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WSchentlich erschein«, drei Nummern. Pränumeration--Preis 22j Silbergr. (^ Thlr.) vierteliährlich, Z Thlr. für da« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen Ler Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von seter Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Jägerstraße Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Aemtern, angenommen. Literatur des Auslandes. 87. Berlin, Dienstag den 22. Juli 1843. England. Briefe von der Reise. VI. Uebersahrt nach England. — Dover und der erste Anblick de« Lande«. — Engländer ans Reisen. — Rational - Charakter. — Theoretiker in Deutschland, Praktiker in Großbritanien. — Uebcreinstimmungen und Verschiedenheiten beider Völker. — Deutsche und Franzosen, germanisches und romanische« Element in England. — Handelsbeziehungen zum Zollverein. — Gegemrärtlge Blüthc deS Lande«. — Der innere Verkehr und die Eisenbahnen. — Die Londoner Polizei. Nachdem ich Sie in meinen beiden letzten Briefen von dem großen Meeting zur Gründung eines deutschen Hospitales in London und von dem noch größeren Meeting der britischen Naturforscher in Cambridge unterhalten, möge cs mir jetzt »erstattet sepn, zu den ersten Beobachtungen meines Aufent- Halts in England, ja zu meiner Ankunft selbst zurückzukehren. Wem eine längere Seereise mit vielen Beschwerden verknüpft zu sepn pflegt, dem würde ich es jetzt sehr verdenken, wenn er vom Innern Deutsch, lands aus über Hamburg oder über Rotterdam und von da zu Schiffe den Weg nach England nehmen wollte. Eisenbahnen haben auf beiden Seiten deS Meeres die Landwege so abgekürzt, daß diese kaum noch in Anschlag zu brin gen find, und von Ostende nach Dover dauert die Uebersahrt bei günstigem Wetter, wie ich es gehabt, nicht länger als 4, Stunden, während welcher nicht ein einziger Passagier auf unserem Dampfboote, der „Prinzeß Marp", seekrank gewesen. Und wie reich ist diese kurze Seefahrt an Abwechselungen! Man fährt, nachdem man im Angesichte des mit Badegästen bedeckten schönen HafcndammeS von Ostende, an dessen Spitze jetzt auch ein thurmhoher die ganze Umgegend beherrschender Pavillon erbaut wird, die belgische Küste ver. lassen, an der französischen bei Dünkirchen, das man vor sich liegen sieht, und Calais vorüber, erblickt bald darauf die hohen Kalkfelscn Englands mit dem Leuchtthurme von Margate und mit der üppigsten Vegetation auf der Höhe der Meeresküste, die gegen die kahlen Dünen des gegenüberliegenden Frank- reichS und Belgiens nicht wenig absticht, und fährt dann, aus der Ferne schon von der hohen Burgruine des alten Seeforts begrüßt, in die halbkreis förmige Bucht ein, in deren Hintergründe die Stadt Dover am Abhange des Berges amphitheatralisch sich erhebt. ES ist der imposanteste Eingang, den das stolze Albion, besonders dem nicht minder stolzen Frankreich gegenüber, sich erwählen konnte. Und der Eindruck dieses ersten Anblickes setzt sich fort, wenn wir in Dover die Wagen der Eisenbahn besteigen, die bei Folkfione an der Seeküste entlang zwischen den Felsen, von denen Dover eingeschloffen ist, sich hindurchwindet und bald die Aussicht auf das bewegte Meer, bald einen Blick auf die lachende mit Schlössern und Parks bedeckte Landschaft gewährt und sich dann wieder im Dunkel der Berge vertieft, die von fünf Tunnels durchschnitten werden, welche zusammen eine Länge von mindestens einer deutschen Meile haben. Wenn man auf diese Weise in England eintritt, so wirft man sich bald die Frage auf, was die Bewohner dieses schönen Landes eigentlich bewegen mag, in wahren Völkerwanderungen nach den Bergen und Thälern des Auslandes zu strömen, da sie doch selbst die malerischsten, die eS geben kann, zuhause besitzen? Die Engländer sind bekanntlich das reiselustigste Volk in der Welt; sehr viele von ihnen haben den Rhein, die Seine, den Tiber, den Tajo, ja den Ganges gesehen, ohne doch im eigenen Lande über die Themse hinaus gekommen zu sepn. Es gehört das Reisen bei ihnen zu den Lebens-Episoden, die man eben so durchgemacht haben muß, wie gewisse Kinderkrankheiten. Und dabei zählt das Reisen im Jnlande durchaus nicht mit. Daheim sind sich alle Menschen gleich: der Charakter der Briten ist nach einer und derselben Form zugeschnitten, allerdings nach einer gediegenen, aber das ewige Einerlei ermüdet, und so entflieht der Engländer sich selbst, indem er das Ausland aufsucht. Südlichere Völker: Franzosen, Jtaliäner, Spanier, unter denen eine größere Lebendigkeit auch eine größere Mannig faltigkeit der Charaktere erzeugt, reisen lange nicht so viel als Engländer und Deutsche. Ja in Deutschland selbst reisen wieder die Süddeutschen weniger als die Norddeutschen, weil Jene weniger als Diese das Bedürfniß empfinden, unter anderen Menschen, d. h. unter Charakteren sich z„ bewegen, die mehr Abwechselung darbieten, als die Alltagsmenschen zuhause. Doch dieser Alltags-Charakter der Briten hat, wie gesagt, einen ge diegenen Zuschnitt. DaS Ich macht fich freilich überall bemerkbar °) — und -j Nicht« hör! man häufiger aus dem Markte Ivie im Parlament, al« die Worte „I „7" lich sage), die ost ganz allein hingeworfen werden, um für den Sprechenden zwar bekanntlich immer mit einem großen Buchstaben, wie er in dem Höf- lichen Deutschland nur den angeredeten Personen verliehen wird, was in England nie geschieht — aber eben weil das Ich überall hervortritt, hat cs fich auch auf das Höchste ausgebildet, ward es praktisch in allen Thätig- keiten, die der Individualität Bedeutung verleihen können. Das englische Volk ist das geworden, was es ist, weil cS ein Volk von praktischen Individuen ist, von Individuen, die den Werth der Thättgkeit — der setivene«« — sehr wohl zu schätzen, die dabei aber auch zu berechnen wissen, um wie viel größer die vereinigte Kraft als die vereinzelte ist, um wie viel mehr das Ich vermag, wenn eS mit anderen gleich thätigen Jchs zu demselben Zwecke fich verbindet. Daher die Erscheinung, die uns hier überall begegnet: einerseits das stolze Zurückziehen auf fich selbst und sein Haus, und anderer- seitS das korporative Zusammentreten zu gemeinschaftlicher Wirksamkeit, von der Straßenrcinigungs-Association an bis zu der ganze Welttheile beherr schenden ostindischen Compagnie. Der Engländer geht freilich zuweilen in seiner Schätzung deS Praktischen etwas zu weit: er glaubt, daß nur ein Mann vom Fach auch ein guter Kritiker seines Faches sey, und daß dieser, weil er die Hebung der PrariS hat, auch die allgemeinen Beziehungen der Sache besser verstehen müsse, als irgend ein wissenschaftlicher Theoretiker. Die Geschicklichkeit der Hand dünkt ihn in allen Dingen eine größere Bürgschaft als die des Kopfes. Wir Deutschen verfallen in den umgekehrten Fehler, indem wir gerade in den wichtigsten Angelegenheiten nach allgemeinen Theorieen entscheiden und den Mann von Fach als einen vorgeblich Einseitigen unbeachtet lassen. Kein Gesetz wird im englischen Parlamente erörtert, möge eS nun Schulen oder Eisenbahnen, den Handel oder die Armen betreffen, ohne daß vorher in den Ausschüssen die Meinungen der Sachverständigen nach allen Seiten befragt worden. Das geht allerdings so weit, daß, wenn etwa ein neues Theater errichtet werden sollte, Schauspieler gerufen werden würden, um ihre Mei- nung über den Platz, auf, so wie über den Plan, nach welchem cS erbaut werden soll, abzugeben, welche Meinung dann auch höchst wahrscheinlich den Ausschlag geben würde, denn die Schauspieler find ja Männer vom Fach. Bloße Praktiker entscheiden aber in der Regel so, wie es ihrem besonderen und persönlichen Jntcreffe entspricht, das nicht immer mit dem deS allge meinen Besten zusammentrifft, während der Staatsmann, wie der Mann der Wissenschaft, von höheren Gesichtspunkten ausgehen und dabei nicht sowohl seinen eigenen als der Gesammtheit Vortheil im Auge haben soll. Allerdings wird er, wenn er diesen wirklich im Auge hat, auch die Stimmen der Prak- tiker nicht unbeachtet lassen; er wird sie vielmehr vollständig anhören und erst nach gewissenhafter und allseitiger Prüfung entscheiden. Ich bin — wie ich eben wahrnehme — von meiner Erzählung ganz abge- kommen; ich wollte etwas über meine ersten Beobachtungen auf englischem Boden mittheilen und gebe dafür allgemeine Betrachtungen, die sich eben so gut auf mein eigenes Vaterland als auf England beziehen. Welcher denkende und sein Vaterland liebende Deutsche könnte aber auch hier einen Schritt thun, ohne Deutschlands zu gedenken, und zwar der vielen Beziehungen halber, in denen beide Länder mit einander übereinstimmen — ja übcreinstimmen bis zu einem gewissen Punkte, von wo sie dann um so entschiedener auseinandergehen. Deutschland ist eS, das auf sittlichem wie auf praktischem und industriellem Gebiete Englands Lehrer war. Deutschen Ursprungs sind Englands eigen- thümlichste Institutionen im Staate und in der Gemeinde: seine ständische Ver tretung wie seine Geschworenen, seine Aldermen (Aeltermänner) wie seine Gilden, deren deutscher Name fich noch in der Gildenhalle (kuildknll) erhalten hat. Deutschland sandte den Engländern im 13. und 14. Jahrhundert von Gent und Brügge aus die Webstühle und Weber, die den Grund zu Englands heutiger Fabrikenmacht gelegt, und von Deutschland aus find die religiösen Ideen geweckt worden, die noch heutzutage das protestantische England er füllen und bewegen. Wie verschieden aber find die Erfolge, die auf allen diesen Gebieten Deutschland und England davongetragen! „Our «>«te»i work« well", sagt der Engländer, und mit diesem „trefflich arbeitenden Systeme" meint er nicht etwa ein System wie eS unsere, die Wissenschaft wie das Leben zu beherrschen wähnenden philosophischen Schulen aufstellen, sondern größere Aufmerksamkeit zu erregen. Dem Kellner, von dem man etwa« verlangt, ruft man „I «az," zu, und er ist augenblicklich bei der Hand. Und wenn man im Unterhaus« die Zuhörer bereit« ermüdet Hal, so beginnt man einen neuen Saß mit dec Phrase: „Lio« I «LZ,, dir. 8p«»ie-r eto." lNun sage ich, Herr Sprecher u. s. w.j. Das ge nügt, um dem Redner neue Aufmerksamkeit zu verschaffen, denn c« ist ein stillschweigender GeseUschasl«vertrag in England, da« sremde Ich eben so zu achten wie da« eigene.