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WöchmHick erscheinen drei Nummern. Pränumeration--Preis 221 Silbergr. (1 Thir.) vierteljShrtich, 3 Thir. für da- ganze Jabr, ohne Erhöhung, in alten Theilen her Preußischen Monarchie, Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Beit u. Comv., Jägerstraße Nr. 25), so wie von allen Königs. Post-Aemlcrn, angenommen. Literatur des Auslandes. 41. Berlin, Sonnabend den 5. April 1845. England. Gegenseitiger Einfluß der Gesellschaft und der Literatur Frank reichs und Englands im 18. Jahrhundert.") Wie Ideen auf Ideen, eine Literatur auf eine andere gewirkt habe, das läßt sich in den Büchern vergangener Zeiten nachweisen; aber von dem leben digen Einfluß des Menschen auf den Menschen, der Gesellschaft des einen Landes auf die des benachbarten verschwinden die Spuren, wenn eine neue Generation die vorangegangene zu Grabe getragen. Nicht in der eigentlichen Literatur wird man flndcn, welchem Boden die von der Geschichte berichteten Thatsachen entsprungen sind, welche Art von Leben sie umgab, sondern in Zeitungen, ungedruckten Korrespondenzen und Tagebüchern. Solchen und keinen anderen Nutzen haben die jüngst in London veröffentlichten Briefe der Mrs. Piozzi, Garrick s und Selwyn's. Selwpn'S Korrespondenz hat durchaus keinen absoluten Werth. Er nahm an den literarischen und politischen Bewegungen seiner Zeit nicht Theil unv war in keiner Hinsicht ein Mann von Bedeutung. Höchstens darf ihm nach- gerühmt werden, daß er Geist oder vielmehr Geistesgegenwart in der Unter haltung zeigte, eine schöne Sammtweste und überhaupt eine geschmackvolle Einfachheit in seinem Anzüge besaß, daß er phlegmatisch genug war, keine Ansprüche zu machen und Niemanden zu beleidigen, und, wenn er zuweilen das Bedürfniß fühlte, sich aufzuregen, den Spieltisch aufsuchte oder nach Tpburn ging, um einen Delinquenten ausknüpfen zu sehen. Die Exzesse, die er sich erlaubte, waren friedlicher Natur, sein Spiel hatte nichts Leidenschaft liches, seine Liebschaften waren kaum der Rede werth. Etwas Ernstes und Wichtiges kommt in Selwyn's Briesen nicht vor ; man erfährt, daß sich Lady Hervey Equipage angeschafft hat, daß sich dieses oder jenes Ehepaar scheiden lassen will, daß bei White an der Spielbank ein Skandal vorgefallen ist u. dgl. m. In diesem Kreise bewegen sich die Gedanken Selwpn'S und seiner Freunde. Walpole, der Heros ihrer Zirkel, erhebt sich ein klein wenig über sie; er sammelt und erzählt Neuigkeiten, wird indcß nicht selten darum von seiner Clique aufgezogen. Er ist ein Freund der Mad. Dudeffant in Paris und führt bei dieser alten gelangweilten Frau Selwyn, den großen Mann mit dem souverainen Lächeln, ein, dessen Körper sich wiegt wie eine Weide und an dessen halb geschloffenem Auge alle Dinge ohne merklichen Eindruck vor übergehen. Seine Züge find kalt, seine Haltung ist vornehm nachlässig, sein Anzug prunklos und nett. Dieser Mann nun, der Alles hören kann, ohne eine Miene zu ändern oder auch nur ein Zucken zu verbergen, der nur zu weilen eine beißende Bemerkung fallen läßt, ist der geistreiche, der Mann nach der Mode im Jahre 1750. Man bewunderte ihn, wenn er sprach und wenn er schwieg ; er konnte sagen: „eS ist heute heiß", und man sand diesen Ausspruch tief gedacht. Wir sehen ihn, wie er eben hundert Guineen im Faro verloren hat. Er nimmt seinen Freund For beim Arme und geht mit ihm lustig und guter Dinge in die Kammer, er, um auf den Bänken der Minister zu schlafen, Fox, um herrliche Reden gegen diese Minister loszulaffen. Darauf sucht er in den Seitengängen des Oberhauses seinen ebenfalls guten Freund, den schottischen Lord March, auf, einen kleinen, behenden Mann mit graulichem Haar, der ihn zu einer seiner Obalisken führt; denn er könnte einen ganzen Harem füllen mit seiner Zamperini, Tondino, Rena, seinen Misses Helena, Barbara und neunzehn anderen. Die Jtaliänerinnen siegten in des LordS Herzen, unter ihnen besonders die Venetianerinnen und unter diesen die Zam perini, deren neckische, zigeunerhafte Schönheit Reynolds durch ein prächtiges Portrait verewigt hat. Zu ihr wird Selwyn zum Souper geführt; er ist ein so guter Junge, ein so ungefährlicher Hausfreund! Daß ein Mensch, wie Selwyn, historisch werden konnte, ist freilich zu verwundern. Aber seine Briefe beschreiben die französische und die englische Gesellschaft, die Salons der Mad. Dudeffant und der Lady Hervey. Man sieht in ihnen, wie sich zwei Länder berühren, die eigentlich einander neu find. Ich habe oft literarische wie politische Historiker darüber zur Rede ge stellt, daß sie ein Stück von Europa, getrennt von allen übrigen Ländern, zum Stoff ihrer Werke machen. Ich glaube, daß ein isolirtcr Punkt, aus seinen gleichzeitigen Umgebungen herausgeriffen, keine Geltung hat. Die ') Nach Phüar. ChaSIe«' Darstellung der englischen Lileraturgeschichte im IN. Jahr- Hunden. Schilderungen Frankreichs im 16. Jahrhundert werden unvollständig seyn, so lange man nicht alle Fäden verfolgt hat, die Deutschland und Italien in jener Zeit an Frankreich, England und Spanien knüpften. Dies zeigt sich zumal im Boltaireschcn Jahrhundert; wie wechseln da die Stimmungen in Frankreich, wie bewegt und überstürzt sich Alles, während das England Bo- lingbroke's und Chatham's die Triebfeder dieser Bewegungen in sich schließt. Man muß beide Länder studiren, um fie trennen zu können. England im 18. Jahrhundert ist ein prächtiges Studium, aber so verwickelt, daß man eS wiederum nur verstehen kann, wenn man das gleichzeitige Frankreich nicht nur in seinen Büchern, sondern vorzüglich in seinen Sitten kennen ge lernt hat. Die Ausgabe ist nicht leicht, denn wie sehr sich beide Nationen auch zu vermischen scheinen, so gleichen fie doch einander sehr wenig. Während in Frankreich die Regentschaft und die weichliche Negierung Ludwig's XV. das Volk über dem Abgrund wiegten, ging es in der englischen Gesellschaft dra matisch und tragisch her. In allen Ständen, bei den handeltreibenden whiggistischen Bürgern, bei den ehrgeizigen TorieS, bei den eckigen Metho disten zeigte sich eine lebhafte politische und moralische Aufregung. Selbst die Verderbtesten, z. B. der Herzog von Wharton, hatten einen romantischen Anstrich. Er war emphatisch im Laster, wie eS sein Freund Joung in der Poefie war. Keine Fähigkeit gab cs damals, der nicht Raum wäre gegeben worden, sich zu entwickeln, keinen fremdartigen Geschmack, der nicht seine Verehrer gefunden, keinen Ehrgeiz, der nicht seinen Anlauf genommen hätte. Im Schlosse zu Newbury feiert der lüderliche Wilkes am Hellen Mittag hinter verhängten Fenstern im Glanze von zwanzig Kerzen seine Orgien und giebt dem Lehnsherrn des Ortes den Ritterschlag des Atheismus. In London und Westminster lausen die Bürger.Frauen und Töchter zu einem Heiligen, dem Linner «sveü, der ihren Augen so viele Thränen entlockt und ihre Seelen so bell erleuchtet und den endlich die Witwe des LordmayorS heiratet. Sheridan trinkt, Selwyn spielt, Richardson unterrichtet die Frömmler, Fielding studirt die Spitzbuben, Burke hält glänzende Reden bei Banketten, Horace Walpole macht Jagd auf alte Portraitö, Gray weint, Foote lacht, Sterne träumt, Clive steckt ein Viertheil von Hindostan in Englands Tasche, Nord-Amerika macht sich frei, und Franklin geht am Ufer der Themse spazieren und spottet der Engländer. Von 1710 bis 1790 haben Hunderttausende in Großbritanien diese Stimmungen und Leidenschaften durchgemacht, aber diese englische Ge schichte in hundert verschiedenen Färbungen ist nicht ausgeschrieben worden, nicht einmal von den Engländern selbst. In Frankreich geht die Geschichte einen leiseren Schritt, aber auf schlüpf, rigerem Wege. Noch war eS nicht lange her, daß Ludwig XIV. ganz Europa Gesetze vorgeschrieben hatte; aber mit dem Alter des Königs ward auch der französische Einfluß schwächer. ES war eine traurige Zeit. Campistron kopirte Racine, Fontenelle war ein großer Mann, die fromme Dummheit des Herzogs von Anjou, der König von Spanien geworden war, entehrte seinen Großvater und seinen Thron. Der Enkel Ludwig XlV., sagte ein Diplomat sehr richtig, ging einher, in der Tasche der Herzogin von Ursini das Scepter haltend. — Die Gesellschaft desorganisirte sich in Frankreich, während fie sich in England organifirte. Paris wiederhallte von Beifall über die traurige Lustigkeit, mit der im Turcaret die entarteten Sitten bespöttelt wurden, wäh rend in London Addison Minister wurde, weil er eine Zeitschrift voller Würde und Anmuth, den Lpsctator, herausgab. — Frankreich wurde schlecht verwaltet und machte dreimal hinter einander Bankerott, England ward herrlich admi- nistrirt und gründete den Amortisationsfond, die Banken und die Sparkassen. Frankreich nahm wie ein ruinirter Verschwender seine Zuflucht zu Wucherern, England war, wie ein ökonomischer Bürger, vorsorglich in seinem Ueberfluß. So ging in Frankreich die Monarchie zu Grunde, und so wuchs die Herrschaft des Parlaments in England. Es wäre überflüssig, den damaligen Gegensatz der englischen und französischen Gesellschaft noch weiter zu verfolgen, und der Professor Schlosser in Heidelberg hat sicher Unrecht, wenn er in seiner Ge schichte des l8ten Jahrhunderts behauptet, daß zu jener Zeit England und Frankreich völlig eins wurden an Sitten und Ideen. England war nie fran zösisch, und Frankreich wird, trotz aller Anglomanie, nie seine Eigenthümlichkeit aufgeben. Das Verhältniß beider Länder zu einander ist aus Zu- und Ab neigung zusammengesetzt. Woher aber diese stete Sonderung und Abstoßung gekommen sey und zu welchen Folgen sie geführt habe, das erlaube man uns in den folgenden Zeilen zu untersuchen. Es gab im I8ten Jahrhundert in England eigentlich keine Salons, aber Klubs, Bälle, Theater, Schlösser, einen Senat und im Hintergründe das häuS-