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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration» - Preis 22, Sildergr. (1 Thlr.) vierteljährlich. 3 Thlr. für da» ganze Jahr, ohne Erhöhung, in aUen Theilen der Preußischen Monarchie. M Literatur agazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Belt u. Comp., Jägerstrake Nr. 25), s» wie von allen König!. Post - Aemtern, angenommen. des Auslandes. 3. Berlin, Sonnabend den 11. Januar 1843. England. Ein neues Werk von Boz. Wie vor einem Jahre den Weihnachten, hat Dickens nun den JahreS- wech.el zu einer GelegcnheitSschrift benutzt, die in einem halb phantastischen, halb launigen Tone gehalten ist und gleich seinen früheren Produkten unter scherzhaftem Gewände einen philanthropischen Zweck verbirgt. Er nennt dieses neue Werk: Das „Glockenspiel, eine Koboldsgeschichte von einigen Glocken, die das alte Jahr aus- und das neue cinläuteten." Dem Glockenspiel (clümes, franz, esrillvn) der englischen und besonders der Londoner Kirchen ist von jeher in den altenglischcn Volksliedern und Sagen eine gewisse mystische Bedeutung zugeschriebcn worden, und man hat seinen Tönen oft gewisse Worte unter gelegt, die man darin zu hören glaubte. In England kennt Jedermann die Geschichte des armen Whittington, der, vom Schicksal gcmißhandelt, im Be griff steht, London zu verlassen, als er plötzlich den Ton des vow-vell ver nimmt — jener berühmten Glocke (der Kirche 8t. Mar^-Ie-8ovv in Cheapssde), deren mächtiger Schall über ganz London ertönt, so daß der Ausdruck: bora vvitb'm tbe 30liml ok vorv-kelt, so viel als: in London geboren, heißt. Durch die Töne betroffen, horcht er näher auf sie und findet, daß sie ihm ganz deutlich die Worte: l'unu »xnin, 4Vtttbtiuxton! Hirioe 31«i^or ok L-vu6oll to>vu ') zurufen; er kehrt um, das Glück wird ihm günstig, Alles gelingt ihm, und er stirbt als Sir Richard Whittington und Lord-Mayor von London. Eben so hat man Lieder, worin sich die Hauptkirchen London'S zusammen unter halten und die Melodie in einer Nachahmung ihres Glockenspiels besteht. Wie gern der Volksglaube noch einige Bedeutung an diese Glocken knüpft, beweist der Umstand, daß, als vor einigen Jahren die Londoner Börse abbrannte, man mit vielem Interesse die Thatsache hervorhob, daß die cbünes derselben zuletzt noch die Melodie dcS alten schottischen LiedeS: IRere i« iw luck ubour tbe kouse (Es ist kein Glück im Hause!) spielten und dann mit dem Thurm zusammenstürzten. °°) Unsere Leser werden aus dieser Vorerinnerung entnehmen können, daß Boz zu seiner neuen „Geistergcschichtc" ein eben so populäres Thema erwählt hat, als früher in dem kbristms« Varol. Der Held dieser Erzählung ist Tobias oder Trotty Deck, ein Londoner ticket-porter oder, wie man in Berlin sagen würde, ein Eckensteher. „Man nannte ihn Trotty (Traber) wegen seines Ganges, der Schnelligkeit beabsichtigte, wenn er sie auch nicht erreichte. Er hätte vielleicht rascher gehen können; das ist sogar höchst wahrscheinlich; aber nimm ihm seinen Trab, und Du nimmst ihm sein Leben. Bei schlechtem Wetter wurde er dadurch mit Koth besprützt; unendlich war die Mühe, die ihm diese Gewohnheit verursachte — das Gehen wäre weit leichter gewesen, und dieses war vielleicht die Ursache, warum er so fest an seinem Traben hing. Ein kleiner, schwacher, zusammengeschrumpfter alter Mann, war Toby an gutem Willen ein wahrer Herkules. Es machte ihm Freude, sein Geld zu verdienen. Der Wahn, daß er sich nützlich mache, war für ihn ein Genuß — und Toby war zu arm, um sich von einem Genüsse zu trennen. Mit einer Botschaft oder einem kleinen Päckchen in der Hand, wofür ihm ein Shilling oder achtzehn Pence verheißen war, stieg sein stets hoher Muth noch höher. Während er so einhcrtrabte, rief er den flinken Briefträgern zu, ihm aus dem Wege zu gehen, da er eS für unvermeidlich hielt, daß er im natür lichen Laufe der Dinge sie cinholen und nicdcrrcnnen würde. Er hegte den festen Glauben — der nicht oft auf die Probe gestellt wurde — daß er jede Last tragen könne, die ein Mensch je trug. Selbst wenn er an einem nassen Tage aus seinem Winkel kroch, um sich zu wärmen, trabte Toby. Indem er mit seinen zerlöcherten Schuhen eine krumme Linie besudelter Fußstapfcn in den Schlamm zog und seine erfrorenen Hände zusammenrieb, die gegen die strenge Kälte nur schlecht durch abgerissene grauwollcne Fausthandschuhe geschützt waren, wo nur der Daumen ein eigenes Gehäuse besaß und die anderen Finger sich mit einer gemeinsamen Schenk- oder Passagierstube be gnügen mußten, trabte Toby mit krummgebogenen Knieen und seinem Rohr stock unter dem Arm einher; selbst dann, als er vom Trottoir abwich, um, -) Kehr' um, Whittington! M-UM von London, kehr' um, kehr' um! ") Aehnüches ist auch bei dem Hamburger Brande von den Thürmen der St. Nikolai- und der St. Petri-Kirch- erzählt worden. wenn das Glockenspiel ertönte, nach dem Kirchthurm emporzublicken, trabte er noch immer." Der Stand dieses Originals war an der Kirchthüre, wo er sich so lange aufzuhalten pflegte, daß er, wie Quafimodo, eine Art freundschaftlicher Zu. neigung zu dem Glockenspiel gefaßt hatte, welches ihm Aufmunterung oder Entmuthigung zuzurufen schien. Am Tage, wo die Erzählung anhebt — dem letzten Tage des Jahres — war eS bitter kalt; die Glocken hatten so eben die Mittagsstunde geläutet, und Toby war in Betrachtungen über den himmel weiten Unterschied zwischen Reich und Arm versunken. „Seine Nase war sehr roth, und seine Augenlider waren sehr roth, und er blinzelte sehr viel, und seine Schultern waren seinen Ohren sehr nähe, und seine Beine waren sehr steif; er befand sich, mit einem Wort, im frostigsten Ertrem des KühlseynS. „Mittags zeit! hm!" rief Toby, indem er seinen rechten Fausthandschuh auf Borerart gegen dieBrust schlug, um flefür ihrFriercn zu bestrafen. „Ah —h—h!" Dann trabte er ein paar Minuten lang schweigend umher. „'S. ist nichts", brach Toby wieder hervor, stand aber dann plötzlich still und befühlte sich mit vielem Interesse und einiger UnruhePie Nase von unten bis oben. Er brauchte nicht weit zu fühlen, da eS mit An^r Nase nicht viel zu sagen hatte, und er war bald fertig. „Ich glaubte, daß es mit ihr aus sey", sprach Toby, indem er wieder forttrabtc. „ES ist aber Alles in Ordnung. Ich hätt' es ihr freilich nicht verdenken können; sie hat einen harten Dienst in diesem kalten Wetter und wenig Erholung, da ich nicht schnupfe. Auch in den besten Zeiten wird der armen Kreatur schwer zugesetzt, und kommt ihr ja mitunter ein wohlriechendes Häuchlcin zu Gute — was nicht zu oft geschieht — so ist's gewöhnlich von 'neS Anderen Mittagessen, das vom Bäcker nach Hause geht." Diese Be- trachtung erinnerte ihn an eine andere Betrachtung, die er vorhin unbeendigt ließ. „Es gicbt nichts", sagte Toby, „das regelmäßiger hcrankommt als die Mittagszeit, und nichts, das weniger regelmäßig kommt als das MittagSbrod. Das ist der große Unterschied zwischen beiden! Es dauerte lange, ehe ich's her ausfand. ES soll mich wundern, ob Jemand eS der Mühe werth hält, diese Bemerkung in die Zeitungsblätter einzurücken — oder dem Parlament vorzu- legcn." Toby scherzte nur, denn er schüttelte gleich nachher selbstverweisend den Kopf. „Warum nicht gar!" rief er, „die Blätter find ja so schon voller Bemerkungen — und 'S Parlament auch. Hier ist die Zeitung von letzter Woche" — er nahm eine sehr schmutzige aus der Tasche und hielt fie mit auS- gestrecktcm Arme vor sich hin — „voller Bemerkungen! voller Bemerkungen! Ich erfahre so gern wie Einer, was Neues in der Welt passirt", sagte Toby langsam, indem er sie etwas kleiner zusammenfaltete und in die Tasche steckte, „aber eS ist mir jetzt fast zuwider, eine Zeitung zu lesen. Ich bekomme da bei ordentlich Furcht. Ich weiß nicht, was aus uns armen Leuten wird. Gott gebe, daß es in diesem neuen Jahre besser mit uns gehen möge!" — „Ei, Vater! Vater!" rief eine angenehme Stimme in der Nähe, aber ohne darauf zu hören, trabte Toby weiter, indem er sein Selbstgespräch fortsetzte. „ES scheint, daß wir nichts recht machen können — daß wir weder recht handeln, noch recht behandelt werden. Ich bin nicht viel in die Schule gegangen, als ich jung war, und eS ist mir wirklich nicht klar, ob wir ein Recht haben, auf der Erde zu seyn, oder nicht. Manchmal denk' ich, daß wir eins haben müssen, und manchmal denk' ich wieder, daß wir keinS haben. Ich werde manchmal so konfus, daß ich nicht entscheiden kann, ob irgend etwas Gutes an uns ist, oder ob wir böse geboren werden. Wir scheinen schreckliche Dinge zu thun; wir scheinen viele Mühe zu geben; unaufhörlich klagt man über uns und macht gegen uns Gesetze. Auf eine Art oder die andere füllen wir doch dir ZeitungS- blätter." Diese traurigen Betrachtungen des armen Eckenstehers werden durch die Erscheinung seiner hübschen Tochter Grete unterbrochen. „Nun, Herzchen!" sagte Trotty, „was giebt'S? Ich habe Dich heute nicht erwartet, Grete." — „Ich glaubte auch nicht, daß ich kommen würde, Vater", rief das Mädchen, indem sie mit dem Kopfe nickte und lächelte. „Aber hier bin ich! Und nicht allein — nicht allein!" — „WäS willst Du damit sagen?" fragte Tobias, indem er neugierig den bedeckten Korb ansah, den sie in der Hand trug. „Dn hast doch nicht" — Trotty war im Begriff, den Deckel aufzuheben, als sie ihm hurtig zuvorkam. „Nein, nein, nein!" rief sie mit kindischer Heiterkeit, „Dn mußt etwas langsamer zu Werke gehen. Laß mich nur ein Endchen davon aufheben — nur das kleinste, allerkleinstc Endchen, weißt Du?" sagte Gretchen mit leiser Stimme, als ob sic fürchtete, durch Jemanden im Korbe belauscht zu werden. „Da! Nun? Was istS?" — Toby schnüffelte einen Augenblick in die Ecke des Korbes hinein und schrie dann mit Entzücken: „ES ist ja heiß!" — „Freilich ist es heiß!" rief Grete. „Ha, ha, ha! Brennend heiß!" —