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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PränumerationS-Preis 22z Silbergr. (^ Tdtr.) vierteljährlich, Z Thlr. für LaS ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veit u. Comp., Jägerstraße Nr. 28), so wie von allen König!. Post-Aemtern, angenommen. Literatur des Auslandes. 79. Berlin, Montag den 3. Juli 1843. England. Vergangenheit und Gegenwart. Von Thomas Carlyle.") So heißt das neueste von diesem ercentrischen, aber tief blickenden Schriftsteller herausgegebene Werk. Der Zweck desselben ist, wie es scheint idenn es wird dem Leser nicht immer ganz leicht, „der langen Rede kurzen Sinn" zu fassen), den gegenwärtigen Zustand der Englischen Nation mit ihrem ehemaligen zu vergleichen, die charakteristischen Züge des Jahrhunderts — dessen Unglauben und Aberglauben, Geldgier und Selbstsucht — mit grellen Pinselstrichen zu schilvern und als einziges RcttungSmittcl die Rückkehr zu den männlichen, kcrnhaften Tugenden der Vergangenheit zu predigen. Wenn man Herrn Carlyle glauben will, so hat die heutige Gesellschaft eine radikale Umgestaltung nöthig; es muß eine durchgreifende Revolution in ihrer Den- kungsweise, ihren Sitten, ihren Lebensregeln stattfindcn. Mainmonismus und Dilettantismus, CharlatanismuS, Jndiffercutismus, Egoismus und alle andere -ismen müssen dem Seelenadel, der Sittencinfalt und der Prinzipien- Festigkcit Platz machen. Als die erste Stufe zu einer wahren und allgemeinen Reform betrachtet er die völlige und augenblickliche Abschaffung der Korngesetze. Er dringt ferner darauf, einen umfassenden EmigrationSplan anzuordncn, um die über fließende Bevölkerung zu lichten und das Gleichgewicht zwischen der Arbeit und dem Arbeitslohn wieder herzustellen. Die größte Veränderung muß aber mit den höheren Ständen — der Aristokratie der Geburt, des Reichthums und des Talents — vorgehen, oder es wartet ihrer schwere Buße und gänz licher Ruin. Es ist unmöglich, eine Idee von diesem Werke zu geben, ohne einige Prvbcn seines charakteristischen Stils mitzuthcilcn. Carlyle schreibt, so zu sagen, einen eigenen Dialekt, der von Germanismen strotzt, und man würde in der That seine Schriften, wenn sie nicht von einem so originell-Englischen Geiste durchhaucht wären, für eine schlechte Ucbersetzung aus dem Deutschen halten. Eine übertriebene Bewunderung sür Jean Paul hat ihn, wie cs scheint, den Genius seiner eigenen Sprache verkennen lassen und zu einer Manierirtheit verleitet, die zwar anfangs frappirt und auch wirklich manche Nachahmer gefunden hat, aber im Grunde seinem Erfolge Abbruch thut. Man vergißt die Neuheit seiner AuffassungSwcise und die Eigenthümlichkeit seiner Ideen über die barocke Form, in die er sie kleidet. Wir wollen mit seiner Schilderung der gegenwärtigen Lage Englands be- ginnen. — „Unsere erfolgreiche Industrie, mit ihren plcthorischen Schätzen", schreibt er, „hat bis jetzt noch Niemanden reich gemacht; cS sind bezauberte Schätze, die Niemand gehören. Wir möchten fragen: wen von uns haben sie bereichert? Wir können jetzt Tausende verschwenden, wo wir sonst Hun derte auszugeben pflegten; aber wir können nichts Gutes damit erkaufen. Statt des UebcrflusseS und der edlen Sparsamkeit, leben Arm und Reich in eitlem LuruS, der mit Noth und Mangel abwcchsclt. Viele essen feinere Speisen, trinken theurere Weine — mit welchem Vortheil, mögen sie uns selbst erzählen, oder vielmehr ihre Acrzte; aber wenn wir vom dyspeptischen Magen absehen, ist da wohl die Seligkeit ihres Herzens vermehrt? Sind sie besser, schöner, stärker, muthiger? Sind sie auch nur, was sic selbst „glücklicher" nennen würden? Blicken sie mit größerer Zufriedenheit auf die Dinge und Menschen-Gesichter dieser GotteS-Erde, oder blicken diese mit größerer Zufriedenheit auf sic? O nein! Menschen-Gesichter schauen düster und mißtrauisch auf einander; Dinge, wenn cS nicht bloß eiserne und baum wollene Dinge sind, werden dem Menschen ungehorsam. Der Werkmeister ist, wie seine Werklente, bezaubert und schreit umsonst nach einer sehr ein fachen Freiheit — der Freiheit, dort einzukaufen, wo eS am billigsten, und dort zu verkaufen, wo es am theuerstcn ist. Als ihm die Guineen noch in allen Taschen klimperten, war er nicht reicher; aber jetzt, wo selbst die Guineen verschwinden, fühlt er sich wirklich arm. Armer Werkmeister! Und der Nicht-Werkmeister (^Issrer Dnwarker!!) — ist er nicht in einer noch verderblicheren Lage? Mit furchtsamen Blicken — und wohl hat er dazu Ursache! — in der Mitte seiner Wild-Gehäge weilend, bedrängt er seine Pachtleute, besticht, berückt und thut mit seinem Eigenthum, was ihm gut *) present, bz' L-ouäou 1843. dünkt. °) Den Mund voll lauter Trugschlüsse und Argumente, um die Vor trefflichkeit seiner Korngesctze zu beweisen, liegt ihm eine finstere Ahnung, ein verzweiflungsvolles Halb-Bewußtseyn auf dem Herzen, daß sein vortreffliches Korngcsetz unhaltbar scy, und daß seine besten Argumente zu dessen Gunsten die sind, die seinen Gegnern im buchstäblichen Sinne den Mund verstopfen. „Für wen ist also dieser Reichthum Englands wirklicher Reichthum? Wen segnet er? wen macht er auf irgend eine Weise glücklicher, klüger, schöner, besser? Wer hat sich seiner bemächtigt, als eines wahren, nicht als eines falschen, trügerischen Dieners, um ihm wahrhafte Dienste zu leisten? Bisher noch Niemand. Wir besitzen größere Reichthümer, als noch je eine Nation; wir ziehen weniger Nutzen davon, als noch je eine Nation. Unsere erfolg reiche Industrie ist bisher ohne Erfolg geblieben; ein seltsamer Erfolg, wenn wir hierbei stehen bleiben! In der Mitte plcthorischen UebcrflusseS verhungert das Volk: mit goldenen Mauer» und vollen Scheunen ist Keiner sicher noch zufrieden. Werkmeister, Werkleute, Nicht-Wirker — Alle sind zu einer Pause gekommen; sie stehen still und können nicht weiter." Die Abschaffung der Korngesetze ist jedoch nur le cmumencemeiw üe la tin — der erste Schritt zu einer allgemeinen Umwälzung und einer neuen Ordnung der Dinge. „Ja! nähmen die Korngesetze morgen ein Ende, so wäre noch nichts damit beendigt; cs wäre nur Raum für einen Anfang gemacht." — Dieser tabula r»8a steht aber die Aristokratie im Wege — erstens die müßige, nicht-arbeitende (die Aristokratie der Geburt), dann die arbeitende oder wirkende (die Aristokratie des Geldes) und endlich selbst die, fälschlich so genannte, Aristokratie des Geistes. — „Jedes echte Werk ist geheiligt; jedes echte Werk, wäre eS auch nur der Hände Arbeit, hat etwas vom Göttlichen an sich. Die Arbeit, weit wie die Erde, hat ihren Gipfel im Himmel. Schweiß des Angesichts — und von da hinauf bis zum Schweiß des Gehirns, Schweiß des Herzens — was alle Kepler-Berechnungen, Newton-Meditationen, alle gesungene Heldengedichte, alle geschehene Heldcnthaten und Märtyr- thümcr in sich schließt — bis zur Agonie des blutigen Schweißes, den alle Menschen göttlich nennen! O Bruder! wenn dieses nicht anbeten heißt, dann, sag' ich, desto schlimmer für die Anbetung; denn es ist das edelste Ding, das je unter Gottes Sonne entdeckt wurde. Wer bist Du, der Du über Dein mühevolles Leben Klage führst? Klage nicht! Sieh hinauf, mein müder Bruder! sich Deine Mitarbeiter dort, in Gottes Ewigkeit fortlcbend, alles Andere überlebend — heilige Schaar der Unsterblichen, himmlische Leibwache des Mcnschenreichs! Selbst im schwachen menschlichen Gedächtniß leben sie als Heilige, als Helden, als Götter; sie allein leben fort, sie allein bevöl kern die räumlichen Einöden der Zeit. Dir ist der Himmel zwar streng, aber nicht ungütig; der Himmel ist gütig, wie eine edle Mutter; wie jene Spar tanische Mutter, die ihrem Sohne den Schilv mit den Worten gab: Mit ihm, mein Sohn, oder auf ihm! — Auch Du sollst mit Ehren nach Hause kehren, mit Ehren nach Deiner weit entfernten Heimat — zweifle nicht daran, wenn Du in der Schlacht Deinen Schild bewahrest. In den Ewigkeiten und tiefsten Todten-Königreichen bist Du kein Fremder; Du bist überall einge bürgert. Klage nicht; selbst die Spartaner klagten nicht. „Und wer bist Du, der Du Dich Deines müßigen Lebens rühmest, Deine glänzenden, vergoldeten Equipagen vorzeigest, Deine prächtigen Kiffen, Deine Verrichtungen zum Falten der Hände im Schlaf? Sieh Dich um, sieh hinaus, hinab, hinten, vorne — wo, außer im West-Ende, gewahrst Du einen müßigen Helden, Heiligen, Gott oder Teufel? Keine Spur von einem solchen! In dem Himmel, auf der Erde, in den Gewässern, unter der Erde ist Deines gleichen nicht zu finden. Du bist eine Original-Figur in dieser Schöpfung — allein im West-Ende, allein in diesem außerordentlichen Jahrhundert oder Halb-Jahrhundert! Es giebt ein Monstrum in der Welt — den Müßig gänger. Was ist seine Religion? Daß die Natur ein PhantasmuS scy, wo Betrügen, Betteln und Stehlen mitunter gute Nahrung finden. Daß Gott eine Lüge sey und daß der Mensch und sein Leben eine Lüge seyen. „Die arbeitende Aristokratie — Mühlenbesitzer, Fabrikanten, Anführer von Werkleuten — auch gegen sie muß leider! Vieles in Anklage gebracht werden — Vieles! — und der freieste Getraivchandel, die gänzliche Abschaffung der Tarife, die größte Vermehrung der Manufakturen und Prosperität des Handels, wird auf die Dauer kein Jota davon gutmachcn. Die arbeitende Aristokratie muß einen neuen Pfad einschlagen; sie muß begreifen lernen, daß ') Iw,)- l not So wNst I Nke vitU mx onu? das bekannte Wort des Herzogs von Newcastle, als er seine Pächter, die für die Reformbilt gestimmt hatten, von seinen Gütern vertrieb.