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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration--Preis 22j Sildergr. <4 Thlr.) vierteliährtich, 3 Nie. für da- ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen Ler Preußische» Monarchie. Magazin für die Man prönumenit auf Liefe- Literatur- Blatt in Berlin in Ler ErpeLition Ler Mg. Pr. Staat--Zeitung (Friedrichs- Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im Anstande bei den Wvhllöbl. Post - Acnuern. Literatur des Auslandes. 42. Berlin, Freitag den 7. April 1843. Frankreich. Ncsume der Geschichte dcS Saint-Simonismus. Nach Französtfche» Dokumenten. St. Simon gehörte einer der ältesten adeligen Familien Frankreichs an. Er war der Nachkomme des berühmten Grasen v. St. Simon, des Geschicht schreibers Ludwig's XIV. Dennoch war er gegen alle Gebnrts-Privilegien und erklärte er den Krieg für gottlos, und dies gerade in der glänzendsten Epoche Napoleon s. Er strebte danach, die Menschen und die Völker durch eigene Erfahrung kennen zu lernen, durchlebte daher selbst sowohl die Tugenden als die Laster unserer Gesellschaft und verschwendete zu diesem Zwecke sein ganzes Vermögen, was er freilich später bereute. Er wurde so arm, daß er in seiner höchsten geistigen Glanzperiode sich vom Kopircn ernähren mußte. Die Verzweiflung brachte ihn zu einem selbstmörderischen Versuche, welcher mißlang, und er, der sonst Künstler und Gelehrte an seinem Tische bewirthete, mußte später Almosen nehmen, um sein Leben zu fristen. Er starb fünf Jahre vor der Juli-Revolution. Sein erstes Werk waren seine Briefe aus Genf, sein zweites umfaßte bündiger nnd deutlicher sein System, das wir hier nicht auScinanderzusetzen haben, das sich aber in einem Satze seines neuen Christen- thumS resumirt: „Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Werken", folglich weder Konkurrenz, »och Krieg, noch Erbschaft. Er organi- sirte auf dieser Basis seine Gesellschaft, auf Liebe, wie er sagte, nnd theilte die Menschen in drei Klaffen, in Gelehrte, Künstler nnd Arbeiter. Als er starb, umgaben ihn einige seiner Schüler. „Die Frucht ist reif, Ihr werdet sie pflücken", das waren seine letzten Worte. Augustin Thicrrp war sein Secrctair, August Comte sei» eigentlicher Jünger, aber der Erbe seiner Lehre war Olinde Rodrigues. Ein Journal, le I'roäucteur, das 182L erschien, von dem Herr Ccrelet Direktor war, ward das Ccntrum der St. Simonistischen Lehre. Redactenrs waren; Olinde Rodrigues, Ensantin, Bazard, Buche), August Comte, Arnrand Carrcl, die jedoch in ihren Meinungen nicht gerade übcreinstimmten. Sie vereinigten sich bloß, um gegen de» hohlen Liberalismus aufzutreten. Carrel und Buchez ginge» zum XHonnl über. Letzterer träumte von einem republikanischen Katholizismus, wie damals LamcunaiS. Er hat jetzt »och Einfluß auf den National. Die eigentlichen Schöpfer des Systems waren Rodrigues, Enfanti» und Bazard. Sic zogen einige Zöglinge der polytechnischen Schule an sich, einige Schriftsteller, Künstler, Virtuosen, unter denen auch Liszt, und so entstand eine Art Schnle. Beim Ausbruch der Juli-Revolution war die Schule schon konstitnirt. Sic erkannten Ensantin m d Bazard als ihre Meister an, denen Rodrigues die Suprematie zuerkannt hatte. In ihrcn Grundsätzen gaben sich aber bald manche Widersprüche kund. Indessen bctrachtctcn sie als Haupt- gcsetz den Fortschritt, und dieser erwarb ihnen Anhänger in allen Klassen der Gesellschaft. Die Juli-Revolution gab ihnen einen unerhörten Aufschwung. Aus der Schule wurde eine Familie, und ihre Grundsätze fingen an, dem Ncu- bestchendc» in Frankreich sehr gefährlich zu werden. Sie etablirte» sich als College — Gesellschaft — in drci Abthcilungen, wie die Freimaurer ctwa. ES war dies eine vollkommene Hierarchie. Dcr lllobe, von Pierre Lerour redigirt, den jetzt die früheren Mitarbeiter verließen, wie Cousin, Ncmusat und Andere, um Minister zu werden, ward außer dem Orgaui^eour zu ihrem Organ. Man brauchte Geld. Herr von Eichthal, ein Deutscher Banquier, lieferte hierzu eine bedeutende Summe. Andere Gaben flossen »och reichlicher in die Hauptkassc. Henri Fournel gab sein ganzes Vermögen dazu und stellte bloß seine Kinder unter den Schutz dcr Gesellschaft. Die meisten Journale waren damals wie jetzt pure Speculatio»; die St. Simonistischcn Journale wurden gratis auSgetheilt. Nun dehnten sich auch ihre Etablissements aus. Den beschränkten Kon ferenzen in der ruv 'karamm folgten jetzt die geräuschvollen Sitzungen in den eleganten Sälen der ruo D»itboiu. Hier predigten mit allem Eifer dcr Uebcr- zcugung und dcr Hitze dcr Beredsamkeit Barrault, Charton, Laurent, Abel Transon. Nichts Interessanteres, sogar für den Fremden, kann man sich denken, als diese Sitzungen. Rings herum in einem geräumigen Saal, dessen ganze Decke von Glas war und nur so von oben das Licht erhielt, waren drei Reihen Logen angebracht. Vor einem Amphitheater, wo die eifrige Menge alle Sonntag die rothcn Plätze zwei Stunden früher schon in Beschlag nahm, saßen in drei Reihen junge ernste Männer, fast alle in Blau gekleidet, außer einigen, die weiße Röcke mit veilchenblauen Binden anhatte». Bald erschienen die beiden Hoheväter, peros «»preme«, Bazard und Ensantin, die den Prediger an ihrer Hand führten. Sobald sie erschienen, erhoben sich die Jünger andachtsvoll. Ei» allgemeines Stillschweigen herrschte, thcils aus Andacht, theils aus Ironie, und der Redner begann. Man hörte zu, lächelte, aber bald ward man unwillkürlich zum Staune» gezwungen. Die Ungläubigsten suhlten sich, wenn auch nicht überzeugt, doch tief erschüttert und gerührt. Die Familie hatte ihren Sitz in der rue Illm^iguv. Dort war dcr Hecrd dcr Propaganda. Künstlcr, Acrzte, Advokaten, Dichter, Kaufleute ver nachlässigten ihre Beschäftigungen und setzten alle ihre Hoffnungen auf die neue Gesellschaft. Die Mahlzeiten wnrden gemeinschaftlich genommcn, die Feste von den Frauen arrangirt; man musizirte, las in Gruppen, und jede Abtheilung hatte ihren Obervatcr oder ihre Obcrmutter; die Frauen ngnntcn sich Schwestern. Es wurden mit dcr Provinz Verbindungen angcknüpft; bald reisten Missionaire der Gesellschaft in alle Provinzen, um dort das St. Simonistischc Wort zu predigen. Sie wurden heute empfangen, morgen auSgezischt, übermorgen wieder begrüßt. Jcan Reynaud und Picrrc Lerour gingen nach Lyon, wo sie großen Succcß hatten und eine Filial-Familie stifteten. Geld floß von allen Seiten zu. Dennoch fehlte die Einheit. Man war wohl einig darüber, wie man die Hauptfragen stellen sollte, aber wenn es zum Auflösen kam, waren die Meinungen zuweilen sehr verschieden. Dieser Mangel an Einheit machte sich besonders bei den Missionaire» auswärts fühlbar, wo jeder seiner eigenen Phantasie überlassen war. So z. B. herrschte bei Margerin dcr Mystizismus vor, während bei Reynaud der DemokratiSmuö die Hauptrolle spielte. Derselbe Mangel an Einheit zeigte sich in den verschiedenen Publicationen, wen» man sie mit einander vergleichen will. ES erschienen: von Bazard; xur tu religio» et I» politignv", von RodrigueS; »l-es eilig üiscourx", von Abel Transon; „I.a Xote", von Olinde Rodrigues, über die Ehe und die Ehescheidung; „I-es Ieho»8", von Pereire, über Industrie und Finanzen; „I.es trois fmuillvii" von Barrault; ferncr Schriften von Pierre Lerour, Reynaud, Charton, Margerin, Cazeaur, Stephan Flachat, Charles Duveyricr, von Ensantin über Metaphysik, Kunst und Ockonomie. Dcr 6Iobe bclcuchtetc alle dicsc Schriften. Sein Direktor war Michel Chevalier. Am meisten Aufsehen machten seine Angriffe gegcn das Erbrecht. Nach und nach aber entstand eine Meinungsverschiedenheit unter den Aposteln dcr jungen Lehre. Die Einen wollten zur PrariS iibcrgchen und eine Gesellschaft nach ihren Thcoricen bilden, die Anderen behaupteten, cs sey dies noch zu früh. Sie müßten erst die Hauptfragen dogmatisch gelöst haben nnd noch mehr Proselyten machen. Bazard und Ensantin waren dcr crstcn Meinung, und sie ging durch, nicht ohne Widerstand. Man strebte dahin, eine Werk- statte ins Leben zu rufen, suchte sich Anhänger unter de» Proletariern, nahm ihre Kinder an, vertheilte sie in der Provinz und in der Hauptstadt, und die beiden Obcrväter nahmen den Namen Papst an, womit sie eigentlich eher ihren Ehrgeiz als ihre Einsicht bewiesen. Die Gesellschaft erklärte sich als Synagoge, und jeden Morgen verkündigte dcr lUobo dic Namen dcr neuen Proselyten. ES wurde Einigen ganz schwindelig, und sie verloren vor lauter Exaltation den Verstand. Sic forderten den König Ludwig Philipp in Briefen auf, sich unter den Schutz ihrer Gesellschaft zu stellen. Zuerst waren sic einc Schulc, dann eine Familie, jetzt aber hatten sie sich als Staat prvklamirt. Bazard strebte nach einem politisch-sozialen Prinzip, Enfanti» aber wollte eine Wclt- rcligion damit grmidc». Das Schisma sollte sich bald zeigen. Diese Verschiedenheit der Auffassung lag auch ganz in ihrcn verschicdcncn Charakteren. Bazard hatte eine männliche starke Seele und einen schüchternen Geist, er bekannte sich nur zu klaren, deutlichen Ideen. Während dcr Restau ration war er Carboiiaro und verband mit dcr Theorie anwendbarer Ideen die Lust dcr Ruhe und des Sichcrscyns. Zudem liebte er seinc'Frau und seine Kinder. Ensantin hingegen hatte cine zarte weibliche Seele mit einem kühnen vorangreifcnden Geist. Dcr methodischcn Langsamkeit Bazard's setzte er seinen ungeduldigen Geist der Initiative entgegen. Was Bazard mit Gewalt er ringen wollte, wollte Ensantin mit dem Gefühle erobern. Der Erste fühlte sich zum Tribun geboren, der Andere zum Apostel; dcr Erste war logisch, der Andere mystisch. Zudem war Ensantin ausgczeichnct schön, immer heiter und liebenswürdig und hatte entschiedenen Beifall bei den Frauen. So lange die Schule sich auf ihre dogmatische Ausbildung beschränkte, war die Thätigkeit Bazard's überwiegend; er zwang sogar seinen Kollegen, eine öffentliche Erklärung zu Gunsten dcr Ehe zu unterzeichnt», welche Enfan-