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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«. Preis 22 j Sildergr. sj Thtr.) vierteljährlich, 3 THIr. sür da« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Eomv., ZSgerstraße Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Aemtern, angenommen. Literatur dcs Auslandes. 1/ 12L Berlin, Donnerstag den 17. Oktober 1844. England. Physiologie des britischen Parlaments. I. Das Unterhaus.") Die St. Stephans-Kapelle, wo jetzt das britische Unterhaus seine Sitzungen hält, ist der hohen Stellung kaum würdig, die sie als der Vcr- sammlungSsaal eines so mächtigen StaatskörpcrS cinnimmt; aber die Ideen, die sich an sie knüpfen, sind so erhabener Natur, daß man den beengten Naum und den Mangel an Bequemlichkeit leicht übersieht. Dem Auge bietet sich zwar in dem Gebäude nur wenig BemerkenSwertheS dar, aber Gemllth und Phantasie schwelgen in den Erinnerungen an das, was es war und was es ist! Hier stehen noch die alten Mauern, die einst mit Abbildungen aus der heiligen Schrift verziert waren, deren Zeichnung und Malerei in jenem ent fernten Zeitalter für Meisterwerke galten, die aber jetzt eben so wie die rcich- geschmückten Altäre verschwunden find, an deren Fuß die andächtige Menge ihre religiösen Handlungen verrichtete; hier stehen noch die gewölbten Kloster- Hallen, deren einsame Gänge die frommen Väter mit lautlosen Schrillen durchwanderlen und wo vielleicht in der Abenddämmerung der Schatten eines gespenstischen Kuttenträgers an uns vorüberglcitet. Die Mönche haben fich geflüchtet, um einer neuen Dynastie Platz zu machen, und die stillen Räume des Klosters haben fich in «inen Tummelplatz politischer Gladiatoren verwandelt. Statt der schallenden Choräle erklingt jetzt schallendes Gelächter; nicht der Gottheit, sondern den Menschen wird jetzt der Weihrauch mit freigebiger Hand gestreut, und die Stelle der Pre digten und Postillen vertreten eben so langweilige und unnütze Reden. ES ist übrigens nicht zu leugnen, daß sich in der St. Stephans-Kapelle noch heut zutage einige Mönche in weltlicher Kleidung befinden. Die mit grünem Fries beschlagene Thür im entferntesten Theile der Vor halle (IHizZ, die von einem sehr langen Thürsteher mit blassem Gesicht und einem sehr kleinen Thürsteher mit rothem Gesicht bewacht wird, bildet den Eingang zum Hauptsaal des Unterhauses. Zum Gebrauch der Portiers sind zwei komfortable gepolsterte Lehnstühle bestimmt, in denen sie die langwierigen Stunden der endlosen mitternächtlichen Debatten verschlafen können, während die monotone Stimme eines ehrenwerthen Mitgliedes sic sanft zur Ruhe wiegt. Wenn sich das Haus versammelt, haben diese Herren indessen etwas mehr zu thun; der lange Portier steht mit der Hand an der Klinke, um die Thür so gleich ansceißcn zu können, so wie die Mitglieder in rascher Folge erscheinen — sein zwergartiger Gefährte ist ausschließlich damit beschäftigt, durch Bcihülfe seiner Brille die Adressen der ankommenden Briefe hcrauSzustudiren und diese den Mitgliedern in die Hand zu stecken. Visitenkarten und mündliche Bot schaften werden gleichfalls dem kleinen Thürstcher anvcrtraut, auf dem die Hauptlast der Geschäfte zu ruhen scheint, während der Lange nur zum Staate da ist. Zur Bequemlichkeit der Mitglieder wird eine Passage frei gehalten — ein lebendes Spalier, durch die dichtgedrängten Volkshaufcn gebildet. Hier im vordersten Glied«, unter den müßigsten und neugierigsten Zuschauern, nahm ich meinen Platz ein, um die Mitglieder sich nach ihren Plätzen be geben zu sehen. Nur wenigen der Senatoren gelingt es, die Vorhalle zu passiren, ohne von Jemanden auf die Schulter geklopft oder durch irgend einen Wichtigthuer aufgehalten zu werden, der sich durch das Gedränge stürzt, seinen Mann auf fängt und ihn triumphircnd in einen dunklen Winkel hineinzieht, wo das Mit glied und sein Konstituent die Köpfe zusammenstcckcn, tnvem Letzterer mit großer Zungenfertigkeit sein Anliegen auSeinandersetzt, welches augenschein lich, nach seiner inhaltsschweren Miene zu schließen, für ihn von der größten Wichtigkeit ist, und der Andere mit freundlichem Lächeln den Kopf hin - und herwiegt, als wollte er uns überreden, daß er nicht ganz leer sey. Ein flinker, verschlagener parlamentarischer Agent bemächtigt sich deS Mitgliedes eines Wahl-Co,nit«s oder eines Solchen, der eine Privat-Bill durch das HauS zu bringen wünscht, und raunt ihm geheimnißvolle Worte ins Ohr. Der einflußreiche Bürger eines durch makellosen Patriotismus berühmten Wahl.Fleckens hält seinen Deputirten am Knopfe fest und erinnert ihn, daß er für seinen Sohn ein Amt erwarte, das ihm der ehrcnwerthc Herr ver sprochen habe, weshalb er ihn bittet, sich sofort bei dem Minister sür den 'j Wir bearbeiteten diese« Gemisch von Dichtung und Wahrheit nach der literarisch, politischen Zeitschrift „SenU-?', bli»oell,°7". jungen Menschen zu verwenden. Der verlegene >1. I'.") sieht sich nach allen Ecken um, ob kein Entkommen möglich ist, und bricht in einen Wortschwall aus, worin die Phrasen: „Ich versichere Ihnen seierlichst", „Auf mein heiliges Ehrenwort", und: „Sic können fich auf mich verlassen", ost wiederholt wer den; aber dieser feierlichen Zusicherungen ungeachtet macht der Konstituent noch immer eine etwas skeptische und mißtrauische Miene und dringt mit Un gestüm aus baldige Erfüllung scineS Gesuchs. Endlich stellt sich der gefangene Deputirtc, als ob er einen Bekannten sähe, der sich am anderen Ende der Vorhalle befindet, den er aber in der That nie zuvor erblickt hat; er faßt daher schnell die ausgestreckte Hand seines Plagegeistes, schüttelt sie eiligst, verspricht ihm goldene Berge und stürzt dann fort, um seinen vorgeblichen Freund aufzusuchen, während er einen unterdrückten, aber kräftigen Fluch zwischen den Zähnen brummt. Man bemerke den jungen LykurguS, der jetzt mit langsamen Schritten durch den Korridor schlendert. Er trägt Vic feinsten Patentstiefel, einen Rock nach dem ncncstcn Schnitt und eine unnachahmliche Weste; auf dem Kopfe sitzt ihm ein glänzend-schwarzer Hut, i» der Hand hält er einen Rokoko. Spazierstock, und sein Kinn ist in einer Wolke von schwarzem Atlas vergraben. An der obersten Stufe der Treppe, die in den Saal hineinführt, bleibt er einen Augenblick stehen, klopft mit seinem Rohr auf die Stiefeln, fährt mit der Hand nachlässig durch seine gekräuselten Locken, wirft einen mitleidigen Blick auf den Janhagel, der ihn mit Bewunderung angafft und seinen Namen und Titel von Mund zu Mund gehen läßt — gähnt, seufzt, klopft wieder auf die Stiefeln und sieht sich umsonst nach einem Mittel um, die Zeit zu tödten. Zuletzk wird er von einem anderen Solon desselben Gelichters «»geredet; sie fragen sich nachlässig, was heute Abend im Hause an her TageS-Ordnung ist, finden, daß die Debatte bloß dc» Nothstand des Landes betreffen wird, er klären Beide, daß eS „verteufelt ennuyant" s/y, und entfernen sich dann Arm in Arm mit würdevollen Schritten. Ein kurzer, dicker Mann, mit groben Gesichtszügen und bäuerischem An stande, eine Menge Pergamentrollcn in der Hand, auf die er nicht wenig stolz scheint, schlendert jetzt gemächlich die Vorhalle entlang. Er ist ein Manu fakturist außer dem Parlamente und ein Gesetzgeber in demselben; ein Plüschmacher in seinem Privat-Charakter, ein Plusmacher in seinem öffent lichen. Als Mitglied des Unterhauses genießt er großer Popularität, und es werden unendlich viele Bittschriften von allen Theilen dcS Landes seiner Sorg, falt anvertraut. Er betritt den Saal, legt seine kostbare Bürde dort nieder und mischt sich dann wieder unter die Zuschauer mit der Miene eines Mannes, der die Huldigungen seiner Mitbürger verdient und dcm das dankbare Vater land eine Statue von Erz errichten müßte. Während diese und eine Menge anderer Personen über die Bühne schrei ten, ändert sich plötzlich die Scene; ein Parlaments-Bote, an dem königlichen Wappen kenntlich, welches er auf der Brust trägt, erscheint in der Vor halle und rnft mit lauter Stimme: „Der Sprecher! Der Sprecher!" — „Hüte ab! Hüte ab!" ertönt cs jetzt von allen Seiten. „Nehmen Sie den Hut ab, Sir!" ruft ein Constable und behält selbst dcn Hut auf dcm Kopfe. — „Stille da, wenn'ö beliebt!" brüllt «in Zweiter, der weit mehr Lärm macht als alle Anderen. — „Platz gemacht, meine Herren! Platz für den Herrn Sprecher!" schreit ein Dritter, indem er ihm selbst den Weg ver sperrt. Die Ordnung wird endlich hcrgestellt, die Hüte werden abgenommen, und die Zuschauer lassen einen freien Naum offen, um von dem Privatzimmcr des Sprechers nach dem Vcrsammlungssaal zu gelangen. Der erste Bürger in der Welt (rlio sir^r kommoner in rl>e rvorlü) — denn als solcher wird in England der Sprecher des Unterhauses herkömmlich anerkannt — erscheint nunmchr unter Vortritt des Lorxnmit - ar - .4rmn, der, in einen schwarzen Galla-Anzug gekleidet, die !Uace ") — jenes Kinderspielzcug, wie sie Crom well nannte — in der Hand, einherschreitct. Der Sprecher trägt Civil- Kleidung, mit einem seidenen Talar und einer Allonge.Perrücke; unter dcm Arm hat er einen kleinen dreieckigen Hut, und ein Schleppenträger hält die bis zur Erde herabfallendcn Enden seines GewandcS, da man eS in England als eine Sache von der höchsten Wichtigkeit betrachtet, den Schweif eines hohen Beamten emporzuhalten. Nachdem der Herr Sprecher in dcn Saal geschlüpft, tritt der Kaplan im vollen geistlichen Ornate ein; die Thürcn werden geschlossen und die Gebete '1 Eine Abkürzung von !Ueu>!>«r Vf psrliamvut (Parlaments. Mitglied», die sowohl Im Schreibe» als im Sprechen allgemein gebraucht wird. "> Illw heißt ein schwarzer, oben mit einer Krone gezierter Stab, ter immer vor den, Sprecher hergetragen wird.