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W7 schwarzen Gesicht, Pantalon an der abwärts gelegenen Nase und dem aufwärts gelegenen Kinn zu erkennen-, Polichinell ist vorn und hinten bucklicht und spricht so schlecht Französisch, daß er wohl auf einen Lehrstuhl im Konservato rium Anspruch machen dürfte; Gilles ist bleich und hektisch, wie die Konvales zenten des berühmten Doktor Broufsais, nur findet zwischen beiden der Unter schied statt, daß die Blässe der Letzteren nur ein unerwartetes Ergcbniß der neuen Fortschritte der Medizin ist, daß Gilles aber die Blaise nur als Ironie auf sein inneres Wohlbefinden anlegt. Man hat die Plumpheit getadelt, mit welcher die Marionetten die mensch lichen Gebrechen angreifen; hinter diesem Tadel verbirgt sich nur die Eitelkeit der Schwachen, die sich getroffen fühlen. Die klassische Komödie hat sich dagegen fein zu beschränken gewußt. Die moderne Komödie ist nicht einmal klassisch; sie findet cs eben so unpraktisch, einen Freund durch Tadel abzu schrecken, als einen Feind durch Angriffe zu neuem Zorne zu reizen. Alle großen Männer haben die Marionetten geliebt. Baple, die finstere skeptische Natur, stand lachend vor ihren Spielen, und Bonaparte betete die Ma rionetten an. Ich weiß nicht, ob die letztere friedliche Bemerkung in den dicken Memoiren von St. Helena noch Raum gefunden hat, doch das ist gleichgültig; wenn sie fehlt, so kitt' ich die Memoiren zu entschuldigen, wer kann an Alles denken? Bonaparte spielte viel mit Marionetten; er war der menschgewordcne Polichinell, und ich hoffe, bei diesem Vergleiche sollen sich beide Theile ge schmeichelt fühlen. Noch sterbend soll Napoleon bedauert haben, daß er sich nicht zum Protektor der Marionetten-Theater habe ausrufc» lassen. Die Marionetten-Theater werden nicht vom Ministerium unterstützt. Sie leben unabhängig von den Regierungen, welche vorübergehen, und von den Nationen, welche schwinden; und deshalb leben sie ewig. vm. Etienne Dolet erbat von Gott wenig, doch er hatte eine tägliche Bitte; Großer Vater, schütze mich vor der Verleumdung und der Ungerechtigkeit der Menschen. Gleichwohl ist er bekanntlich am 3. August des Jahres der Gnade 1846 verbrannt worden. Die Marionetten sind von der Verleumdung und der Ungerechtigkeit der Menschen eben so wenig verschont geblieben, wie Alles, was sich über das Gemeine erhebt, käme cS auch bloß bis zur bescheidenen Thcaterhöhe Poli- chineü's. Man hat die Marionetten streng gerichtet. Der gewichtige Ernst findet sie knabenhaft, die Leute comme >1 taue niedrig und trivial. Im Ganzen ist man darin übercingekommen, sie für ein Vergnügen zu halten, das für das Volk und die Kinder gut genug sep. Gerade dieser Tadel ist das schönste Lob, das man den Marionetten er- theilcn kann, sobald man sie als ein nationales Institut faßt, und gerade als solches fass' ich sie. Ei» Hauptaugenmerk eines wohl organisirtcn Staates ist in der That die Unterhaltung des Volkes und der Kinder; der Kinder, weil sie früh genug das Alter erreichen werden, in dem sie Niemand mehr wird unterhalten wollen, des Volkes, weil eS ewig ein Kind bleibt. Dies letztere Faktum hindert das Volk nicht, daß es, wenn sich eben die Gelegenheit bietet, gern nach der Souverainetät greift; auch die Kinder möchten, wenn man sie gewähren ließe, gern sonverain werden: doch die Souverainetät der Kinder sinkt vor einer Ruthe, die des Volkes vor einem Säbel zu Boden. Es giebt daher nur eine Souverainetät, die der Marionetten. Um auf die Vorwürfe zurückzukommen, welche man den Marionetten ge macht hat, so ist es unrecht, sie knabenhaft und trivial zu finden. Sie haben ihren Ernst, ihre Größe, ihr Feierliches. Die Aeschylische Tragödie, welche nur ein zufälliges Beiwerk der dithyrambischen Gesänge war, wurde in den großen Städten durch maskirte Menschen, auf dem Lande durch Marionetten aufge führt. Die redenden Götterbilder waren Marionetten. Der Gevatter Poli- chinell's verdiente eben so gut, Hohepriester zu sep», wie der Abbe Chatcl. In meiner Jugend, deren ich mich nur mit großer Anstrengung des Ge dächtnisses erinnern kann, habe ich ein Marionetten-Spicl, „Joseph und seine Brüder", gesehen, dessen erster Akt mit den Worten schloß: Wohlauf, c« ist sckon spät, hu meine treue Slhaar! Wir muffe» noch vor Nacht zu Herren Potiphar. Wer kann leugnen, daß diese Verse vollkommen in die Situation paffen, daß sie gar nicht anders gedacht werden können, ein Lob, das ich der Erzäh lung Theramen'S eben nicht ertheilcn kann; daß sie ferner präcis das aus drücken, was sie ausdrücken sollen, ein Ruhm, den man der Erklärung OroS- man's nicht einräumen kann. IX. Das lebhafte Interesse, welches ich für den Fortschritt der Nationen auf dem constitutionellen Wege, den wir mit so vielem Glück betreten haben, fühle, läßt eS mich lebhaft bedauern, daß die Nation gegen die Marionetten so indifferent ist. Die Marionetten sind wesentlich constitutioncll. Die Hauptschwierigkeit einer repräsentativen Verfassung entspringt aus der fast absoluten Unmöglichkeit eines Gleichgewichts zwischen zwei Gewalten, die sich unaufhörlich gegenseitig bedrohen und welche beide vortreffliche Rechte besitzen: die gesetzgebende und die vollstreckende Gewalt. Von der clektoralen Gewalt spreche ich nicht; sie ist nur eine Mythe oder besser eine Mystification. Das bewundernswcrthe Gleichgewicht, welches Ludwig XVIII. fünfund zwanzig lange Jahre der Verbannung und der Muße träumte, ist bisher ein Traum geblieben. Das Geheimniß ist, wie man denken kann, nicht im Besitz der Philosophen, der Staats-Oekonomen oder gar der Fachgelehrten; es ist einzig und allein im Besitz der Marionetten. Von Descartes war es höchst leichtsinnig, wenn er sagte; „Gebt mir Materie und Bewegung, und ich schaffe eine Welt", doch es ist durchaus nicht leichtsinnig, wenn ich sage: „Gebt mir Marionetten und Bindfäden, und ich schaffe eine repräsentative Verfassung." Descartes hatte zu seiner Schöpfung den Geist vergessen; ich brauche ihn zu der meinen nicht. Der Einfluß der Marionetten auf die Politik ist ein Gemeinplatz, bei dem ich mich nicht aufhalten kann. Wir sind zu einer Höhe der logischen und lite rarischen Bildung gelangt, auf welcher die Ideen, welche die Worte Politik und Marionetten Hervorrufen, einen so rohen Pleonasmus enthalten, daß sich Niemand mit ihm befassen darf, der Anspruch darauf macht, gelesen zu werden. Gleichwohl beabsichtigte ich, auf eine bisher noch unerhörte Weise darzu- thun, daß die Marionetten für die Politik von wesentlicher Bedeutung sind, und daß cs ihre Bcstimmung ist, die Freiheit des Gedankens vor der schimpf lichsten Tyrannei zu bewahren, daß in diesen unseligen Tagen, in denen die Nationen einander verzweifelnd zurufen: Was bleibt uns! Polichinell den Muth hat, mit dem erhabenen Worte Medca's zu antworten : Ich dleibe, das genügt! Doch um dies zu beweisen, muß ich eine Geschichte erzählen, und Nichts ist langweiliger als eine Geschichte, wenn sie nicht von Dcsperiers, Brantome, Tallemant des Reaur, de Müsset, Dumas oder Mery geschrieben ist. Gleich wohl muß ich die Geschichte erzählen. Ich habe diesen tiefen Athemzug einmal gethan, um meine Brust von ihr zu befreien: so soll sie denn frei werden. Ein günstiges Geschick hat cs so gefügt, daß kein Staatsgesetz den verehrten Leser zwingt, meine Geschichte mit anzuhören. In Sprache und Literatur sind die Gesetze überhaupt höchst bescheiden und gebieten nichts, als daß man auf dem Markte nicht Griechisch sprechen soll. X. In den Jahren, in denen man seine Studien zu machen pflegt, und in denen ich die meinen, so gut wie jeder Andere, hätte machen können, wenn ich Neigung dazu gehabt hätte, wohnte ich in Besanyon, der alten Spanischen Stadt Victor Hugo's. Besancon war mehr als eine Spanische, es war eine freie und Kaiserliche Stadt und übte Rechte, nach denen cs nur noch unter einem wohlwollenden Protektorat der Spanischen Krone stand. Besanyon war berühmt durch die ritterlichen Großthatcn seines Adels, durch die Weis heit und den Ernst seiner Richter, und durch den Patriotismus und die Gut- müthigkcit seiner Bürger. Da faßte Ludwig XIV. dcn Plan, Besanyon unter seine Flügel zu nehmen. Durch das Schwert unterworfen, oder durch Gold erkauft und durch Vcrrath überliefert, wurde das freie Besancon Französisch. Manche Sachverständige meinten, es habe bei diesem Wechsel gewonnen. Man darf über dcn Geschmack nicht streiten. Die Erwerbung schloß wie alle Erwerbungen. Einige Edle, die zu wider stehen gewagt hatten, hängte man ; einige Schufte belohnte man wegen ihrer Dicnstfertigkeit. Pvliffon schrieb einen schlechten Bericht; Boileau ließ einige entsetzliche Verse aus seiner gewichtigen Feder gleiten, die den Ruhm Cotin's nicht vergrößert hätten. Die Kaiserliche Stadt stellte sich zwar unter den Re genschirm einer Capitulation; allein man weiß, was das Wort Capitulation bedeutet: im Munde der Besiegten eine Reihe von Hoffnungen, die nicht er füllt werden, im Munde der Sieger eine Reihe von Versprechungen, die nicht erfüllt werden; die Nichterfüllung ist allein unwandelbar, sie steht als histo risches Faktum da und könnte eine unumstößliche diplomatische Wahrheit ge nannt werden, wenn es überhaupt Wahrheiten in der Diplomatie gäbe. Das Andenken an die Freiheiten des Landes schlummerte ein. Der Adel sah, daß er sich bedeutend verbessert hatte. Wenn er zu Hose wollte, so er sparte er dreihundert Meilen Weges. Das Volk findet sich leicht in alles Be stehende. Als die Revolution ausbrach, ein härterer Tyrann als Ludwig XlV,, wurden alle Reste der alten Freiheiten im Namen der Freiheit cingezogen, und Besanyon behielt von seiner Jugendblüthe nichts als zwei lebendige Ueber« lieferungen: Jacqucmard und Barbisier. Doch ihr könnt alle Historiker befragen, alle Chroniken durchlcsen, alle Handschriften enträthscln, alle Palimpsesten abkratzen, ihr könnt die tiefsten Sätze von Gilbert, Cousin, Chifflct, Dunod, Boyvin, Beguillet, Morisot, Clerc und Grappin analysiren, und ihr werdet keine Spur von Jacqucmard und Barbisier darin finden. Gleichwohl will ich von Jacqucmard und Barbisier schreiben, ehe ich in meiner Geschichte fortfahre. O großer Weiß, du alter Freund meiner Seele, der Stern meiner Kunst, der du das tiefe Geheimniß besitzest, daS Trockenste durch den Zauber deiner Rede hinreißend zu machen, o leihe mir deine Feder, auf daß ich schreibe von Deine Feder? wehe! in meinem Dintenfaß ist nur noch Dinte genug, um dieses mein Testament zu schreiben: „Ich habe Nichts und vermache Nieman den Etwas, weil ich Nichts habe", und um dem Leser folgende vier Schuld scheine auszustellcn: Ich schulde dem Leser: Erstens die Biographie Jacquemard's, welcher eine Marionette ist. Zweitens die Biographie Barbisier's, welcher eine Marionette ist. Drittens eine historische Anekdote, die aus den Archiven entschlüpft ist, und die unwiderleglich die moralische und nationale Bedeutung der Marionetten darthun wird. Viertens, und dies ist ein Punkt von der äußersten Wichtigkeit für das glückliche Fortbestehen unserer Gesellschaften: Mein letztes Wort über Polichinell.