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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PränumeralicnS-Prel« 22j SUbergr. (^ Th>r.) vierlelliihrllch, z Thlr. für das ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der PreuSischen Monarchie. Magazin für dir Pränumerationen werden ron jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Iägerflrahe Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Remtern, angenommen. Literatur des Auslandes. ^4/ 149. Berlin, Donnerstag den 12. Dezember 1844. Frankreich. Die Erziehung der Taubstummen in Paris. Wenn man die Menschheit im Großen betrachtet, so sieht man, daß die Variationen deS Nervensystems, die sich im Thierreich überhaupt finden, bei ihr im Kleinen wicdertehren. Wie wir auf einer ganzen Stufe der zoolo. gischen Reihe einen Sinn verschwinden sehen, während ein anderer ihn in seinen Functionen ersetzt, so daß hier das Gehör vorherrscht, dort das Ge sicht, und daß das Gesicht immer an Schärfe gewinnt, was das Gehör ver liert, so sind die natürlichen Fehler in der Menschengattung nur Verschieden heiten, deren sich die Natur bedient, um einen Sinn durch den Mangel eines anderen zu seiner höchsten Ausbildung kommen zu lassen. So wäre also der Taubstumme wie der Blindgeborene eine zur Vollständigkeit veS Mcnschen- t-pus nothwendige Varietät. Hat die Erziehung des Taubstummen nach dem kühnen Ausdruck des Abb« Sicard die Aufgabe, ihm eine Seele zu bildens Nein, die Taubheit hebt die geistigen Fähigkeiten nicht auf. Sie wirkt bloß nach außen; indem sie den Taubstummen der vornehmsten CommunicationSmittel mit der Außenwelt, des GehörS und der Sprache, beraubt, hemmt sie in ihm alle Entwickelungen, die aus dem Umgang mit der Gesellschaft entspringen. Der Taubstumme ist, wie man gesagt hat, das Kind der Naturi umgeben von Einsamkeit und Schweigen, empfängt er fast alle seine Lehren von der äußeren Well; die Phänomene deS Lichtes, der Bewegung, der Vegetation sind die ersten Lehrer, die ihm von der Eristenz der Welt und seinen Beziehungen zu den erschaffenen Wesen erzählen. Die Kindheit ist der Schlaf der Vernunft, ein Schlaf, der bei den unerzogenen Taubstummen lange über das Ziel hinaus fortdauert, welches die Natur ihm gesetzt hat; ja, er kann das ganze Leben umfassen, wenn nicht eine starke und geschickte Hand es übernimmt, den Schleier zu heben. Gewöhnlich glaubt man, die Sprache der Taubstummen bestehe darin, daß sie die Buchstaben, aus denen die Worte der Sprache bestehen, mit den Fingern einzeln in der Luft nachbilden. Dem ist jedoch nicht so. °) Vielmehr ist diese Sprache ein Komplex von nachahmenden Zeichen, welche die Gestalt der Gegenstände, ihre eigenthümliche Art, zu sepn, oder ihre Beziehungen zu einer Idee darstellen. So wie die taubstummen Zöglinge zum ersten Male einen Fremden sehen, so bemerken sie alsbald in seiner Haltung, seiner Person oder seiner Kleidung ein eigenthümlicheS Merkmal, das sie bezeichnen, und dieses Zeichen wird sofort für Alle der mimische Eigenname dieses Indivi duums. Alle Lehrer der Pariser Taubstummen-Anstalt haben nach und nach solche bildliche Namen bekommen: man bezeichnete den Abbe Sicard, indem man den Kopf auf die rechte Schulter neigte, Herrn Massicu durch die Be wegung der Hand, welche das zerstreute Haar in Ordnung bringt, Herrn Berthier, indem man den Zeigefinger quer über den Mund legte, Herrn Puybonnieur, indem man eine Nadel, die er am Busen trug, mit dem Finger nachahmte. Die Natur liefert der Sprache der Taubstummen die vorzüglich sten Elemente: will der Lehrer einen Hund bezeichnen, so ahmt er mit der Hand die Gebcrde nach, womit man dieses Thier zu sich heranlockt. Soll eine Kuh bezeichnet werden, so macht man erst das Zeichen, das der Kuh und dem Ochsen gemeinsam ist (indem man die Lage der Hörner andeutet), und dann fügt man das Zeichen des Melkens hinzu. Diese Fähigkeit des Menschen, von einem Gegenstand oder Thier da» hervorspringendste Merkmal abzuson dern und eS dadurch allein zu bezeichnen, ist das Mittel, das der Taubstumme fortwährend anwendet, um den Gebrauch oder das Geschlecht der Dinge an zudeuten; die Weibchen der Vögel z. B. werden durch ein Ei und das Zeichen des Brütens ausgedrückt. Es begegnet zuweilen den Taubstummen, daß sie eine Bezeichnung und daher auch die Geberde, die sie ausdrückt, verallgemeinern -, in der Pariser Anstalt bezeichnet man noch zuweilen das Masculinum durch einen Männerhut und das Femininum durch eine Haube; so werden eine Bank, ein Tisch originell genug mit einem Geschlecht bekleidet. Diese Me thode, alle Gegenstände durch ein von ihren äußeren Merkmalen, ihrem Ge brauch oder ihrer Aehnlichkeit mit etwas Anderem hergenommeues Zeichen darzustellen, nähert sich sehr dem, was wir auf den Denkmälern des alten Aegyptens gezeichnet sehen: eS ist die Hieroglyphe auf die Gebenden der Hand angewendet. Diese Zeichensprache ist sehr geeignet, dem Geist der Kinder -> Dies mag für Paris seine Richtigkeit haben; in der hiesigen Taubstummen- Anstalt jedoch soll auch diese Art der Mitthcilung allerdings üblich seyn. lebendige und treffende Bilder von den Dingen einzuprägen; daher haben auch die meisten erzogenen Taubstummen einen orientalischen Zug in den Ideen und in der Art, sie zu schreiben. Die Zahl der Zeichen scheint auf den ersten Anblick unberechenbar; doch wenn man in den Mechanismus der Sprache der Taubstummen tiefer ein dringt, so sicht man, daß cs mit ihren Zeichen wie mit den Buchstaben unseres Alphabets ist, welche, obwohl nur 24 an der Zahl, durch ihre unzähligen Combmationcu alle Ideen ausdrücken können. Das Spiel der Physiognomie beleuchtet sortwährcnd die Natur der Gebcrde; während der Taubstumme gestikulirt, nimmt sein Gesicht allmälig die Miene des Zweifels, der Gleich gültigkeit, der Verehrung, der Furcht oder der Drohung an. Wenn ich das höchste Wesen bezeichnen will, so werde ich nach dem Himmel zeigen und diese Geberde mit einem Ausdruck der Anbetung und Ehrfurcht begleiten; wenn ich dagegen das Firmament bezeichnen will, so werde ich dabei mein Gesicht un beweglich halten. Wenn der Taubstumme den Begriff des Bertheidigcns dar stellen will, so breitet er mit der Miene des Schutzes die Arme auS: die Gc- berde giebt ein Bild der Handlung und das belebte Gesicht deutet auf das Gefühl, das sie begleitet. Diese stumme Sprache hat ihre Beredtsamkeit: eS ist unmöglich, die Taubstummen mit einander sprechen zu sehen, ohne von dem dramatischen Charakter ihrer Erzählungen überrascht zu werden; cS fehlt ihnen nicht einmal das Wort; denn die Geberde, durch die Bewegung der Physiognomie belebt, ist ein wahres mimisches Wort, daS eben so verständ lich wird als das gesprochene. Der Abbe de l'Epee ließ seine Schüler Fabeln von Lafontaine pantomimisch rezitireu, welche von den Zuhörern vollkommen verstanden wurden. Die Sprache der Taubstummen hat die Pantomime der Alten wieder ins Leben gerufen; auch haben die Meisten dieser Geberdenspieler ei» sehr zartcs Urtheil über die Bewegungen der theatralischen Darstellung. Madame Malibra» ließ in eine Loge neben der Bühne Herrn Bcrthier, einen geborenen Taubstummen, kommen und änderte oft ihr Spiel nach den Be merkungen dieses geschickten Lehrers. Neulich hat ein Zögling der Pariser Anstalt mit vieler Treue die Rolle eines Taubstummen in einem Theaterstück des Herrn Comte gegeben. Man stcllt sich gewöhnlich diese Zeichensprache als eine langsame und in ihren Mitteln sehr kvmplizirte vor; aber sie zeichnet sich gerade durch ihre Schnelligkeit aus. „Ihr Sprechenden", sagte der taub stumme Desloges zu Jemanden, der sich ungünstig über die mimische Sprache äußerte, „ihr habt oft viel Mühe, Jemanden in Paris zu finden, selbst mit einer geschriebenen Adresse. Wenn ich dagegen einen meiner taubstummen Kameraden, der weder schreiben noch lesen kann, nach irgend einem Lokal in dieser großen Stadt, scy cs Laden oder Hotel, im ersten oder fünften Stock, schicke, so wird er nie sein Ziel verfehlen, wenn ich nur ein einziges Mal das Lokal gesehen habe. Ich würde ihm die Adresse der Person mit viel weniger Zeichen angeben, als ich Worte brauchen würde, um fie zu schreiben." In der That ist die Geschwindigkeit des Telegraphen, dieser großen hölzernen Hand, die sich über unseren Köpfen in der Luft bewegt und mit so viel Schnelligkeit die Nachrichten fortpflanzt, im Vergleich zur mimischen Action wie gelähmt. Denn außer dem Spiel der Finger hat der Taubstumme zur Mittheilung seiner Ideen den Magnetismus deS Gesichts und der Augen, welche alle Bewegungen seiner Seele sofort sichtbar machen. Die Geschichte dieser mimischen Sprache geht sehr hoch ins Alterthum hinauf: Cassiodor spricht von Leuten, deren beredte Hände, so zu sagen, eine Sprache an jeder Fingerspitze hatten, welche sprachen, während fie schwiegen, und eine ganze Geschichte erzählen konnten, ohne den Mund zu öffnen. Es ist bekannt, daß der berühmte Noscius sich vermaß, eine ganze Tirade aus einem tragischen Dichter in Geberden wiederzugeben. In neuerer Zeit sehen wir wieder die Pantomime der Alten bei der Stiftung des Trappisten-OrdenS eine Rolle spielen; diese freiwilligen Taubstummen verständigen sich mit einander durch Zeichen. Diese Gcbcrdensprache muß wohl auch Vie Ursprache der Men schen gewesen seyn; wir glauben zwar, daß das Menschengeschlecht redend ge- boren worden; doch mnß man annchmen, daß im Anfang seine Stimme, auf eine kleine Zahl von artikulirten Tönen beschränkt, zu Geberden die Zuflucht nahm, um sich verständlich zu machen. Auch ist diese Sprache die erste, die uns in der Wiege zur Seite steht: die Mutter, die ihr Kind will sprechen lehren, verbindet immer die Namen mit den Gegenständen, indem sie durch einige Zeichen der Augen oder der Hand darauf hinzeigt. Es ist nur zu ver. wundern, daß die Entdeckung des Abbe de l'Epee so viel Jahrhunderte ge braucht hat, um ans Licht zu treten. Sehen wir nicht jeden Tag Leute, die sprechen, sich der Sprache der Taubstummen bedienen, wenn die ihrige ihnen ausgeht? Auch bedienen wir uns ja immer beim Sprechen oratorischer Ge-