Volltext Seite (XML)
Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«-Preiß 22z Sitbergr. (j Tblr.) vierteljährlich, Z Thtr. für das ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen iverden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Cvmp., Iäg-rstraße Nr. 28), so wie von allen Königs. Post-Aemtern, angenommen. Literatur des Auslandes. 124. Berlin, Montag den 16 Oktober 1843. Frankreich. Hector Berlioz in Berlin. Unter der Ueberschrift: „Musikalische Reise in Deutschland" hat Herr H. Berlioz im Feuilleton des Journal «je« Orkut« eine Reihe von Briefen über seine vorjährige Kunstrcise mitgetheilt, aus der er bekanntlich seine Compofitionen, von denen er sich in Deutschland einen größeren Erfolg noch als in Frankreich versprach, hat aufführen lassen. Nachdem er in sechs Briefen seinen Aufenthalt in Frankfurt a. M., Mannheim, Stuttgart, Weimar, Leip zig, Dresden, Braunschweig und Hamburg geschildert, kömmt er in seinem neuesten (siebenten) Briefe auf Berlin. Jedes dieser Schreiben batte einen anderen Adressaten — das über Hamburg z. B. war an H. Heine gerichtet —; das über Berlin wendet sich an Dlle. Louise Bertin, die Tochter des kürz lich verstorbenen Begründers des ^ouruul üv« Oedm«, welche selber Kompo nistin ist und unter Anderem eine Oper „Esmeralda" (nach Victor Hugo's Isiotre-Vsme üs I'sri«, von H. Blaze) in Musik gesetzt hat. An diese mit der Kunst sowohl als mit der Literatur — namentlich auch der deutschen — vertraute Dame schreibt nun Herr Berlioz: „Zuvörderst, mein Fräulein, muß ich für das Schreiben, das ich mir die Freiheit nehme, an Sie zu richten, Ihre Nachsicht in Anspruch nehmen-, ich bin nämlich gerade jetzt in einer GemüthSstimmung, die nicht eben die liebenswürdigste ist. Ein Anfall von schwarzer Philosophie hat mich seit einigen Tagen ergriffen, und Gott weiß, zu welchen düsteren Ideen, zu welchen abgeschmackten Urtheilcn, zu welchen seltsamen Berichten ich dadurch verleitet werde — falls er anhält. Sie wissen vielleicht noch nicht recht, was unter schwarzer Philosophie zu verstehen sey? Sie ist das Gegentheil der weißen Magic "), nicht mehr und nicht weniger. Durch die weiße Magie gelangt man dahin, wahrzusagen, daß Victor Hugo ein großer Dichter ist-, daß Beethoven ein großer Musiker war: daß Sic zugleich und im höchsten Grade Musikerin und Dichterin sind: daß Janin ein Mann von Geist ist; daß, wenn eine gut ausgeführtc treffliche Oper durchsällt, das Publikum nichts davon verstanden""); daß, wenn sic Glück macht, das Publikum auch nicht mehr davon versteht; daß das Schöne selten ist, das Seltene aber nicht immer schön; daß die Grunde deS Stärkeren die besten sind; daß Abd-el-Kader Unrecht hat und O'Connell auch; daß die Araber entschieden Franzosen find; daß die friedliche Agitation eine Betise ist, und zur Entscheidung anderer eben so verwickelter Fragen. Durch die schwarze Philosophie dagegen wird man veranlaßt, Alles zu bezweifeln und über Alles sich zu verwundern; die anmnthigen Bilder verkehrt und die widerwärtigen im wahren Lichte zu sehen; man murrt unaufhörlich, man verlästert das Leben, man verwünscht den Tod; man ärgert sich wie Hamlet darüber, daß die Asche Cäsar'S dazu dienen könne, „eine Wand zu verkleben"; man würde sich noch mehr ärgern, wenn die Asche der Lumpe allein gut zu diesem Zwecke wäre; man beklagt den „armen Norick", nicht einmal mehr lachen zu können über das Grinsen des eigenen Schädels, und man wirft diesen voll Abschen und Ekel fort; oder man trägt ihn auch heim, zersägt ihn, macht einen Humpen daraus, und der arme Norick, der nicht mehr trinken kann, dient dazu, den Durst der Rheinwein-Liebhaber zu löschen, die sich über ihn lustig machen. °°°) Demnach würde ich in Ihrer Zurückgezogenheit zu Roches, wo Sie Ihren tiefen Gedanken still nachhängen, in dieser Zeit der schwarzen Philosophie nur eine Unzufriedenheit und Langeweile zum Sterben empfinden. Hießen Sie mich einen schönen Sonnen-Untergang bewundern, so würde ich im Stande seyn, ihm die Gasbeleuchtung der Elysäischen Felder vorzuziehen; zeigten Sie mir auf dem See Ihre Schwäne und deren elegante Formen, so würde ich Ihnen sagen; der Schwan ist ein närrisches Thier, er denkt an nichts als Untertauchen und Essen, sein Gesang ist ein bloßes heiseres Schrillen; wenn Sie, an das Pianofortc sich setzend, mir einige schöne Stellen Ihrer Lieblings- Komponisten Mozart und Cimarosa Vorspielen wollten, so würde ich Sie vielleicht mit der verdrießlichen Bemerkung unterbrechen, daß es endlich Zeit "j kluuodo, weiße Kunst, eigentlich di« Fertigkeit und Geschwindigtkil der Taschenspieler, im Gegensatz« zur schwarzen Kunst smagi- u°ir«). "i Anspielung auf die „Esmeralda", die freilich sehr unverständlich gewesen se»n soll. Hier folgt Herr Berlioz augenscheinlich der a-geschmackten Entdeckung Quinets, daß di- Bewohner der Rheinland« ihren Wein au« Römerschädeln trinken, welche kurzweg „Römer" heißen. sep, die Bewunderung für Mozart aufzugeben, dessen Opern sich alle gleichen und dessen schönes Gleichmaß ermüdend sey und die Geduld erschöpfe. Was Cimarosa betrifft, so würde ich sein ewiges und einziges lUuti-nnomo segrew, das beinahe eben so langweilig ist, wie die Hochzeit des Figaro, ohne auch eben so musikalisch zu seyn, zum Knkkuk wünschen; ich würde Ihnen beweisen, daß das Komische dieses Werkes einzig und allein ans den Späßen der M.it- spielendcn beruhe, daß seine melodische Erfindung ziemlich beschränkt sey, daß die darin aller Augenblicke wiederkchrende vollkommene Kadenz für sich allein schon zwei Drittel der Partitur einnchmc, endlich daß es eine Oper sey, allen falls gut für den Karneval und die Zeit des Jahrmarkts. Und wenn Sie, um ein Beispiel des entgegengesetzten Siyles zu geben, zu irgend einem Werke von Sebastian Bach Ihre Zuflucht nähmen, so wäre ich im Stande, vor seinen Fugen die Flucht zu ergreifen und Sie mit seiner Passion allein zu lassen. °) Das sind die Folgen dieser schrecklichen Krankheit! Wer von ihr ergriffen wird, hat weder Höflichkeit, noch Lebensart, oder Klugheit, Politik und gesunden Menschenverstand mehr; man ergeht sich dann in jeder Art Ueber- treibung, und, was das Schlimmste ist, man sagt das, was man denkt; man kompromittirt sich, man verliert den Kopf. Diese punktirten Linien drücken alle Arten abscheulicher Sophismen aus, die ich glücklicherweise unterlassen habe, nieberznschreiben, und, was ein noch größeres Glück ist, das Ende meines Anfalles. Fort mit der schwarzen Philo sophie! Ich bin jetzt genug bei Verstände, um mit Ihnen von den Lebenden zu sprechen. Hier also, mein Fräulein, zunächst, was ich in Berlin gesehen und gehört; später werde ich Ihnen mitthcilen, was ich dort zu hören gegeben. Ich beginne mit dem großen Opernthcater; jedem Herrn seine Ehren ! Das vor ungefähr einem Monat durch eine Feuersbrunst vernichtete Opernhaus war ziemlich düster und unsauber, aber sehr akustisch und für den musikalischen Effekt ganz vortrefflich. Das Orchester nahm dort nicht einen so weit nach der Seite der Zuhörer ausgedehnten Raum, wie in Paris, ein; vielmehr erweiterte cs sich mehr nach beiden Seiten, und die starken Instru mente, wie Posaunen, Trompeten, Pauken und große Trommel, ein wenig durch die erste Logenreihe bedeckt, verloren dadurch etwas von ihrem über- triebencn Schall. Das Orchester-Personal, eines der besten, das ich je ge hört, ist bei großen Vorstellungen zusammengesetzt aus; 14 ersten, 14 zweiten Violinen, 8 Bratschen, 10 Violoncellen, 8 Contrcbässen, 4 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 4 FagotS, 4 Hörnern, 4 Trompeten, 4 Posaunen, l großen Trommel, 1 Pauke, ein paar Becken und 2 Harfen. Die Streich-Instrumente sind fast alle vortrefflich; an ihrer Spitze sind mit Auszeichnung zu nennen die Gebrüder Ganz (erste Violine und erstes Violoncell von großer Vorzüglichkeit) und der geschickte Violinist RicS. Auch die hölzernen Blase-Instrumente sind sehr gut und, wie Sic sehen, doppelt so stark besetzt als in unserer Pariser Oper. Dieses Vcrhältniß ist äußerst vorthcilhaft; es gewährt die Möglichkeit, im Fortissimo zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten und zwei Fagotte als Ripienstimmcn zu verwende», wodurch dann die Schärfe der Blech-Instrumente, die sonst gewöhnlich das übrige Orchester zu sehr übertönen, bedeutend gemildert wirb. Die Hörner haben schöne Stärke und find alle mit Klappen versehen, zum großen Leid- wesen Meycrbeer'S, der bei der Meinung verharrt, die auch ich noch vor kurzem in Bezug auf diesen neuen Mechanismus hegte. Mehrere Komponisten nämlich sind gegen das Klappenhorn eingenommen, weil sie glauben, cs habe nicht mehr den Klang wie das einfache Horn. Ich habe aber mehrmals Ver suche damit angestellt, indem ich abwechselnd die offenen Töne eines gewöhn lichen Horns und die eines chromatischen oder KlappcnhornS anhörte, und ich gestehe, daß es mir schlechterdings unmöglich war, zwischen beiden auch nur den geringsten Unterschied an Kraft oder Wohlklang des Tons zu entdecken. Man hat gegen das neue Horn noch einen anderen scheinbar begründeten Ein wand erhoben, der aber auch leicht zu beseitigen ist. Seit der Einführung dieses, meiner Ansicht nach vervollkommneten Instruments in den Orchestern finden gewisse Hornisten es bequemer, sich der Klappen auch zum Vortrag der für das gewöhnliche Horn berechneten Partiecn zu bedienen und Töne, welche ') Wen» hinter diesen scheinbaren Scherzen üb«r Mozart, Eimarosa und Bach auch nur «in Tütelchen Ernst zu suchen wäre, so mußte» wir den Geschmack de« Herrn Berlioz wahrhaft bedauern,