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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PränumerationS-Preis 22^ SUöergr. (< Thlr.) vierteljährlich, Z Lhlr. für das ganze Jahr, ohne Erhöhung, i» atlen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit ü. Comp., Jägerjlraße Nr. 23), so wie von allen König!. Post-Aemteen, angenommen. Literatur des Auslandes. 70. Berlin, Donnerstag den l2 Juni L84S. Frankreich. Die Rolle des Volkes in dem historischen und Nativnaldrama. °) lNach einem Aussage Maron'S in der kevue lullögenäante.) Die romantische Schule in Frankreich versprach unter anderen schonen Dingen, die Literatur mit wahren Nationaldramen zu beschenken, in denen die alten französischen Könige und Ritter wieder aufleben und vorzüglich dem Volke derjenige Platz zugewiesen werden sollte, den eS in der Geschichte ein- nimmt. Dies nämlich, sagte sie, wäre bis dahin noch nicht geschehen, ja selbst von Corneille, Racine und Voltaire nicht einmal versucht worden, und nachdem sie mathematisch bewiesen hatte, daß Cinna nicht aus der Gascogne, Agrippina nicht aus der Normandie sey und Oedipus keineSweges in Bur gund das Licht der Welt erblickt habe, erhob sie ein Siegesgeschrei unp ver kündete, in dem klassischen Drama der Franzosen fehle das nationale Element. Darauf begeisterte sich die romantische Schule für die Griechen, die Spanier und Shakespeare, und erklärte, daß sie bei ihnen die Muster für historische und Nationaldramen fände. Und hießen nicht in der That die griechischen Helden Ajar und Agamemnon, waren die spanischen nicht im Herzen Anda lusiens und CastilienS geboren, nannten sich nicht Shakespcarc's °°) Haupt. Personen Herzoge von Jork und Lancaster, John und William, die von London nach Salisbury, aus Northumberland nach Straffordshire reisten? Was aber die Romantiker vor Allem an jenen Dichtern schätzten, war die Liebe derselben zum Volke, denn Shakespeare und Lope de Vega hatten in ihren Stücken manchmal einen Handwerker zur Sette eines Königs anftreten lasten. Darum sagte man, sie seyen unter allen Dichtern am freiesten von Vorurtheilen und am wenigsten aristokratisch. Sonderbar, daß jene Schule sich mit solchen Argumenten einen Anhang verschaffen konnte. Selbst jetzt giebt cs noch Leute, die sich einbilven, eS sey kein Theater mehr historisch und national, als das griechische, keines popu- lärer, als Shakespearc'S und Lope'S. Sie vergessen, daß das griechische Drama ein Gewebe von Balladen und Mythen ist, daß das Shakespearesche die Aristokratie verherrlicht auf Kosten des Volkes und der Könige, und das Lopesche dem Königthume Weihrauch streut zur Demüthigung des Adels und des Volkes. Wir können nicht alle Dramen populär und national nennen, deren Per sonen in dem Vaterlande des Verfassers geboren find, und die uns dessen Sagen und Geschichte erzählen, sondern nur diejenigen, in denen der Geist jenes Landes wiedergcgebcn wird, in denen das Volk wirklich die große Rolle spielt, die ihm in der Geschichte zukommt, und die bewegende Ursache der Ereignisse, nicht ein blindes Werkzeug ist. Von dieser Seite betrachtet, ist das klassische Drama der Franzosen eben so national als das griechische, und nationaler als das englische und spanische. Weil die Helden Corneille'» und Racine's keine Franzosen sind, braucht ihnen darum noch nicht der französische Geist zu fehlen. Gerade das LobenSwerthestc an ihnen scheint uns, daß sie im Gewände des AltcrthumS auftraten und hinter ihrem mythischen Schleier Manches sagen konnten, was man ihnen sonst verboten haben würde. Wenn wir nun die verschiedenen sogenannten Nationaltheater genauer be trachten, so werden wir bei den Griechen ein weniger historisches und weniger nationales Drama finden, als gewöhnlich behauptet wird, und bei den Eng ländern und Spaniern in ihren angeblich volkSthümlichen Stücken gerade das Volk die miserabelste Rolle spielen sehen. Hieraus wird uns dann klar werden, daß solche Stücke auf den Geist, die Sitten und die soziale Politik der Nationen einen schädliche» Einfluß üben mußten. I. Die athenischen Dramen sind fast sämmtlich aus Homer und de» Rhapsoden geschöpft. Es ist darum lächerlich, dem Sophokles, AeschyluS und Euripides ein so großes Verdienst daraus zu machen, daß sie nur griechische Helden und keine anderen besungen haben, den» sie thaten, was jeder drama tische Dichter th»n muß; fic sprachen zum Volke von dem, was ihm bekannt und lieb war. Die Tragöden benutzten Homer und Hesiod, nicht weil die selben von Griechen sprechen, sondern weil die Werke der epischen Dichter das ') Wir geben hier unseren Lesern eine Probe französischer Kunstkritik aus einer der geachte«sten Zeitschriften. Ihrem Urthcile über dieselbe wollen wir nicht vorgrcisen. "j Es sind hier und im ganze» Verlaufe des Artikels immer nur die historische» Dramen Shakespcare's gemeint. einzige literarische Besitztum der Menge waren. Was sie von Religion, Wissenschaft, Geschichte wußte, hatten sie jene Gedichte gelehrt. Die geo graphischen Kenntnisse waren sehr gering, und trotz den Reisen Solon'S und anderer Gesetzgeber kümmerte man sich in Athen um diejenigen Länder, welche weit über Homer's Europa und Asien hinauslagen, eben so wenig, als unsere Ahnen vor einigen Jahrhunderten um Indien und China. Die außermythische Geschichte wurde dem Publikum nur sehr langsam bekannt, und Euripides zog, als er mit seinen Stoffen zu Ende war, einfache Episoden aus der Jliade vielen interessanteren und dramatischeren geschichtlichen Ereignissen vor. ES war auch kein nationales Vorurtheil, das die griechischen Dichter abhielt, ihren Stoff aus der Geschichte fremder Länder zu wählen, denn der Prome theus des AeschyluS z. B. ist kein Athener, nicht einmal ein Grieche, sondern ein Acgypter, cs war vielmehr eine völlige Unkenntniß der Geschichte und Poesie anderer Völker, und das natürliche Streben, von Dingen zu reden, welche den Zuhörern nicht völlig fremd find, besonders wcnn dieselben einen Preis zu verthcilen haben. Das athenische Theater (ein anderes nämlich gab es in Griechenland nicht) war, wie gesagt, durchaus nicht ausschließend national. Alle Helden der Ilias, welchem Theile von Griechenland sie auch angehören mochten, fanden dort ihren Platz. Diomedes balgt sich mit Ajar auf der athenischen Bühne, Herkules genießt dieselbe Achtung als Theseus, und Ulysses tritt öfter auf als Jason. Die Leiden der Familie Agamemnon s werden von allen drei attischen Tragikern dramatifirt, und dennoch ist Argos eine Rivalin Athens. Die beiden Städte, die ungleiche Gesetze und entgegengesetzte Tendenzen haben, lieben einander nicht sehr. Deshalb konnte ein Trauerspiel über die Atridcn die Athener nicht mehr interessiren, als der Tod des Marino Faliero die Florentiner. Man nahm an jener Familie nicht als Grieche, sondern als Zuschauer Antheil, der die Anmulh Iphigeniens und die Größe Agamemnon's bewunderte und von der Reue des Orestes erschüttert wurde. Den thcbanischen Heroen hätte eS vor allen anderen schwer werde» sollen, in Athen Popularität zu erlangen, denn Theben hatte keinen Antheil an dem großen Kriege Griechenlands gegen Asien und Troja genommen, und war auch schon in dem Epigonenkricge von den vereinigten Griechen einmal zer stört worden. Seit jener Zeit blieb es den griechischen Interessen so fremd, daß cs bei der persische» Invasion dem Schutz- und Trutzbunde der übrigen Staaten gegen Xerres nicht bcitrat. Das thcbanische Volk scheint also mit den Stämmen, von denen es umgeben war, nur den Ursprung und die Sprache gemein gehabt zu haben, und dennoch hat das athenische Theater diesem Volke seine vollkommensten und beliebtesten Figuren entlehnt, wir meinen den Oedipus und die Antigone. Zwar schließen sich an dieselben auch rein athenische ; aber um wie viel weniger erhaben find diese dargestellt! Die griechischen Tragiker wählten alle ihre Stoffe aus der mythischen Zeit, und auch daraus läßt sich schließen, daß sie nicht gerade die Absicht hatten, Nationalvramcn zu schreiben. ES wäre ihnen ein Leichtes gewesen, Thatsachen aus der wirklichen Geschichte ihres Vaterlandes zu benutzen ; aber sie blieben in ihrem Sagenkreise, weil sie eben nur Gedichte machen wollten. Warum haben sie statt Agamemnon's und Ajar' dem Volke nicht KodruS, den Retter Athens, vor Augen geführt, warum HippiaS und Aristogiton ver gessen, warum in ihren Dramen niemals das Wort Republik ausgesprochen und immer Könige zu ihren Helden gewählt. Weil KodruS und Aristogiton rein historische Personen waren und die Republik existirte. Was aber als Gewohnheit vorhanden ist, davon spricht man am wenigsten. Das griechische Drama bleibt stets in den Höhen der Poesie, und es find große Ereignisse nöthig, damit cs von der Gegenwart Notiz nehme. So mußte die Schlacht von Marathon geliefert werden, um AeschyluS zur Ab fassung der Perser zu bewegen. Aber selbst, wenn das Drama Tagesereignisse schildert, verläßt es die allegorische Form nicht, sondern sucht alte Prophe zeiungen hervor oder erfindet welche. Es drohte Theben mit dem Schatten des Oedipus, als Theben Athen bedrohte; eS beschwor eine Weissagung des Herakliden Eurysthcus herauf, um Argos zu schrecken, als cs sich Sparta näherte. Hierauf beschränkt sich aller Antheil, den die alte Tragödie an den Zeitbegebenheitcn »ahm. Sie besingt die Siege der Nation, sie droht den Feinden des Vaterlandes; aber sie sieht Alles mit Dichteraugen. Ihre ernste, Frieden athmende Philosophie schwebt stets in höheren Regionen, ihre Moral ist eine theoretische, keine, die je von der Masse könnte befolgt werden. Soziale Politik kennt sie nicht; höchstens erscheinen Spuren derselben bei Euripides im Gewände sokratischcr Grundsätze. ES wäre aber auch den Trauerspieldichtern schwer geworden, die Politik des Tages in ihre Stücke