die Ursache des Unglücks schreiben Fach leute dem abwechselnden Regen- und Frostwetter der letzten Tage zu, das zweifellos sehr ungünstig auf den Bau eingewirkt haben dürste. o Rettung deutscher Schiffbrüchiger durch englische Seeleute. Das Rettungsboot von Caistor rettete sieben deutsche Seeleute des Briggschoners „Falke" aus Bremen, der mit einer Ladung Reis nach Darmoutb bestimmt war. Das Schiff war auf den Sandbanken vor Parmoutb während dichten Nebels gestrandet. v Brand in der Chikagoer Börse. In Chikugo brach im Gebäude des Handelsamts Feuer aus, das auch den Fahrstuhlschacht hinter der Produktenbörse ergriff. Dichte Rauchwolken drangen in die Börsensäle. Dcdurch entstand Künstlerliebe. Roman von G. v. Schlippenbach. 27 »Ich hoffe bald so reich zu sein, daß ich mich in das Pri vatleben zurückziehen kann," tagte ec, „noch diese letzte Konzert reise und dann verschwindet der Virtuose Oskar Wesebach von der Bildfläche, um nur noch Dein Dich liebender Gatte zu wer den." „Du nimmst daß also so bestimmt an," sagte Ernesta be klommen, „ich fürchte, es stehen uns harte Kämpfe bevor, ehe meine Eltern ihre Einwilligung geben." Er warf stolz den dunklen Kopf zurück. „Ich denke, ein Os kar Wesebach wirbt nicht vergeblich," betonte er selbstgefällig, „der bürgerliche Name trägt die Adelskrone des Genius." Wie sie ihn liebte mit diesem begeisterten Ausdruck in den vergeistigten Zügen. -Mem Herr und mein Meister!" Der Platz, auf dem sie saßen, war derselbe, auf dem Ernesta daß Gespräch des Geliebten mit Max Stelzer belauscht hatte, ohne es zu wollen. Die Luft war vom Dust der Alpenkräuter erfüllt; man sah auf den Matten die braunscheckigen Kühe gra sen, das melodische Läuten ihrer Glocken mischte sich mit dein Jubeln des Hirtenknaben, der sie weidete. „Ich werde mich hierherzurlicksehnen," begann Ernesta leise, „es ist die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen." Sie,seufzte dabei. „Es soll noch eine schönere kommen, mein Lieb," sagte Vik tor, „wenn Du mein geliebtes Weib bist. Ich will am Bodensee eine hübsche Villa kaufen, dort werden wir zusammen leben." „Aber jeder Mann muß doch eine Arbeit, einen Beruf ha ben," warf Ernesta ein; „was wirst Du den ganzen Tag tun? Du wirst Dich doch langweilen." Er lachte. „Ich bin furchtbar träge und liebe das Nichts tun," entgegnete er. „Wenn ich meine Konzerte aufgebe, will ich im dolce far niente glücklich sein und in der Liebe zu Dir." „Ja, aber wird Dich das auf die Dauer befriedigen?" fragte sie erstaunt. „Ich kann mir einen Mann nicht ohne Pflichten und Arbeit denken." „Dann wirst Du Dich bei mir daran gewöhnen müssen," gab er etwas gereizt zurück. Warum trat eben das kraftvolle, zielbewußte Bild des Gra fen Biberstein so greifbar vor dem inneren Auge Ernestas her vor? Warum verglich sie ihn mit dem Geliebten und warum fiel dieser Vergleich zu Ungunsten des letzteren aus? Ja, aus beiden eiueu Menschen formen, das wäre ideal gewesen. Der letzte Ausflug sollte nach Fluelen gemacht werden.Das Brautpaar und Frau Stürmer nebst Tochter Therese, Viktor und Ernesta wählten einen köstlichen Herbsttag dazu. Gräfin Paula zog die Stille des Rigikulm vor, da sie sich jedesmal nach sol chen Strapazen leidend fühlte. So stellte sie die Nichte unter den Schutz der alten Dame und um 10 Uhr morgens schiffte sich die Gesellschaftin Vitzenau ein, ivo dec aus Luzern kommende Dampfer anlegte. Die Stimmung war sehr fröhlich. Ternow und sein hüb sches Bräutchen saßen Hand in Hand auf einer Bank und das Glück lachte aus ihren Augen. Das heimliche Brautpaar und die beiden Stürmerschen Damen plauderten lebhaft zusammen, während der Salondancpfer die herrliche Fahrt über den See machte. Von Brunnen an wurde es immer schöner, die Berge noch gewaltiger, die Ufer malerischer. Die Tellskapelle, an einer der schönsten Stellen erbaut, zog an den Reisenden vorüber; daun machte der See eine Krümmung, und ein überraschend großartiges Bild bot sich dar. Bon den Bergen fielen dünne Wasserstrahlen nieder und zerstäubten in bunten Regenbogen farben von der Sonne beschienen; die Schneehäupter des Ber ner Oberlandes wurden sichtbar und dazu das tiefblaue, klare Wasser, welches von dem Schiff geteilt wurde, die krystallreine Luft des Herbsttages, alles einte sich, nm diesen Ausflug un vergeßlich zu machen. Ernesta war allein still und ernst. Ein Brief ihres Vaters, den sie am Morgen erhalten hatte, machte ihr Sorge. Ihre Mutter litt an einem langjährigen Uebel, das sich wieder in besorgniserregender Art eingestellt hatte. Baron Mollbeck mel dete es ihr und wünschte ihre baldige Heimkehr. Sie hatte es Viktor noch nicht mitgeteilt, und ihm fiel ihr gedrücktes Wesen auf. Als er erfuhr, was sie quälte, trat der Gedanke an die Trennung nahe und beide fühlten es, wie schwer die Abschieds stunde ihnen fallen werde. „Ich muß Dich vorher ungestört sprechen," sagte Viktor. „Noch einmal, versprich es mir, mußt Du zur Bank hinter dem Felsen kommen, Nesta!" > „Heute Abend," sagte sie leise, „auch ich habe noch eine letzte Bitte an Dich, die Du mir erfüllen mußt, Geliebter." „Ich könnte Dir nichts, nichts abschlagen," versetzte er lei denschaftlich, „in Deinen Händen bin ich weiches Wachs, Nesta." „Aber das möchte ich nicht, Oskar, im Gegenteil, ich will mich Dir fügen; Du bist mein Herr und Meister. So nenne ich Dich am liebsten." „Still, Ternow beobachtet uns," raunte Viktor ihr zu. „Ich fürchte oft, er hat Verdacht geschöpft." Ja, das hatte der Doktor und er hatte sich, Ernestas Macht über den Freund erkennend, an diese mit seinem Vertrauen ge wandt. Sie hatten eine lange Unterredung: Ternow sprach ein gehend über den Freund und verrietdem jungen Mädchen, daß Viktor hin und wieder zu Morphium seine Zuflucht nahm. Er bestürmte die Baronesse, ihren Einfluß aufzuwenden, damitVik- tor ihr das feste Versprechen gebe, nicht mehr zudem entsetz lichen Milte! zu greisen. Diese Mitteilung erschütterte Ernesta; nun ivar ihr vieles erklärlich, was ihr bisher rätselhaft blieb. Damals im Boot mußte er sich eine Einspritzung gemacht ha- ben, als er sie bat, sich abzuwenden. Sie hatte wenig von Mor phiumsüchtigen gehört; die Tragweite ihrer Leidenschaft war ihr unklar. Und er, den sie so innig liebte, er durste nicht daran zu Grunde gehen; er mußte sich durch sein Wort bin den, in Zukunft das Gift nicht zu berühren. Ihr Zartgefühl hatte es ihr verboten, je wieder von dem Inhalt des von ihr belauschten Gespräches ein Wort zu verlieren. Sie sagte sich, daß wohl jeder Mensch solche Stürme hinter sich habe; sie war zu herzensrein, um das zu verstehen, was er ihr zu verheim lichen wünschte; nur nagte ihr zuweilen eine quälende Unruhe an der Seele. Sie hatte einige Male seinen leichtfertigen Ton bemerkt, ec st neulich, als er auf dem PilatuS dem hübschen Blumenmädchen vertraulich in die Wangen kniff und mit ihr scherzte in einer Art und Weise, die ihr das Blut ins Gesicht trieb. Würde er sich ändern, wenn er ihr Mann war, wenn sie ihm ihr Leben, ihr ganzes Sein zu eigen gab? Nein, wolkenlos war ihr heimliches Glück nicht, nicht wie das Lauras, die in dem Doktor das verkörperte Ideal ihrer Mädchenträume sah. In ihre Liebe zu Oskar, dem Menschen, mischte sich stets ein unsicheres Gefühl, das zu dem, was sie für den Künstter empfand, im grellen Gegensatz stand. 185,20