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Wöchentlich erscheinen tret Nummern. Prönumerntionö-Preiö 22j Silbergr. sz Thlr.) vierteljährlich, 3 Thlr. für daS ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der PreuSischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen irerhen von jeher Buchhandlung (in Berlin bei Beil u. Comp., Jägerstrahe Nr. 25), so wie von allen König!. Posl-Aennern, angenommen. Literatur des Auslandes. 63 Berlin, Dienstag den 27. Mai 1845 England. Memoiren eines Radikalen. So heißt ein kürzlich in England erschienenes Buch, dessen Verfasser nicht etwa ein Haupt der radikalen Partei ist, sondern ein Mann aus dem Volke, ein Arbeiter, also einer von denen, deren Wohl die Bestrebungen jener im Auge haben. Aber eben darum ist cs um so anziehender, weil es eine Stimme aus dem Volke, und von einem Standpunkte aus geschrieben ist, den die Memoirenschreiber gewöhnlich nicht einzunehmen pflegen. Diese Memoiren eröffnen uns einen Blick in das Treiben und die Verhältnisse der radikalen oder demokratischen Partei in England; sie geben uns namentlich über den Charakter und die Persönlichkeit derer, die zu gewissen Zeiten an ihrer Spitze standen, interessante Aufschlüsse. Die Zeit, welche sie schildern, ist die un ruhige Periode von 181« bis 1821, die so reich an Aufständen und Volks bewegungen war. Außer der Darstellung der Ereignisse und Personen aber, mit denen er in Berührung gekommen ist, scheint sich der Verfasser noch einen doppelten Zweck bei der Herausgabe seines Buches vorgesetzt zu haben: ein mal wollte er sich selbst wegen seines Verhaltens bei jenen Ereignissen recht fertigen, und zweitens seinen Gtandesgenofsen einen Warnungsspiegel vor halten, der ihnen das Unnütze und Schädliche aller gewaltsamen sozialen und politischen Umwälzungsversuche zeigen und sie vor jeder Theilnahme an solchen zurückschrecken sollte. Gegen Ende des europäischen Kriege« arbeitete Samuel Bamford — so heißt unser Radikaler — als Scidenweber in dem Dorfe Middleton, wo er geboren ist und noch jetzt wohnt. Obgleich noch jung, war er schon als Dichter unter den Bewohnern der Nachbarschaft bekannt; er las gut und be- saß eine schöne Handschrift: Talente, die für einen Menschen seines Standes nicht gewöhnlich find. Die radikale Partei war damals damit beschäftigt, durch ganz England die sogenannten „Hampden-Klubs" für ihre Zwecke zu bilden. Als ein solcher in Middleton organisirt wurde, wählte man Bamford zum Secretair desselben. „Die Tendenzen der Mitglieder", sagt der Ver fasser, „waren sehr gemäßigt. Sie verlangten nur das allgemeine Stimm recht, jährliche Parlamente, die Ausschließung jedes Regierungs-Beamten aus dem Unterhause und die Bildung von Wahl-Kollegien aus 20,000 männ- lichen Personen, die das Alter der Volljährigkeit erreicht hätten. Bald aber mischten sich Spione in unsere Reihen, welche uns durch ihre Ertravaganzen zu verdächtigen und zu schaden suchten. Erst nachdem wir solche Leute und ihre Helfershelfer unter uns ausgenommen, begannen wir, an die Anwendung materieller Gewalt zu denken." Als die Hampden-Klubs im Lande organisirt waren, forderte Sir FranciS Burdett, der damals ihr Großmeister war, sämmtliche Klubs auf, Abgeord nete nach London zu senden, um eine Reform-Bill zu berathcn, die dem Parlament vorgelegt werden sollte. Samuel Bamford wurde von Middleton abgesendet. Hier sah er nun mit großer Verwunderung die Haupträdels führer der Zeit, die in solcher Nähe ihm viel weniger groß erschienen als früher. Clarendon hat einst die Geschichte des Hofes geschrieben; Bamford ist ein radikaler Clarendon. Einige von seinen Skizzen haben vielen Werth, z. B. die des berühmten Hunt, der einige von den moralischen und alle physischen Eigenschaften des Demagogen besaß. Hunt sehen, war für einen Reformer aus der Provinz ein Ereigniß. „Ich hatte", sagt unser Radikaler, „eine hohe Meinung von ihm gefaßt; sein erster Anblick täuschte meine Erwartung nicht; es war ein Gentleman, dessen Kleidung und Manieren diesen Titel rechtfertigten. Sein Wuchs betrug über sechs Fuß und war wohl proportionirt. Seine Züge zeigten eine elegante Regelmäßigkeit und eine gewisse Sanstmuth und Jugendlichkeit, die seinem Gesicht, wenn er sich mit seinen Freunden unterhielt, einen angenehmen Aus druck gaben. Seine zarten Lippen zogen sich leicht zusammen, und die Beredt- samkcit ihres schweigenden Ausdrucks ist in keinem Portrait, das ich kenne, erfaßt und wiedergegeben. Seine blauen oder vielmehr blaßgrauen Augen waren weder sehr klar noch sehr lebendig; aber ich bemerkte, daß ihr schläfriger Ausdruck verschwand, sobald ihn das lebendige Wort in gereizte Bewegung setzte. Dann erweiterten sie sich und schienen aus dem Kopfe hervorspringen zu wollen. Wenn er sich bis zur Wuth erhitzte, dann fing er an zu heulen; sein Gesicht wurde schwarz und schwoll auf, seine geballte Hand schlug auf, als wollte sie einen Feind in Staub verwandeln, und man bemerkte in allen seinen Geberden den heftigen Kampf einer inneren Energie, die sich nach außen Luft zu machen suchte." Es scheint, daß Bamford bald nach diesem Aufenthalte in London Haupt redner des ersten Meetings wurde, welches unter freiem Himmel in Rochdale zusammenkam. Bei dieser Gelegenheit erhielt er außer „den Erfrischungen in der Herberge zur Rose" vier Shillings für seine Mühe; aber er behauptet, daß dies das erste und einzige Mal gewesen scp, daß er für sein Auftreten in einer Reformisten-Versammlung Geld angenommen habe. Er fügt hinzu: „Geld annehmen schien mir etwas Unwürdiges, obwohl dieser Gebrauch ziemlich allgemein geworden und mehrere meiner Freunde dies benutzten bis zu der Zeit, wo in dieser Beziehung nichts mehr zu machen war. Doch war dies ein niedriger Gebrauch, der eine Klaffe vov Rednern erweckte, denen das Wort zur Waare wurde; — das Geschlecht derselben ist noch jetzt nicht erloschen. Diese Leute übernehmen für Geld die Verpflichtung, zu reden; ja, Einige drängten sich in die politischen Versammlungen, ohne dazu berufen zu sepn, und verlangten dann von den Comites den Preis ihrer Reden, den man ihnen selten abschlug. Der beste Redner war der, welcher am besten die Leidenschaften zu erregen wußte; ein solcher war immer sicher, im voraus zum Sprechen aufgefordert und für seine Mühe gut bezahlt zu werden. Die größten Uebertreibungen waren nur zu oft geeignet, lärmende Volks-Mani festationen hervorzurufen; die Redner verloren dadurch an Ruf nicht. Sie gingen von Ort zu Ort, kramten ihre neuen Systeme aus und überluden sich mit Essen und Trinken auf Kosten der leichtgläubigen Menge. Mit solchen Bundesgenossen konnten wir weder eine feste äußere Haltung, noch feste Prin zipien bewahren. Die neuen Redner vermehrten sich um uns, und man ent warf eine Menge von Plänen, die von denen, welche einst die Hampden- KlubS vorgeschlagen hatten, gar sehr abwichen. Das Volk, das seine Freunde nicht von seinen Feinden zu unterscheiden wußte, lieh bald den Angebern sein Ohr Leuten, die, um sich eine Bedeutung zu verschaffen, ganz natürlich die Anstifter von Komplotten und anderen Verbrechen werden. Sehr Viele von uns vergaßen jene treffliche Marime unseres tapferen Majors Cartwright: „Gehorchet den Gesehen." Bamford war so klug, einem Meeting, das im März 181« stattfand und welches man damals mit dem Namen des „Decken-Meeting" bezeichnete, nicht beizuwohnen. Drei- bis vierhundert Weber, deren Jeder eine wollene Decke an den Schultern befestigt und einen dicken Stock in der Hand hatte, begaben sich zu diesem Meeting, entschlossen, wie einer von ihnen sich ausdrückte, nach London zu gehen, „die Nation an die Hand zu nehmen und die Staatsschuld in Ordnung zu bringen" (tske tke nmion »n bans snd zettle an tbe (lebt). Diese Schüler Cobbctt's wurden von den Beamten bald zerstreut. Das Miß lingen dieser Unternehmung erregte große Unzufriedenheit bei denen, die daran Theil genommen, und wenige Tage darauf wurde Bamford eingeladcn, sich ihnen anzuschließen, um an den Beamten und ihren Agenten Rache zu nehmen, indem sie auS Manchester ein neues Moskau machen wollten. Bamford zog hierüber seinen Freund, den Doktor Healey, einen Arzt, den wir bei den fol genden Ereignissen in den vordersten Reihen figuriren sehen, zu Rathe. Beide entschieden sich zuletzt dahin, daß dies eine sehr bedenkliche Sache wäre, in die sie sich nicht einlaffen könnten, ohne die Genehmigung des Major Cartwright erhalten zu haben. Sie antworteten jedoch dem an sie abgcsendcten Boten, daß man auf ihre DiScretion rechnen könne, und erwarteten das Ereigniß in der furchtbarsten Angst. Am Abend vor dem Tage, an welchem der Brand- stiftungSplan ins Werk gesetzt werden sollte, zogen sich die beiden Freunde in ein von Manchester ziemlich entferntes Dorf zurück; aber dieses Komplott scheiterte an den schlechten Anordnungen der Verschworncn und an der geringen Theilnahme, die sie selbst unter den Leuten sanden, welche ihnen zu folgen ge- wohnt waren. Sie entsagten darum ihrem Plane nicht. Da in Folge der Suspension der HabeaS-CorpuS-Akte der Wächter der Kapelle, in welcher die Patrioten von Middleton bis dahin ihre Versammlungen gehalten, sich weigerte, sie länger aufzunchme», so mußten sie die Sache anders anfangen, um ihre Pläne zur Ausführung zu bringen: man bildete verschiedene angebliche Wohl- thätigkeitS- oder botanische Gesellschaften, deren nur den Eingeweihten bekann- ter Zweck der Brand Manchesters war. Doch die Behörde war einmal auf merksam geworden, und die Häupter der Radikalen sahen sich genöthigt, zu fliehen. Cobbett ging nach Amerika, und auch Bamford und Doktor Healey irrten einige Wochen lang von einem Versteck zum anderen umher. Als Bam ford wieder nach Hause zurückgekehrt war, wurde ihm ein neuer Plan zu einem Gewaltstreichc mitgetheilt, den er aber sofort verwarf, wobei er merken ließ, daß er hinter allen diesen verabscheuungswerthen Plänen einen Regierungs- Spion vermuthe. Noch heute ist dies seine Ansicht, die aber nicht hinreichend begründet scheint; denn dieses im Frühling des JahreSl8l« entworfene Komplott,