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Wöchentlich erscheinen drei Nummer». PrünumerutivnS-Preis 22z Silöergr. THIr.) vierteljShriich, 3 Tblr. für das ganze Jadr, ohne Erhöhung, in alle» Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumcrirt auf diese« Literatur- Klatt in Berlin in der Erpedition der Mg. Pr. StaatS-Zeitung jFriednchs- Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllöbl. Post Aemtern. Literatur des Auslandes. ^1/ 71. Berlin, Mittwoch den 14. Juni 1843. Frankreich. Pascal und die neue Ausgabe seiner ?ens6e8. Von Blaise Pascal, dem berühmten Klosterbruder von Port-Royal, giebt eS bekanntlich zwei Hauptwerke: die I-ercre.-- proviuciales und die pennen. Die ersteren, die gegen die Moral und Politik der Jesuiten gerichtet, gab er selbst heraus; die zweite Schrift dagegen, worin er die Haltlosigkeit der menschlichen Vernunft und die Nolhwendigkeit des Glaubens nachzuweisen sucht und an der er bis zu seinem Tode arbeitete, hinterließ er nur im Manuskript: sie ist daher höchst verstümmelt und unvollständig auf uns gekommen. Herr Cousin will nun mit Hülfe des Original-Manuskripts, das sich unversehrt erhalten hat, den Buchstaben der ersten Rcdaction, d. h. den Stpl in seiner ursprünglichen Eigenthümlichkeit, die Idee in ihrer ersten Kühnheit wiedcr- herstellcn. Nie hat die Vernunft einen abgesagteren Feind gesunden, als den Verfasser der ?e»8«e8; die philosophischen Neigungen haben daher Herrn Cousin nicht zu dieser Arbeit geführt. Aber wir haben in Pascal nicht bloß einen Feind der Vernunft, wir haben auch einen ausgezeichneten Schriftsteller in ihm. Um das Interesse, das sich mit jenem Unternehmen verbindet, zu verstehen, darf man nur an die Stellung, welche Pascal in der Geschichte der Französischen Literatur einnimmt, so wie an das Verhältniß der ?e»8eo8 zu den provineisles denken. Es war dem Versasser der krovinciales Vorbehalten — und dies ist nicht der geringste Theil seines Ruhmes — die Sprache in dem raschen Laufe ihrer Umbildungen aufzuhalten und sie für immer zu firiren. Man kann sogar sagen, daß diese Bestimmung ihm mehr als jedem Anderen zukam, weil gerade das Gepräge seines Geistes mit dem unterscheidenden Charakter der Französischen Literatur, mit dem eigenthiimlichcn Zuge des Französischen Geistes am meisten Ähnlichkeit hat. Die Haupt-Eigenthümlichkeit der Fran zösischen Sprache besteht darin, daß sie Eigenschaften, die sich auszuschließen scheinen, im höchsten Grade in sich vereinigt, daß sie zugleich ein wunderbarer Dolmetsch der Phantasie und das sicherste Organ des gesunden Menschenver standes ist. Diese widersprechenden Elemente nun, die sich im Schoß der Sprache mit einander verschmolzen, sie eristirten vorher in dem großen Geiste dessen, der sie zuerst mit unumstößlicher Autorität sprach, dessen, der vor Anderen das hatte, was Lemercier die Unfehlbarkeit der Feder nannte. Der Besitz dieser doppelten Gabe, die für die Seele so unglückbringend, für den Geist so ruhmvoll ist, diese Kämpfe der Phantasie und der Vernunft sind eS auch, die im Leben PaScal's Elend, in der Literatur seine Größe bilden. Pascal hatte auch schon in seinem Jahrhundert den Ruhm und das An sehen, das er als Schriftsteller verdiente. Die ersten Hefte der kroviucisle« waren kaum erschienen, als an diesem neuen Zauber der Rede, an dieser Fein heit des Spottes, an dieser Nüchternheit zumal, die bis dahin bei den Besten vermißt wird, das Jahrhundert Ludwig's XIV. seine Sprache erkannte. Man hörte nur einen Ausruf der Bewunderung. Der alte Geist des Spottes, der von den Troubadours herübergekommen war, jener Nationalgeist, der sich schon in der Mönippöe mit Glück versucht, sand hier seinen Styl verbessert und verschönert, seinen definitiven Styl; die Französische Ironie hatte nun für immer ihre Waffe. Mit den letzten „Briefen" kommt die Reihe an die Beredsamkeit; auch die Phantasie triumphirte, sie, die jetzt ihrer Form, einer einfachen, glänzenden und unsterblichen Form, sicher war. Man findet die berühmtesten Meister, PaScal'S Schüler, cinmüthig darin, diesen Vorzug besonnener Erfindung und geregelten Stylö an ihm anzuerkennen. Racine kann „so viel Kunst und Nettigkeit" nicht genug bewundern; Boileau setzt Pascal „über Alle", und Frau von Sevigne sieht in ihm „die Hälfte alles Schönen" (Io met ll« I»uieie ü tour ce gui «8t beau). Der Einfluß jenes wunderbaren Buchs war unermeßlich; alle Welt las es damals, und seitdem haben es Alle lesen wollen. Fönölon, dem der Geifer des PamphlctschrcibcnS eben so sehr widerstrebte, als der „schreckliche Jrrthum" des Janscnistcn, selbst der sanfte Fönölon ließ sich von diesem Styl, von diesem „rührenden und anmuthigen Etwas" bezaubern, und er wagte eS nicht, diese gefährlichen Seiten den Händen seines Königlichen Schülers zu entziehen: „Ich glaube", schreibt er an Herrn von Beauvilliers, „cs ist an der Zeit, daß der Prinz sie lese; er wird sie doch einmal früher oder später lesen; der große Ruf des Buchs wird es unmöglich machen, daß er sein ganzes Leben damit unbekannt bleibt." Dieser Ruf hat sortgcdauert; das Buch ist jetzt einer der dauernden Glanzpunkte der Literatur, und die Geschichte des Herzogs von Bourgogne hat sich für Jeden wiederholt. So wenig Werth auch der Inhalt der ?ro- viacisle« für die philosophische Schule des I8ten Jahrhunderts haben mochte, so wußte doch Pascal durch den Zauber seines Geistes auch in der Zeit der 1-ettreü perssne« und des Lsnüiüe das Feld zu behaupten. Die Undankbar keit, die selbst in das Gebiet des Geistes eindringt, ging hier nicht so weit, und Voltaire verhehlte nie seine Bewunderung für den Mann, welcher die Satire vor Boileau, die Komödie vor Moliöre und das Erhabene vor Boffurt gefunden hat: „Dies ist", sagt er, „das erste geniale Buch, das in Prosa erschienen ist, und alle Gattungen der Beredsamkeit sind darin enthalten." Der Erfolg der war lange nicht so glänzend; eine Thatsache, die Herr Cousin anführt, ist hinreichend, diesen Gegensatz ins Licht zu setzen und zugleich das Verfahren der ersten Herausgeber der kensees begreiflich zu machen, jene Weglassungen und Veränderungen, an welchen das Jahr hundert Ludwig's XIV. selbst wegen seines besonnenen Geschmacks und der Ruhe seines religiösen Glaubens bis zu einem gewissen Grade mitschuldig war. Zwei Werke von Pascal erblicken das Tageslicht unter der Negierung Ludwig's XIV. Das erste ist eine Satire gegen eine nur zu berühmte Gesell schaft, die der Verfasser selbst mit allem möglichen Skandal herauSgiebt; das zweite ist eine Apologie des katholischen Dogma'S, die ein Sterbender hinter läßt und deren Fragmente die fromme Freundschaft Port-Royal's sammelt. Die ?roviucisle8 erscheinen 1656, als Bossnet noch unbekannt, als Fenelon noch ein Kind war ; die ken8ee8 find 166» gedruckt, als Boffuet schon berühmt geworden und Fenelon mit der Leidenschaft zur Literatur aus der Jugend heraustrat. Nun findet es sich, daß mitten in einem religiösen Jahrhundert und einer frommen Monarchie diese beiden großen Gelehrten sich nicht scheuen, das schon alte Talent des Pamphletschrcibers zu loben, während sie keinen Platz finden, um die neuere Beredsamkeit, den nachgelassenen Geist des christ- lichcn Apologeten zu rühmen. Wer wird glauben, daß dieses Schweigen rein zufällig ist? Ist cs nicht vielmehr daraus zu erklären, daß die kramfphafte und unruhige Religion PaScal'S seiner Zeit widerstrebte? Jener düstere und seiner selbst nicht sichere Glauben, jene bittere Frucht, die in der einsamen Region des Zweifels hcrvorgcsproffen, jene Frömmigkeit, die mehr ein Kind der Furcht als der Liebe ist, dieses Alles paßt wohl für eine Zeit, die so zerrissen ist wie die unsere, für einen bekehrten Faust oder Manfred; aber das war nicht das solide und einfache Christentum Bossuet's, das war nicht jenes Bündniß der Vernunft und des Gefühls, das sich in Fenölon'S und Malebranche'S Geist gebildet. Weder die Müdigkeit noch die Aengsten des Skeptizismus haben die Geister des I7ten Jahrhunderts, das vorzugsweise das Jahrhundert der Ordnung und Zucht war, zum Glauben getrieben. Man konnte damals, wie die Herzogin dc la Balliere, die Schwächen des Herzens und die Sünden dcs Lebens in der Pönitcnz abbüßen; aber das Bcdürfniß, die Schwächen der Seele, die Verwirrungen deS Geistes unter dem Bußgewande gut zu machen, fühlte Niemand. Weder die Gläubigen, noch die Freigeister deS Jahrhunderts waren dazu gemacht, die ganze traurige und bittere Poesie der ?en8e«8 zu empfinden und zu verstehen; die Meisten hatten noch den ruhigen Glauben Bossuet's, Einige schon den lockeren Unglauben Voltaire'». Racine hat von Pascal gesagt: „Seine I'en8ee8 zeigen uns den tiefen Eindruck, den die großen Wahrheiten der Religion aus seinen Geist gemacht hatten." Dieser „tiefe Eindruck" war ein Drama, das zum Schauplatz PaScal'S Seele hatte, ein schreckliches Drama, dem das I7te Jahrhundert zusah, ohne es zu verstehen. Sowohl das 17te als das I8te Jahrhundert waren mit ihrem künstlerischen Takt mehr dazu geschaffen, die literarischen Schönheiten, den Styl selbst, den kühnen und gewagten, als den kränklichen Glauben der ?en8«e8 zu begreifen. Während die großen christlichen Kontrovcrsisten des 18ten Jahrhunderts, Belgier und der Kardinal Gerdil, es nicht wagten, sich auf die gefährliche Autorität PaScal'S zu berufen, widerlegte Voltaire zu wiederholten Malen jenen erhabenen Misanthropen, der ihm, wie er sagt, auf den Ruinen seines Jahrhunderts noch ausrccht zu stehen schien. Als Condorcct, der von dcm Manuskript der ?cu8»<-8 Kcnntniß hatte, zum Besten seiner Partei eine ver mehrte, aber perfide Ausgabe davon erscheinen ließ, kam von Fcrncy ein ganzer Kommentar an, worin PaScal's religiöser Skeptizismus aufs neue mit Bitterkeit gegen die Religion gerichtet wurde. Das achtzehnte Jahr hundert mußte wohl das Rührende, das in diesen schmerzlichen Kämpfe» liegt, in diesem Schauspiel einer Secle, die sich mit dcm Zweifel hcrumschlägt, ver kennen. Erst unserem Zeitalter, das so viele Prüfungen und Erschütterungen durchgemacht, erst dcm unglücklich poetischen Zeitalter, das sich selbst in Faust und Childe-Harold gezeichnet, war das traurige Privilegium Vorbehalten, diesen unruhigen Glauben, den Pascal mit Schrecken aus den Tiefen seines Geistes hcrvvrgeholt, zu verstehen. Daher das besondere, aktuelle Interesse,